Er ist ein Enzyklopädist mit dem Zeichenstift. Am liebsten würde Marcel van Eeden die ganze Welt abbilden – freilich nicht deren Gegenwart, sondern die Zeit vor seiner Geburt. Ausstellungen in Leverkusen und Winterthur würdigen den Künstler, der die Präsenz der Vergangenheit beschwört.
Sein künstlerisches Erweckungserlebnis widerfuhr Marcel van Eeden im Umfeld der Literatur. Als Student an der Königlichen Akademie der Bildenden Künste in Den Haag (1989–1993) zog ihn die Lyrik des niederländischen Dichters Gerrit Achterberg in den Bann. Beispielsweise dessen Gedicht „Molekül“ – es handelt von einer verstorbenen Frau, die in Molekülen über die Welt verteilt ist. „Er wollte die tote Materie zum Leben erwecken“, erklärt Marcel van Eeden im Gespräch. „Das hat mich fasziniert.“
Inspiriert von Achterbergs Lyrik, traf van Eeden eine Entscheidung, die sein Markenzeichen geworden ist: Alle seine Werke versetzen den Betrachter in eine vergangene Welt, die der zeichnende Romancier wieder zum Leben erweckt. Dabei gilt ein ungeschriebenes Gesetz, das diese Vergangenheit zeitlich exakt eingrenzt: Sämtliche Quellen, die der Niederländer im Verlauf seiner künstlerischen Forschung zu Rate zieht, datieren vor seiner Geburt im Jahr 1965.
Die Geschichtswissenschaft und die Archäologie verwenden den Begriff „terminus ante quem“. Gemeint ist damit eine obere zeitliche Grenze für die Datierung von historischen Ereignissen oder Artefakten. Doch welchen Sinn ergibt ein solcher „terminus ante quem“ beim schöpferischen Prozess? „Grenzen machen kreativ“, so Marcel van Eeden. „Wenn man die Grenze hat, kann man immer damit spielen – man kann sie erweitern oder umgehen.“
Dauereinsatz als Grenzgänger
Als Grenzgänger im Reich der bildnerischen Fantasie ist der Zeichner, Maler und Fotograf seit rund drei Jahrzehnten im Dauereinsatz. Mit unbeirrbarer Disziplin fertigte er rund 15 Jahre lang jeden Tag eine Zeichnung an, die er sofort ins Internet stellte. Inzwischen hat er sich vom täglichen Rhythmus verabschiedet, beeindruckt aber gleichwohl durch ungemeine Produktivität.
Ähnlich dynamisch seine Biografie: Bis 2006 lebte Marcel van Eeden in seiner Geburtsstadt Den Haag, zog dann nach Berlin, kehrte 2008 zurück und erhielt 2014 einen Ruf als Professor für Malerei an die Staatliche Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe, deren Rektor er seit 2021 ist. Außerdem hat er ein Spielbein in Zürich – weil seine Frau, eine Schweizerin, den Zürichsee so liebt, wie er sagt.
Dass seine Strategie der Zeitreise mehr Gemeinsamkeiten mit der Literatur als mit der bildenden Kunst aufweist, kommt nicht von ungefähr: „Bevor ich Künstler geworden bin, wollte ich Schriftsteller werden“, sagt van Eeden. „Aber mein Talent hat nicht ausgereicht.“ Ähnlich wie Marcel Proust mit seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“ die komplexe Natur der menschlichen Erinnerung und Zeiterfahrung zu ergründen suchte, begibt sich Marcel van Eeden auf eine Recherche, die das Vergangene so heranzoomt, als sei es erst vor einem Augenblick passiert.
Flankiert werden die großformatigen Bildgeschichten häufig von kurzen Textfragmenten, ähnlich den Sprechblasen der Comics. Nicht zuletzt entfalten sich auf dieser zeichnerischen Bühne Biografien, in denen Fiktives und Faktisches verschmelzen – Oswald Sollmann, K.M. Wiegand oder Matheus Boryna heißen die Figuren, deren Lebensgeschichte der Künstler plausibel erfindet.
Unterwegs in Zürich
Ein ganzer Kosmos an Zitaten, Bezügen und Anspielungen tut sich da auf. Hervorragend beobachten lässt sich das in van Eedens Ausstellung „Art Today – Zeichnungen und Animationen“, die bis Anfang Oktober im Museum Morsbroich in Leverkusen zu sehen ist. Die meisten der Exponate stammen aus dem Besitz des Kölner Sammlers, Verlegers und Künstlers Gerhard Theewen.
Das Zürich der Nachkriegszeit steht im Mittelpunkt von mehr als 20 Blättern (Technik: Buntstift oder Nerostift auf Bütten), die Stadtansichten, einzelne Gebäude oder Denkmäler im öffentlichen Raum zeigen. Trotz etlicher verfremdender Bildelemente eine Art Sightseeing-Tour: Mit der Tram schickt uns der Künstler nach Bellevue oder zur Station Triemli auf dem Uetliberg. Im Boot geht es über den Zürichsee, per Polybähnli steil hinauf auf den Zürichberg. Obwohl diese Zeichnungen, deren ausgeprägte Hell-Dunkel-Kontraste an den Film noir der 1950er-Jahre erinnern, durchgängig Nostalgie atmen, verweisen längst nicht alle Szenen so eindeutig auf alte Fotos wie die Dampflok, die den Hauptbahnhof verlässt.
Wer angesichts der vielen idyllischen Postkarten-Motive von anno dazumal glaubt, Marcel van Eeden wolle die Vergangenheit verklären, tut dem zeichnenden Chronisten Unrecht: „Wegen der alten Fotos sind nostalgische Gefühle unvermeidlich“, räumt der Künstler ein. „Einerseits stört es mich, andererseits finde ich es lustig, weil Nostalgie in der Kunst eine verbotene Emotion ist.“ Mit Eskapismus oder Flucht aus der Gegenwart jedenfalls hat er nichts am Hut: „Unsere Zeit mit so viel Freiheit und so viel Informationen ist eigentlich die beste Zeit, um zu leben.“
Auf den Spuren von Eduard von der Heydt
Zuletzt hat Marcel van Eeden den Radius seiner historischen Sondierungen auf den Nationalsozialismus ausgedehnt. The Collection / Zurich 1958, ebenfalls in Leverkusen zu sehen, ist dafür ein charakteristisches Beispiel: Im Stil einer Graphic Novel heftet sich die Serie auf die Spuren von Eduard von der Heydt. Der deutsch-schweizerische Bankier und Sammler, vor 1945 in dubiose Finanzgeschäfte der Nationalsozialisten verwickelt, gab seine Kollektion außereuropäischer Kunst 1946 an die Stadt Zürich. Diese Sammlung, die sich durch verstärkte Provenienzforschung als Schenkung mit Januskopf erwiesen hat, bildet den Fundus des 1952 eröffneten Museums auf dem Rietberg.
Im letzten Blatt seiner Serie rückt der Künstler das Baur au Lac ins Blickfeld. So pittoresk wirkt das Luxushotel, gerühmt für seine exklusive Lage mit Blick auf den Zürichsee und die Alpen, als entstamme es geradewegs einem Tourismusprospekt. Die Illusion verfliegt, sobald man erfährt, dass Eduard von der Heydt im Baur au Lac 1946 von der Schweizer Bundespolizei verhaftet und in Untersuchungshaft genommen wurde.
Intuitive Kategorien
Die Zürich-Veduten konfrontieren den Betrachter zudem mit einem eigenwilligen Kategoriensystem, das Marcel van Eeden ersonnen hat, um die Stoff-Fülle zu bändigen. Obwohl alle Rubriken seines Zettelkastens quasi wissenschaftlich mit „Cat“ (für „Category“) beginnen, orientiert sich das Ordnungssystem ausschließlich an den persönlichen Neigungen des Künstlers: Von „Trains“ (1), „Food“ (2) und „Art“ (3) spannt sich ein Bogen über „Dreams“ (5) oder „Explosions“ (9) bis zu den „Towns“ (17). Mit „Cat 17.1.“ nimmt Zürich den ersten – und bislang einzigen – Platz im Städteranking des Künstlers ein. „Meine Kategorien“, sagt Marcel van Eeden, „erwecken zwar den Eindruck von Systematik, aber das täuscht.“
Demnächst ist der Künstler mit einer weiteren Soloshow zu Gast in der Villa Flora in Winterthur, nordöstlich von Zürich gelegen. Womöglich ein Anlass, um dem Werkverzeichnis „Cat 17.2.“ hinzuzufügen. Jedenfalls kreist die Serie The Villa, an der van Eeden rund ein halbes Jahr gearbeitet hat, um den Ausstellungsort, der heute zum Kunst Museum Winterthur gehört. Und um die einstigen Bewohner: Im späten 19. Jahrhundert zog das Sammlerehepaar Hedy und Arthur Hahnloser in das Haus ein. Sie engagierten sich für die Schweizer Moderne, später auch für die französische Avantgarde.
Doch weitet van Eedens Villa-Zyklus den Horizont über die beiden Sammler hinaus: Rainer Maria Rilke, der bei einer Vortragsreise zu Gast war, spielt ebenso eine Rolle wie Einstein und das CERN in Genf – dort werden die fundamentalen Bestandteile der Materie erforscht. Eine mentale Tiefenbohrung ist typisch für den Künstler, der gern vom Hundertsten ins Tausendste gerät, ohne den roten Faden zu verlieren.
Hans Thoma und der Antisemitismus
Nicht anders verhielt es sich im vergangenen Jahr, als Marcel van Eeden den mit 25 000 Euro dotierten Hans-Thoma-Preis 2023 des Landes Baden-Württemberg erhielt. Seine damit verknüpfte Ausstellung im Hans-Thoma-Kunstmuseum in Bernau war das Gegenteil einer unkritischen Beweihräucherung des Schwarzwald-Meisters: Den einen Fixpunkt der Schau markierte die Reise des Malers nach Amsterdam, wo 1898 eine bahnbrechende Rembrandt-Ausstellung präsentiert wurde. Den anderen Thomas Briefwechsel mit dem nationalistischen und zunehmend antisemitischen Kulturkritiker Julius Langbehn. Dessen deutschtümelndes Buch „Rembrandt als Erzieher“ erlebte am Ende des 19. Jahrhunderts knapp 40 Auflagen. Mit dem „Niederdeutschtum“, das Rembrandt angeblich in Reinkultur verkörperte, sympathisierte auch Hans Thoma, der freilich alles andere als ein Homo Politicus war.
Auch zur Themenschau „Hans Thoma – Zwischen Poesie und Wirklichkeit“, die das Augustinermuseum Freiburg von Dezember an zeigt, wird Marcel van Eeden einen Beitrag beisteuern. Obwohl er mit der Bernauer Ausstellung „1898“ den Finger in die Wunde der dubiosen, zuvor kaum beachteten Wahlverwandtschaft mit Langbehn gelegt hat, betont er: „Meine Absicht war nicht, Thoma an den Pranger zu stellen.“ Doch verfügt er über eine feine Antenne für den Antisemitismus, der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert auch in kultivierten Kreisen gang und gäbe war. Ressentiments, die den Weg bereiteten für den Judenhass der Nationalsozialisten und den Holocaust. Weil Marcel van Eedens Großvater von den Nazis zur Zwangsarbeit gepresst wurde, besitzt die Auseinandersetzung mit dieser dunkelsten Periode der deutschen Geschichte für ihn eine ganz persönliche Dimension.
Website des Künstlers
Aktuelle Ausstellungen
„Marcel van Eeden. Art Today – Zeichnungen und Animationen“, Museum Morsbroich, Leverkusen, bis 6. Oktober 2024
www.museum-morsbroich.de/ausstellungen/ausstellungen/marcel-van-eeden
„Marcel van Eeden. The Villa”, Villa Flora – Kunst Museum Winterthur, 21. September 2024 bis 5. Januar 2025