Die Kunst von Anna Ingerfurth
Sie sammelt Bücher und Karten, aber auch unsichtbare Verbindungslinien zwischen Orten. Sie sammelt Eindrücke, Ansichten und Worte und schöpft aus einem riesigen Fundus von Ideen. Dabei sind es oft beiläufige, für viele kaum wahrnehmbare Dinge, die die Malerin Anna Ingerfurth faszinieren. Wie das Design einer Tapete, ein geöffneter Gulli oder der Verlauf einer Busstrecke.
Man ahnt es schon: Alles andere als alltäglich ist die Bildwelt, die die 1969 in Stuttgart geborene Künstlerin daraus schafft. Ihre meist kleinformatigen Gemälde und Zeichnungen durchzieht sie mit farbigen Streifen oder geometrischen Rastern, psychedelischen Kreisen oder roten Fäden. In diese Umgebung aus Mustern und Formen integriert sie erstaunlich stoische, neutral wirkende Figuren, die zwischen Linien oder Feldern agieren, über Hauswände laufen oder in Schächten verharren und sich durchgängig in räumlichen Ausnahmesituationen befinden.
Beim Gespräch in ihrem hohen, hellen Atelier in den Stuttgarter Wagenhallen erzählt die Malerin, wie sehr ihr schon während des Studiums an der Akademie der Bildenden Künste vor Ort das kleinformatige, figürliche Arbeiten zusagte. Tatsächlich entwickle sie bis heute alles aus der farbigen Zeichnung heraus, so Ingerfurth.
In diesem Zusammenhang sind auch ihre sogenannten Tagebuch- und Wochenzeichnungen von großer Bedeutung: Um ihrer künstlerischen Tätigkeit nach dem Abschluss des Studiums Ende der 1990er-Jahre eine Struktur zu verleihen, fertigte die Absolventin täglich eine Zeichnung oder Collage in DIN A5-Größe an, in der sie Erlebnisse und visuelle Impulse vom Vortag zu Papier brachte. 2016 ging sie zu einem wöchentlichen Rhythmus über und nahm, jetzt im DIN A4-Format, auf die jeweiligen Ereignisse der vorangegangenen Woche Bezug.
Mittlerweile ist aus diesem Prozess – die Ergebnisse werden von der Malerin zeitnah auf Instagram geteilt – ein umfangreiches Werk entstanden, das häufig ausgestellt wird und der Künstlerin in Kombination mit den Gemälden weit über Stuttgart hinaus Renommee verschafft hat. Dabei liegen zwischen der Aneignung und der Umsetzung von Eindrücken jeweils viele Assoziationsketten, wodurch die darstellerische Linie wenig von der biografischen preisgibt und einem übergeordneten, oft grafisch geprägtem System zu folgen scheint.
Eine wichtige Inspirationsquelle für die Mutter zweier Kinder ist ihr Faible für Stoffe und Textilien. Aus realen Schnittmustern als Bildträgern, eigenem Lineament und einem Buch entnommenen Mannequin-Cut-Outs verwebt sie die Gedanken an gemeinsame Nähstunden mit der Tochter zu Kompositionen, in denen konkrete Zuschreibungen und surreale Momente raffiniert verknüpft sind.
Bei der Verarbeitung von Ereignissen und Beobachtungen spielt auch die eigene Bewegung durch den Raum, den Wohnort oder durch Landschaften und Städte auf Reisen und damit eine sehr intensive Wahrnehmung der Umgebung eine Rolle. Da gibt es zum Beispiel die ständig wechselnden Straßenmarkierungen in der „Baustellenstadt Stuttgart“, die Ingerfurth als Rad- oder Autofahrerin ebenso beeindrucken wie zur Verzweiflung treiben und gelegentlich als chaotisches Strichmuster in ihren Arbeiten auftauchen. Anders als die Straßenbahn- und Busrouten, die sich mit spezifischen Erlebnissen verbinden und entweder direkt als Plan und damit als Malgrund oder in nachempfundener Form ein mehrfarbiges Spurennetz bilden. Bei Städtereisen vollzieht die Künstlerin, die von der Galerie Imke Valentien vertreten wird, gern die eigenen, verborgenen Linien ihrer Wege nach, die sie dann in der gestalterischen Dimension mit Erinnerungs-Markierungen versieht.
In die Gemälde von Anna Ingerfurth, die von 2019 bis 2021 einen Lehrauftrag und eine Professurvertretung an der Akademie der Bildendenden Künste Stuttgart übernahm, fließen viele dieser Ansätze mit ein. Allerdings entwickelt sie ihre Acrylarbeiten auf abgerundeten MDF-Platten über einen wesentlich längeren Zeitraum, über Monate oder sogar Jahre hinweg, und realisiert die endgültige Bildidee auf der Grundlage mehrerer darunterliegender, komplett ausformulierter und dann zum Teil wieder abgeschliffener Schichten. Da aber jede Darstellung wichtig, auch die überdeckte relevant ist, wirkt das malerische Werk konzentriert und stringent, verstärkt durch das kleine Format, das in der Betrachtung ein nahes Herantreten, eine enge Zwiesprache einfordert. Diesen Dialog befeuern die bemerkenswerten Titel, die als nüchterne Kommentare oder Anleitungen eine weitere rätselhafte Ebene aufmachen, die aber auch überraschend viel mit dem Findungsprozess, der Entstehung der Gemälde zu tun haben.
Es ist eine Welt von charakteristischer Farbigkeit, mit Flächen aus gebrochenen Weiß-, Beige- oder sehr dunklen Grautönen für Vorder- und Hintergrund sowie Pastell- und Erdnuancen, die – wenn sie die Formen von Streifen oder Kreisen annehmen – entfernt an Geschmacksideale der 1970er-Jahre erinnern. Ein Kosmos aus geknickten, gefalteten oder schwebenden Räumen, in denen die Figuren den sie umgebenden Mustern und Architekturen wie Lebenswirklichkeiten begegnen, selbst wenn sie sich teilweise darin auflösen.
Besonders interessant wird die surreale Setzung bei Öffnungen, Schächten sowie realen kleinen Bohrungen, die auf und in der Bildoberfläche auftauchen. Verschlüsselt kommt hier wieder Stuttgart ins Spiel, mit seiner grundsätzlich vorhandenen, unterirdischen Infrastruktur, aber auch mit seiner durch jahrzehntelange Fehlplanung und Stuttgart21 herbeigeführten, durchlöcherten Textur.
Anders zeigt sich dieser Aspekt in Ingerfurths Werkreihe der Collagen, in denen sie mithilfe von Fotos aus den 70ern triste Tunneleinfahrten und Unterführungen in farbenfrohe Schwimmbassins verwandelt und damit visuell die gnadenlos perforierte Betonlandschaft ihrer Heimatstadt mit Thermalwasser „flutet“. Spätestens hier wird deutlich, wie subtil und leicht sich diverse Themenstränge durch ihre Arbeiten ziehen, die wesentliche, innere Zusammenhänge unserer oft oberflächlich betrachteten Realität aufdecken.
Dazu passt auch der rote Faden, den die Malerin in ihrem jüngsten Kunst-am-Bau-Projekt in Rüsselsheim Ende 2021 für die renovierte Wand eines aufgestockten Mehrfamilienhauses entwarf. Gehalten wird er von sechs in Renaissance-Ärmeln steckenden Händen – eine Anlehnung an Lucas Cranach (d. Ä.), den Namensgeber der dortigen Straße – und kann, wie alle Werke Ingerfurths, mit eigenen Gedanken weitergesponnen werden.