Sie haben Zacken, Zinnen oder Flügel, sind mal wehrhaft, mal organisch und in jedem Fall höchst eigensinnig: Die Keramiken von Cholud Kassem. Sie erinnern entfernt an Vasen und präsentieren sich in zwei- oder dreifarbigen Glasuren. Etwa in tiefem Rot, hellem Blau, Türkis oder Orange.
Gemeinsam bilden sie ein äußerst lebhaftes, von interessanten Bezügen geprägtes Ensemble. Dabei gleicht keine Arbeit der anderen, jede setzt sich individuell zusammen und ist als Gefäß von diffuser Funktionalität. Man kann sich kaum vorstellen, dass eine jemals als „Behältnis“ dient. Doch da sollte man sich nicht täuschen.
Mit ihren ersten plastischen Werken betritt die 1956 in Bagdad geborene Künstlerin gerade Neuland. Und findet in der konsequenten räumlichen Erweiterung ihrer Malerei zu einer nicht nur auf die Dreidimensionalität zurückzuführenden ganzheitlichen Verkörperung ihres Ausdrucks.
Wie alle schöpferischen Äußerungen von Kassem sind auch die Keramiken von einer faszinierenden Dichotomie aus Vertrautem und Unbekanntem durchzogen. Ihre scheinbar assoziative Sprache ruft Gedanken hervor, die die Erwartung an das Erkennen nicht erfüllen können. Und manchmal verhält sich diese phänomenologische, die Betrachter in ihre Rezeptions-Schranken verweisende Abwehrhaltung überraschend kongruent zu einer gewissen Trutzhaftigkeit des Dargestellten.
Das ist auch bei den sogenannten Schutzlingen der Fall, der ersten öffentlich präsentierten Bilder-Serie der Heidelbergerin aus der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. In fast schon überwältigender Schlichtheit kommen darin aus weißem Grund symbolhafte, oft monochrom gehaltene Formen hervor: Sehr frei angelegte Segmente von Kreisen, spitzen Ovalen, Dreiecken, die sich mit schwarzen, manchmal scharf zulaufenden Linien zu einem Gefüge verbinden, das weder abstrakt, konkret, noch abbildend ist. Zwar glaubt man hier einen Schutzschild, dort einen Wappenumriss wahrzunehmen. Doch dann sind diese mit Spießen oder Zacken versehen, was thematisch passt, aber die jeweiligen Teile zu einer ungewöhnlichen, ins Figurative gehenden, rätselhaften Erscheinung verklammert. Einer Erscheinung, die fast schon ins Auratische tendiert.
Weil sich die künstlerische Sprache Kassems so auf das Wesentliche konzentriert, vermutet man kaum biografische Züge dahinter. Und doch sind es vor allem persönliche Erfahrungen, die die Malerin zu ihrem unverwechselbaren Stil führen. „Meine Arbeiten entstehen prozesshaft, ohne vorgefertigtes Bild. Sie ergeben sich aus einem Erleben, einer Erinnerung heraus“, so die Künstlerin. Dabei bewegt sie sich schon seit ihrer Kindheit in einem großen kulturellen Spannungsfeld.
Cholud Kassem wird 1956 in Bagdad geboren und kommt als Kleinkind mit ihren Eltern nach Deutschland. Weil die Mutter nach wenigen Monaten in den Irak zurückkehrt, gibt der Vater ihren Bruder und sie für sieben Jahre zu deutschen Pflegeeltern nach Viernheim. Dort besuchen sie einen katholischen Kindergarten, Taufe und Kommunion folgen. Ein zweijähriger Aufenthalt in einem von Nonnen geführten Heim in Mannheim schließt sich an. Erst dann nimmt der neu verheiratete Vater seine Kinder wieder zu sich.
Kassem verlässt das Elternhaus früh, durchläuft eine Ausbildung zur Zahnarzthelferin und absolviert anschließend ein Studium an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg in den Fächern Deutsch, Geografie und Kunst. Nach einer schwierigen, von offenen Fragen durchzogenen Zeit entscheidet sie sich gegen den Schuldienst und für ein Leben als freischaffende Künstlerin.
All dies erzählt sie in ihrem Atelier in Heidelberg-Kirchheim, das sich im Gebäude einer ehemaligen Schnapsbrennerei befindet. Zunächst betritt man ihren Showroom in einem aufgelassenen Ladengeschäft, dessen neuverputzte, ungestrichene Wände ideale Bedingungen zur Hängung ihrer Serien bieten. Daran schließt sich ein kleinerer, offener Raum an, in dem Kassem Besucher empfängt und fertige Arbeiten aufbewahrt. Ihr ästhetisches Formgefühl spiegelt sich hier in einem eigens angefertigten Metallgestell, das ein Sofa samt Vitrine umrahmt. Augenfällig sind außerdem die farbig glasierten Keramikvasen aus den 60er- und 70er-Jahren, die sich über der Öffnung zum Showroom aneinander reihen: Stücke, die von der Malerin zwischen 2021 und 2022 gesammelt werden und nicht nur stilistische, sondern auch inhaltliche Parallelen zu ihrem Werk anklingen lassen.
Über den Hinterhof gelangt man dann ins Atelier: einen weiß getünchten Raum im ersten Stock des Rückgebäudes, der ursprünglich dem Abfüllen von Schnaps diente. Drei großformatige, unvollendete Arbeiten an der Rückwand, diverse, zur Brennerei gehörige Regale sowie ein ausladender Tisch in der Mitte bestimmen das Bild. Letzterer ist der zentrale Ort der Ideenfindung und Umsetzung. Hier hat sie zum einen zahlreiche Gläser mit Pigmenten, Acrylbinder, Pinsel und Ölpastellkreiden platziert. Und zum anderen Kartons mit vielen, unterschiedlich behandelten Papierresten, aus denen sie einige ihrer Reihen entwickelt. Nur für die größeren Formate, die sie alle auf Fotokarton ausführt, nutzt sie den Fußboden des Ateliers als Arbeitsfläche.
Mit beeindruckender Stringenz legt Cholud Kassem ihr Werk von Anfang an seriell an. Doch das ist, wie jeder Schritt ihres Tuns, nicht intendiert, sondern ergibt sich aus der Konsequenz der jeweiligen künstlerischen Phase, die durchaus mehrere Jahre anhalten kann. Analog dazu, dass jedes neue malerische Thema – wie bei den Schutzlingen – aus einer tief liegenden, unbewussten Auseinandersetzung mit spezifischen Geschehnissen resultiert, lässt die Malerin die Äußerung an der Bildoberfläche schichtartig aus dem Bildgrund erwachsen. Häufig kratzt oder wischt sie bereits Formuliertes wieder ab, übermalt es mit Weiß. Auch zum Schluss greift sie damit ein und lässt so den hellen Hintergrund als letztlich alles bestimmende Fläche zur gestalterischen Autorität werden. Enigmatisch schimmert darunter Liegendes noch durch.
Die Dekonstruktion als Basis für eine äußerst lebendige Faktur wird ebenso in den darauffolgenden Werkreihen evident, denn dort wird ebenfalls übermalt sowie überklebt: Ihre Pfeile (2002–2005) und Wudus (2004–2007) collagiert Kassem auf und mit Transparentpapier und führt so eine ungewöhnliche Haptik ein, die etwas von einer ledrigen Epidermis hat. Diese wird bei den Wudus, die entweder nur mit Augen oder Mündern versehen sind, durch die Verwendung von Drachenpapier noch verstärkt und harmoniert besonders gut mit deren figurativer Anmutung.
Jedes Mal macht Kassem die Abfolge ihrer künstlerischen Eingebungen also im wahrsten Sinne transparent. Und lässt schließlich durch die teils rätselhaften Titel, die genauso haarscharf am Fasslichen vorbei gehen wie ihre Bilder, etwas von deren Ursprung durchblitzen.
Als diese Arbeiten entstehen, ist Cholud Kassem längst in der Rhein-Neckar-Region bekannt. Schon im Winter 2000/2001 widmet ihr der Heidelberger Kunstverein eine Einzelausstellung. Im Laufe der Jahre wird sie von mehreren regionalen und überregionalen Galerien vertreten und in zahlreichen Institutionen, wie den Kunstvereinen von Worms, Speyer und Viernheim gezeigt. Sie findet Sammler, die auch von den jeweils nächsten Werkstufen fasziniert sind, wie beispielsweise von der Reihe “… es sei denn, was außen ist“ (2010–2013). Darin setzt sich die Malerin intensiv mit ihrer katholischen Erziehung auseinander: Sie entwirft Gewänder auf Fotokarton, die innerhalb ihrer variantenreichen Geschlossenheit von einer neuen Ornamentik gekennzeichnet sind. Zum Beispiel Tauf- und Sonntagskleider, in Anlehnung an die von ihr als feierlich erlebten Gottesdienste und Sakramente. In diesen Bildern sind die semantischen Verkürzungen weniger stark ausgeprägt als in den verknappten, mantelartigen Formen, die erst auf den zweiten Blick an die Roben geistlicher Würdenträger oder Heiliger denken lassen. Zwar bleiben alle Stücke in der Darstellung plan, doch scheinen sie zum Inbegriff einer ambivalenten Hülle der Geborgenheit zu werden. Als eine Art sich nach außen hin absichernder Identität, die Kassem im Rahmen liturgischer Zeremonien zu finden ermuntert wird, die aber ihrer eigentlichen Herkunft nicht entspricht.
Erst 2015 gelingt es der Künstlerin, die eigene Mutter wiederzusehen und deren in aller Welt lebenden Zweig der Familie (in der Türkei) kennenzulernen. Plötzlich fügt sich vieles zusammen, sie versteht sich gut mit ihren hoch gebildeten Verwandten aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, dem Oman und den USA. Doch die Tatsache, dass sie keine Muslimin ist, führt bei ihren streng gläubigen Tanten, Onkeln, Cousinen und Cousins zu Irritationen.
Ihre neuen Erfahrungen und Eindrücke übersetzt Kassem zunächst in zwei Folgen von Schutz- und Tarnhelmen (2015–2019), in die sie einige orientalische Muster und Signets, wie das „Auge der Fatima“ integriert, und später dann in die Serie Burka Hidschab Nonnenschleier (2018–2019). Auf verblüffende Weise zeigt sie in letzterer augenscheinliche Parallelen religiöser Dogmatik, die anhand von Kopf- und Körperbedeckungen sowohl in der christlichen als auch in der islamischen Welt evident wird. Mit ihrem so grundlegenden wie raffinierten Minimalismus durchdringt sie die Thematik diesmal, indem sie Elemente aus früheren Werken mit der dominanten Verwendung von Grafit kombiniert.
Diese Reihe überführt die Künstlerin bei Ausstellungen zum ersten Mal in einen installativen Zusammenhang: Dabei bilden ein mittig platzierter Orientteppich, zwei Taufbecher auf einem altarähnlichen Möbel sowie eine davor geblendete Videoarbeit mit Fotos und Dokumenten ihres Lebens das Zentrum. Trotz der Schlichtheit dieser „sakralen“ Inszenierung deutet Cholud Kassem hier mit Macht auf die großen kulturellen Gegensätze, die sich aus ihrer Biografie ergeben, die sie jetzt aber in ihrer Kunst auf synchron kritische und versöhnliche Weise zu verschmelzen weiß.
Doch schon vorher schafft Corona eine Zäsur, es entstehen – nach einer Weile des Innehaltens – die Weeping Pillows (2020–2023): eine Werkgruppe, die als Inbegriff unbegreiflicher Zeiten erstmalig vollständig auf einem grafit-schwarzen Bildgrund basiert.
Ein Jahr später beginnt die Malerin, sich für die anfangs beschriebenen, glasierten Vasen zu interessieren. Diesmal geht es nicht um ihre eigene Geschichte, sondern um die der Menschen, die ihr die Stücke auf einer Online-Plattform verkaufen. Denn Kassem sammelt mit den Gefäßen auch die Gedanken, die die ehemaligen Besitzer mit den Vasen verbinden, und präsentiert beides in dem Video West German Pottery. Aufgrund der verblüffenden Nähe zu ihrem Œuvre ist es nur konsequent, dass sie selbst Vasen als Erinnerungsspeicher (2021) zu malen beginnt und in den anfangs erwähnten, als Trutzburgen bezeichneten Keramiken nun auch plastisch umsetzt.
Tatsächlich wird mit der Zeit deutlich, wie eng zum Beispiel die Schutzlinge mit den Tarnhelmen, die Wudus mit den Burkas oder die Kleider mit den Vasen verwandt sind. Das liegt nicht nur an den Formen, die hier erstaunlich flexibel in Erscheinung treten. Sondern auch an der ursprünglichen, übergeordneten Funktion dieser Arbeiten, die in ihrer mitgedachten räumlichen „Verwendung“ bemerkenswert sind: „Meine Kunst hat immer mit meinem eigenen Körper zu tun. Hinter die Schutzlinge stelle ich mich. Die Pfeile haben ein aggressiveres Moment, etwas Kämpferisches, die Schutz- und Tarnhelme sind etwas, das ich mir aufsetzen kann und dadurch rituell geschützt bin. Ich liebe Rituale. Sie entsprechen dem Grundbedürfnis des Menschen, Wünsche zu äußern und mit Bedrohungen umzugehen“, erklärt Kassem.
Aus dieser Aussage kristallisiert sich schließlich die Quelle für die große, auratische Wirkung ihrer Werke heraus. Denn die Heidelbergerin führt die Kunst in gewisser Weise auf ihre ursprüngliche, kultische Bestimmung zurück, sprich ihre transzendentale Bedeutung, die laut Walter Benjamin in Folge der Säkularisierung weitgehend verloren gegangen ist. Und dieser Ansatz wird für alle, die sich darauf einlassen, auch in besonderer Weise spürbar.
Aktuelle Ausstellung
16. September bis 22. Oktober 2023: Cholud Kassem. Erinnerungsspeicher I bis III
Kunstraum Vincke-Liepmann
Häusserstraße 25
69115 Heidelberg
Ich bin beeindruckt über die Fülle des künstlerischen Schaffens dieser Frau. Einzigartig und wunderschön!