Die Mannheimer Künstlerin Doris Erbacher
Von Weitem sieht es aus wie ein Kasten mit roter Front und hellen Seiten. Doch in der Annäherung merkt man, dass etwas nicht stimmt. Die Kanten der roten Fläche sind angeschrägt, dadurch tanzen die Tiefe suggerierenden Partien aus der Reihe und ergeben keine schlüssige Räumlichkeit. Auch die kleinen eckigen Aussparungen machen, was sie wollen. Die Arbeit doublebind 1 von 2019 hat es in sich. Sie spielt mit dem spannungsvollen Verhältnis von Fläche und Raum, Ordnung und Abweichung und ist eine Provokation für alle, die aus ihr schlau werden wollen. Tritt man ganz nah heran, erkennt man, dass es sich um eine teils mit monochromer Farbigkeit versehene, plane Holzplatte handelt. Und plötzlich ist man mittendrin in der komplexen Gedankenwelt von Doris Erbacher, die sich mit großer Konsequenz grundlegenden Themen der Kunst widmet.
Das tut die 1953 in Bruchsal geborene Künstlerin in einem geräumigen, gut ausgeleuchteten Atelier in der Mannheimer Oststadt, das als ebenerdige Einheit zu einem ehemaligen Handwerkerhinterhof gehört. In dem weiß getünchten, länglichen Raum, an den ein Depot samt Materiallager angrenzt, hat Erbacher an der längsten Wand einige ihrer meist kleinformatigen Arbeiten in lockerem Arrangement neben- und übereinander gehängt. An dieser Schaufront lässt sie sich immer wieder von neuen Konstellationen, wie der unerwarteten Kommunikation und Wechselwirkung zwischen einzelnen oder mehreren Objekten, überraschen. Tatsächlich bietet die Wand ein so sinnliches wie konzeptuell interessantes Feuerwerk aus unterschiedlichen Farben, Materialien und Ansätzen, welches sich auf den großen Tischen des Ateliers in weiteren Medien fortsetzt. Dass hier Experiment und bewusste Überlegung Hand in Hand gehen und im Œuvre in der oben schon erwähnten Ambivalenz von Ordnung und Chaos einen gewissen Widerhall finden, wird vor Ort nicht nur unmittelbar sichtbar, sondern auch im Ateliergespräch mit der eloquenten Künstlerin deutlich.
Die heute in Heidelberg lebende Künstlerin studierte von 1974 bis 1980 an der Staatlichen Kunstakademie Stuttgart. Sie besuchte die Mal- und Zeichenklasse von Bildhauer Alfred Hrdlicka, mit dessen Kunst sie sich anfangs wegen politischer Inhalte verbunden fühlte. Doch schnell empfand sie die figurativen Ansätze ihres Lehrers als zu klischeebehaftet und löste sich sukzessiv von den gegenständlichen Strömungen an der Kunsthochschule. Sie begann verstärkt zu zeichnen und konzentrierte ihre Darstellung zunehmend auf die Umrisslinie: „Dass die Linie zwei Seiten hat, dieses Relative, dass sie zum Beispiel Figur und Raum trennt oder definiert, diese Doppeldeutigkeit ist ein ganz großes Thema geworden“ erzählt sie. Allerdings konnte sie erst nach dem Studium ihrem Weg in die künstlerische Unabhängigkeit und damit in die Ungegenständlichkeit folgen. Hier würde nun vor allem das durch Linien festgelegte Verhältnis von (abstrakter) Fläche und Raum eine Rolle spielen.
Weil sich Doris Erbacher gerade mit der Konzeption einer großen Einzelausstellung im Port25, dem Raum für Gegenwartskunst in Mannheim, befasst, befinden sich auch ältere Arbeiten an der Schauwand, die etwas von dieser Entwicklungslinie aufzeigen. Zum Beispiel das Objekt Standbein/Spielbein von 1988, in dem auf einer weiß lasierten, stark strukturierten und an einen Torso erinnernden Holzplatte ein schmalerer Rumpf in Rückenansicht durch Linien aus Draht angedeutet wird. Das jedoch in so reduzierter Weise, dass hier allein der Automatismus des menschlichen Gehirns, in welcher Form auch immer angelegte „Artgenossen“ zu erkennen, greift.
Die Abstraktion verweist an diesem Punkt schon auf die zukünftige Absage an die „Darstellung“ als mimetische Instanz. Analog dazu verschwinden zunehmend die hier noch angehauchten Rundungen aus Erbachers Werk. Die Künstlerin beschränkt sich stattdessen auf die Gerade, weil sie im Hinblick auf die Bewegung der Hand zurückgenommener ist, weniger individuelle Setzung enthält. Mit der selbst auferlegten Einschränkung wollte und will sie bis heute erreichen, dass die jeweilige Arbeit in der Rezeption mehr als „Erscheinung“ und weniger als „Gestaltung“ wahrgenommen wird. Die überschaubare Größe der Werke gehört ebenfalls zu diesem Konzept.
Grundsätzlich ist das Œuvre durchzogen von einem konsequent individuellen Minimalismus, der sich auch in der Wahl oft einfachster Materialien äußert. So verwendet Erbacher etwa Sperrholz-, Furnier- oder Tischlerplatten als Ausgangspunkt für einige Werkserien, wie die sogenannten Plates. Diese lässt sie als positive Form aus einer größeren Multiplexplatte heraussägen und versieht sie mit Grafit oder selbst angemischten Acrylfarben. Zum Beispiel in dem oben gezeigten doublebind oder in der Arbeit content. Trotz der Sparsamkeit der Mittel erzielt sie in diesem Objekt eine große Dynamik, indem sie zwei gegenüberliegende Ecken so abschrägt, dass die eine Seite nach vorn, die andere nach hinten zu klappen scheint. Aus den entgegengesetzten Bewegungsrichtungen entwickelt sich eine optische Torsion, eine visuelle Drehung. Und diese versetzt die unmittelbare Umgebung ebenfalls in Aufruhr.
Einen noch engeren Bezug zum Entstehungs- oder Ausstellungsort haben die Stäbe, die ebenfalls zur Familie der Plates gehören und nicht nur in sich, sondern auch untereinander mit der Ambivalenz von Fläche und Raum spielen. Sie tauchen immer in Reihung auf, wobei sie in der Hängung einen Abstand einhalten, der ihrer Länge entspricht. Dadurch wird die Wand als klar definiertes Element in die Komposition mit einbezogen. In dieser „bewegten Fläche aus minimalem Holzvorrat“ wie Erbacher sie lachend nennt, ergeben sich spannende Korrespondenzen und Reibungen, in die die Künstlerin die Ebene der Betrachtung, wie in alle Arbeiten, bewusst integriert.
Regelrecht überrascht wird man angesichts der Serie Movens, in der kleine, unregelmäßig rechteckige Felder vor dunklem Grund tanzen. Denkt man. Denn tatsächlich ist es umgekehrt: Das Schwarz befindet sich nicht hinten, sondern bildet vorn ein zuletzt aufgetragenes Liniennetz.
Häufig hat die illusionistische Beweglichkeit der Formen und Farben in Erbachers Werk etwas sehr Spielerisches, ja fast Witziges. Die intuitive und experimentelle Vorgehensweise der Künstlerin wird darin deutlich spürbar, ebenso ihre Intention, die Person vor der Arbeit im Raum trotz aller Irritation ernst zu nehmen, ihr offene Fragen zu stellen und sie mit einer gewissen Transparenz in Bezug auf den meist ablesbaren Entstehungsprozess zu versorgen.
Dass sich Doris Erbacher nicht mit der Konkreten Kunst identifiziert, lässt sich daher gut nachvollziehen. „Durch meine Arbeit geht etwas Widerständiges gegenüber Produkten im Sinne von etwas in sich Abgeschlossenem“, erläutert sie. Nicht die Statik eines Werks, sondern das Fragile und Vergängliche interessiert die Künstlerin, die von 1992 bis 2009, also in den Um- und Aufbruchszeiten nach der Wende, in Berlin lebte. Heute nutzt sie für ihre prozesshaft angelegten Objekte auch farbiges Papier, das seine Struktur allmählich verändern, ja im weitesten Sinne „verderblich“ sein kann.
Daraus schafft sie die sogenannten Frames, zarte, mehrfarbige Rahmen oder Gitter, die oft hintereinander gestaffelt an der Wand hängen. Und zwar lose, auf Nägeln balancierend. Kleinen, erneut unregelmäßig ausgeschnittenen Rechtecken und Quadraten in dem jeweils übergeordneten Geviert verleiht sie eine Art zarten Eigensinns: Scheinbar mühelos finden sie ihren Platz, geraten dort aber gern mal mit benachbarten Elementen in Konflikt. Das Ganze wirkt sehr bewegt und macht den Eindruck, als könne sich das Gefüge jederzeit verändern.
Räumlichkeit wird hier auf gleich dreifache Weise evoziert. Und zwar durch die Auslassungen im Rahmen, durch die Schichtung vor der Wand und durch den Einsatz der Farben, die je nach Ton und Helligkeit optisch vor- oder zurücktreten.
Das in der Tradition der Malerei verankerte Wissen um die Wirkung und Materialität von Farbe ist für Erbacher durchgängig von Bedeutung. Auch in ihrem großen Konvolut der Zeichnungen, die einen eigenständigen Werkblock ausmachen.
Denn – wie die Künstlerin betont – es ergeben einzelne Materialien jeweils „eine andere Ausprägung“ ihrer „Denkungsart“. So führt im Falle der aquarellartigen Zeichnungen die Kombination von Pigmenten und Wasser tatsächlich zu Farbereignissen, die von stärkeren Verläufen und feineren Übergängen geprägt sind. Die mit Buntstiften aufgetragenen Linien und Punkte werden oft durch eine Wasserspur verbunden, in der sich die Töne der jeweiligen Startsituation des Pinsels vereinen. Ein erhöhter Gestaltungsanteil kommt dabei dem Zufall zu. Außerdem fließt die Zeit der Herstellung sichtbar aus diesen Blättern.
Eine linear-meditative Anmutung besitzen schließlich auch die Oberflächen von Erbachers Keramiken, die mit ihrem mehr oder weniger flachen, oft uneben gestalteten Korpus physisch sehr präsent sind. Hier kombiniert die erfolgreiche Künstlerin Organisches mit Geometrischem und spielt häufig mit den Möglichkeiten des Rasters, das sie mal appliziert und mal regelrecht im Ton verknetet. Besonders lebendig wird es aber dort, wo sie sich ganz von klar erkennbaren Strukturen verabschiedet.
Doris Erbacher ist mittlerweile nicht nur im süddeutschen Raum, sondern auch in England, Frankreich und Österreich mit Einzel- und Gruppenausstellungen vertreten. Nicht zuletzt lässt sie in ihren „Wahrnehmungsobjekten“, in den Zwischenräumen von Korpus und Bild, Statik und Bewegung sowie Flüchtigkeit und Dauer, in den Spalten zwischen Gesetz und Anarchie, Ernst und Gewitztheit, Verführung und Konfrontation etwas Wesentliches entstehen. Einen Zweifel an Gewissheit, der in der Rezeption emotional spürbar wird.