Feine Linie zur Figur im Raum
Das zentrale Element in den Werken von Zipora Rafaelov ist die Linie, die sie auf vielfältige Art und Weise zu figürlichen Darstellungen verbindet, welche aus einer intrinsischen Komponente entspringen und mit ihrer Biografie verwoben sind. Die Künstlerin kreiert oft monumentale Installationen, welche auf vorhandene Raumstrukturen reagieren. Licht und Schatten spielen eine prominente Rolle in ihren Arbeiten und erlauben es, den Raum jenseits der objektiven Form zu besetzen und zu gestalten.
Zipora Rafaelov kreiert für ihre Installationen monumentale Liniengeflechte. Fäden verbinden im parallelen Verlauf Strukturen im Raum. Innerhalb der Linien verknüpft die Künstlerin kleine Figuren und Symbole, welche den Anschein erwecken, im Raum zu schweben. Je nach Perspektive der Betrachtenden entstehen in der Installation unterschiedliche Kombinationen. So ergeben sich neue Dialoge der Motive in Bezug zum räumlichen Verhältnis. Rafaelov gliedert bewusst mit den Fäden den Raum. Im Israel Museum schuf sie 2016 die Arbeit Zerima, indem sie die Fäden mit zwei gegenüberliegenden Säulen verknüpfte. Deutlich ist hier die Auseinandersetzung mit architektonischen Gegebenheiten und der jeweiligen Lichtsituation zu erkennen. Die Arbeit konstruiert eine diagonale Struktur im Museumsraum, indem die Fäden den oberen Teil der Säule verknüpfen und mit dem unteren Bereich des gegenüberliegenden Pfeilers verbinden. Innerhalb des Geflechts von Fäden erscheinen die kleinen Figuren, die als plastischer Schatten aus weiß bemaltem Holz gefasst sind. Sie zeigen Blätter, Sterne und Tiere, wie z.B. eine Schlange, eine Giraffe und einen Wolf. Diese Zusammenstellung erinnert an Sternenbilder mit ihrer individuellen Deutung und Verwurzelung in den verschiedenen Kulturen der Welt. Die vielen feinen Linien im Raum erscheinen geheimnisvoll und ergeben in ihrer Verdichtung eine Dynamik. Die zeitliche Dimension nimmt in den Werken von Zipora Rafaelov eine signifikante Bedeutung ein. Kleine Figuren und Symbole stehen still innerhalb des Geflechts von Linien und visualisieren einen Moment des Fliegens der Objekte. Die Verknüpfung von zwei Säulen im Raum mit den weißen Fäden wirkt wie ein skulpturaler Lichtstrahl mit fliegenden Figuren.
Zipora Rafealov baut Beziehungen auf in Räumen und erzählt mit ihren kleinen Figuren eine Geschichte, die jeder unterschiedlich lesen kann. Sie lädt den Betrachtenden ein, sich auf ihre Kunst einzulassen. Sie imponiert durch das ästhetische Spiel von Licht, Fragilität und der monumentalen Reaktion auf den Raum. Gleichzeitig ist die Lesbarkeit der kleinen Figuren eingeschränkt.
2022 entwickelte die Künstlerin für den Schafhof in Freising die Arbeit Wolf und Lamm. In dieser Arbeit greift Zipora Rafaelov erneut auf das Medium des Fadens zurück. In dem Werk sind alle figurativen Ebenen aus Fäden verwoben. Der Raum mit dem besonderen Bohlenlamellendach aus Holzbalken bildet in der Decken- und Wandform ein Oval. Entgegengesetzt dazu positioniert die Künstlerin sieben Strukturen, die mittig im Raum aus dem Boden wachsen und sich fächerartig versetzt entfalten. Zu den Wandseiten ergibt sich das Gesamtbild der Konstruktion. Inhaltlich bezieht sich die Künstlerin auf Jesaja 11-6, der eine Welt beschreibt, in der Wolf und Lamm friedlich zusammenleben. Die Künstlerin visualisiert die Erzählung mit der Botschaft nach Frieden in der Welt in besonderer Manier. Der Wolf ist im unteren Bereich der ersten Fadenstruktur dargestellt. Das Tier blickt nach oben zum liegenden Schaf, das mit vielen unterschiedlichen Tieren und Pflanzen geknüpft ist. In den folgenden sechs Fragmenten der Geschichte sind die Figuren harmonisch verbunden. Neben den Tieren greift die Künstlerin florale Formen auf, die ineinander verwachsen sind. Die dargestellten Figuren erinnern an romanische Tierornamente, die häufig an den Säulenkapitellen und Türbögen vorzufinden sind. Auch dort verwachsen Pflanzen mit Tieren innerhalb einer Ornamentstruktur. In diesem Werk ist es der weiße Faden, der alles miteinander verbindet. Das Licht erzeugt auf der dahinter liegenden Wand im Raum ein lebendiges Schattenspiel. Die weißen Fäden ergeben ein Kontrast zu den schwarzen Schatten.
Papierarbeiten
Die Papierarbeiten von Zipora Rafaelov entstehen häufig innerhalb einer Serie. Die Künstlerin trägt die Bildkomposition auf das Papier auf und schneidet es anschließend aus. Das Liniengeflecht innerhalb des Dargestellten ist sehr komplex. Die Pflanzen und Figuren verschmelzen zu einem lebendigen Konstrukt, das nicht immer direkt lesbar ist. Die vielen Linien mit ihren unterschiedlichen Stärken durchziehen die Gesamtfläche. Dadurch entstehen Bewegung und Rhythmus im Bild. Zugleich erscheint diese Kombination rätselhaft. Ein liniertes Konstrukt, das teilweise Figuren erscheinen lässt (siehe Werk Sahra). Auch in diesen Arbeiten ist die Lichtquelle auf dem Werk elementar. Der Schatten hinter dem Papier kreiert eine zusätzliche Plastizität zur zweidimensionalen Fläche.
Die Künstlerin entwickelt in diesen Scherenschnitten häufig Bildserien. Sie zeigen bildhaft die menschlichen Sinne und eine Reihe von 13 Frauendarstellungen mit dem Titel Relaxing Woman. Faszinierend ist hier die Art und Weise, wie die Künstlerin den Figuren Räumlichkeit vermittelt. Innerhalb der feinen Papierstrukturen sind durch schwarze Linien ein Stuhl und der Raum angedeutet. Der Künstlerin gelingt es, mit minimaler Andeutung eine Bühne für die Akteurinnen zu kreieren. Die Frauen sind in unterschiedlichen Posen dargestellt. Die Relaxing Woman lehnen beispielsweise Hausarbeit ab und entspannen stattdessen auf Staubsaugern und Kühlschränken. In diesem Kontext bedeutet Selbstbestimmung für die Künstlerin, dass Frauen selbstbewusst zu ihrer Weiblichkeit stehen dürfen. Daher greift sie oft auf sinnliche Darstellungen von Frauen zurück, die in Pflanzen und üppigen Gärten eingebettet sind. In dieser Serie akzentuiert Rafaelov einzelne Elemente der Figur mit Farbe. Das Kolorit erleichtert die narrative Lesart durch die Kontraste der jeweiligen Gegenstandsfarbe.
Die Künstlerin verwendet das Papier nicht nur als Fläche für die Zeichnung, sondern als Material der Form. Die Arbeit Magic Forest Peacock von 2020 verdeutlicht besonders die plastische Transformation von Papier. Das zentrale Motiv des Pfaus ist umrahmt von Pflanzen und ornamentalen Linien. Der Vogel ist im Profil dargestellt und bewegt sich zur linken Seite. Speziell sind hier die plastischen Ausführungen der Federn. Das Papier formt die runden Federn und ist leicht nach oben geknickt. Diese plastische Ausformulierung betont die unterschiedlichen Federstrukturen des Pfaus. Diese Technik wiederholt die Künstlerin innerhalb der Darstellung der Erdbeeren. Dort sind die Blätter oberhalb der Früchte plastisch akzentuiert. Diese Arbeit besticht durch die vielen unterschiedlichen Formen. Die Künstlerin überlagert wiederholende quadratische Strukturen mit kreisförmigen und netzartigen Mustern. Sie repräsentieren zum einen Raum und zum anderen lösen sie das Bildgefüge innerhalb der Linie und des Ornaments auf.
Plastische Figuren
Seit 2017 verknüpft Zipora Rafaelov feine Linien mit dem 3D–Stift mit Barbie-Puppen. Diese färbt die Künstlerin schwarz oder weiß und bearbeitet die Oberfläche mit dem plastischen Stift. Die Figuren erhalten einen eigenen künstlerischen Charakter, der nicht direkt an ihre ursprüngliche Funktion erinnert. Die Plastiken erhalten eine Plattform, in der sie singulär oder mit anderen Objekten interagieren. Die schwarze Arbeit Day Dream #25 visualisiert die männliche Puppe Ken, die mit feinen Linien appliziert ist. Der untere Beinbereich ist durch die Linien zu einer kegelartigen Struktur zusammengewachsen. Ein feines Geflecht auf dem Körper deutet ein Netzhemd an und die Figur bekrönt ein spielerischer linearer Hut. Die kleine Statue steht auf einem runden Podest und agiert mit einem Gerät, das an alte Webstühle erinnert.
Die weiße Plastik White Dream #55 zeigt eine weibliche Figur mit einem schmuckvollen Kleid und einer Kopfbedeckung. Feine Linien überziehen das Gesicht, wodurch ein fremdartiger, fast gefangener Charakter entsteht. Ihre beiden Hände sind mit langen Fäden mit dem Kleid verknüpft. Im Kontrast dazu steht vor der Figur ein Nilpferd mit einem breit geöffneten Maul. Die Verknüpfung der Figur mit ihren vielen Linien und dem Tier erscheint bedrohlich und surreal. Die Titel dieser Serie unterstreichen das Träumerische, wie Erinnerungen an vergangene Alpträume.
Zipora Rafaelov verwendet die Linie in unterschiedlichen Medien, um Figuren zu erzeugen. Oft entstehen die Charaktere in Gruppen, mit unterschiedlichen Techniken, wie Papierscherenschnitt, großen Installationen und plastischen feinen Linien aus dem 3D-Stift. Die Arbeiten von Zipora Rafaelov sind hauptsächlich in Schwarz und Weiß gefasst. Diese Farbwahl betont den Fokus auf die jeweilige Form. Zugleich ermöglicht es das Werk durch den farblosen Schatten zu ergänzen. Der bewusste Verzicht auf bunte Farben erschwert es, die Gegenstände zu erkennen. Zentral ist in allen Arbeiten der Raum mit dem jeweiligen Verhältnis der Arbeiten zum Licht. Die Linie spannt sich plastisch durch den Raum und erzeugt ästhetische, geheimnisvolle Bildwelten, die mit ihrer eigenen Biografie verknüpft sind.
Aktuelle Ausstellungen
Bis 21. April 2024: Zipora Rafaelov. Geheimnisvolle Schatten
Städtische Galerie Aalen, Galerie im Rathaus Aalen, Marktplatz 30, 73430 Aalen