Porträt

Malerei als gedeckter Tisch

Porträt der Halleschen Künstlerin Anja Nürnberg

Auf großen Formaten in frischen Farben breiten sich Interieurs, Landschaften und Räume aus, die irgendwo dazwischen liegen. Die Perspektiven wechseln – auch innerhalb der Bilder – in rasantem Tempo. Erstaunt wird man von den Arbeiten Anja Nürnbergs in den Bann gezogen. Sie besitzen eine bemerkenswerte Dynamik, die aus der Ambivalenz von Struktur und Spontaneität, Augenmaß und Freiheit, Gegenständlichkeit und Abstraktion hervorgeht. Gleichzeitig treten immer wieder bestimmte Sujets auf, die viel über die Kunst und Person der in Halle lebenden Malerin verraten.

Da ist einmal der Tisch.
Der Strich geht schnell, alles ist in Bewegung. Mit gekonntem Pinselschwung in mutigen Farben folgt Anja Nürnberg ihrem untrüglichen Sinn für Komposition. Dunkles, gebrochenes Blau markiert Stuhllehnenartiges, grelles Pink rangelt als tanzende Sitzgelegenheit mit Signalrot. Gelassen wirkt dagegen die abgedämpfte Fläche in Bordeaux, die sich bereits zu einem gemütlichen Sessel in der Bildmitte entwickelt hat. Plane Bereiche in Haut und Gelb mit Tassen, Schüsseln und Kanne visualisieren kipplige Tischplatten. Schließlich runden hell erleuchtetes „Glas“ und eine riesige, wie ein Wandvorhang gestaltete Zeichnung im Hintergrund das irgendwie fragile, aber in sich stimmige Ambiente ab.

Renndolsetra, 2021, Mischtechnik auf Leiwand, 200 x 160 cm. Foto: Isabelle Winkler

Renndolsetra, 2021, Mischtechnik auf Leinwand, 200 x 160 cm
Foto: Isabelle Winkler

„Wenn ich male, dann decke ich Tische. Es ist wie eine Einladung“, erklärt die in Magdeburg geborene Künstlerin im Ateliergespräch. Doch ihr ungewöhnliches Statement nimmt sie nur selten so wörtlich wie in dem Gemälde Renndolsetra von 2021. Viel eher geht es ihr um einen übergeordneten, ästhetischen Anspruch als „Gastgeberin“, nur dass in diesem Fall keine Freunde vorbeikommen, sondern Ausstellungsbesucher, die den festlichen „Tisch“, alias die Darstellung auf der Leinwand, vor Augen haben. In so erfrischend selbstbewusster wie reflektierter Art verweist Anja Nürnberg hier auf die enge Verschränkung von Kunst und Leben, ohne die ihr Schaffen nicht denkbar wäre. Denn die Malerin, die frei nach der Erinnerung arbeitet, schöpft ausschließlich aus eigenen Erfahrungen und Erlebnissen.

Eine wesentliche Rolle spielt dabei der Stuhl.
Erhöht steht er da, vor einer abstrakten Landschaft: eine in wenigen, hellen Linien ins Bild gezeichnete Sitzgelegenheit, die trotz ihrer ephemeren Anmutung – in Verbindung mit einer kleinen, rot umrissenen Tasse – Kontemplation verspricht. Das Ganze flirrt nur so vor Entspannung, die sich auch im Titel Teezeit auf gelbem Stuhl (2022) spiegelt. Zwar erfährt der hier suggerierte Ausblick durch die vertikalen Streifen im Hintergrund eine Zäsur, doch die Annahme einer potenziellen „Anwesenheit“ der Malerin im Bild ist naheliegend.

Teezeit auf gelbem Stuhl, 2022, Mischtechnik auf Leinwand, 160x140 cm. Foto: Isabelle Winkler

Teezeit auf gelbem Stuhl, 2022, Mischtechnik auf Leinwand, 160 x 140 cm
Foto: Isabelle Winkler

Bei ihrer künstlerischen Arbeit, im intensiven Dialog mit Leinwand und Farbe, rufen meist schon zu Beginn die ersten freien, ungegenständlichen Linien und Flächen Assoziationen hervor, die sich bei Anja Nürnberg zu einem inneren Bild formen. Zu einer Stimmung, die sie mit einem bestimmten Ort, einem spezifischen Geschehen verbindet und die sie nun zum Ausgangspunkt ihrer Darstellung macht. Oft, jedoch nicht ausschließlich, sind es Momente positiven Gehalts, Szenen aus dem Urlaub, von Ausflügen, aber auch aus dem Alltagsleben der Mutter zweier Kinder. In diesem Zusammenhang spielt das im eben beschriebenen Gemälde durch den Stuhl symbolisierte Pausieren eine wesentliche, inhaltliche Rolle in ihrer Kunst: „Der Stuhl ist ein wunderbarer Gegenstand: Er ist ein Ort der Ruhe, des Innehaltens“, so Nürnberg.

Wärme mit Stuhl in Pink, 2023, Mischtechnik auf Leinwand, 200 x 160 cm. Foto: Isabelle Winkler

Wärme mit Stuhl in Pink, 2023, Mischtechnik auf Leinwand, 200 x 160 cm
Foto: Isabelle Winkler

Im Entstehungsprozess kann sich das, was das Bild erzählt, aber durchaus noch ändern. Hier stellt die Künstlerin immer wieder kritische Fragen an die Komposition, setzt unter Verwendung von Acrylfarben und Ölpastellkreiden lineare gegen flächige, feine gegen grobe Strukturen oder kontrastiert gewisse Farbtemperaturen und -töne miteinander. Auch in dieser Korrekturphase geht die Malerin, die in der Regel parallel an mehreren Leinwänden arbeitet, mit Verve und Körpereinsatz vor, die Leiter für die Bewältigung der überlebensgroßen Formate stets zur Hand. So kommt am Ende manchmal eine ganz andere Erinnerung zum Ausdruck als die, die sich am Anfang abzeichnete.

Anja Nürnberg im Atelier. Foto: Dominik Wolf

Anja Nürnberg im Atelier
Foto: Dominik Wolf

Die Tatsache, dass sich im Atelier der obligatorische Sessel befindet, der der Künstlerin während des Malens die Gelegenheit bietet, zum jeweiligen Werk optisch und geistig Abstand zu gewinnen, verleiht der Thematik doppelte Bedeutung. Es kann aber sein, dass die Dimensionen des großzügig geschnittenen Arbeitsraums nicht genug Distanz bieten. Dann hängt Nürnberg die Leinwände kurzerhand an die Fassade und betrachtet sie von der gegenüberliegenden Straßenseite aus.

Fassade mit Harz. Dazwischen und Jägerzaun, 2022, Mischtechnik auf Leinwand, 200 x 160 cm. Foto: Anja Nürnberg

Fassade mit Harz. Dazwischen und Jägerzaun, 2022, Mischtechnik auf Leinwand, 200 x 160 cm.
Foto: Anja Nürnberg

Die Tätigkeit der Malerin ist in einem beeindruckenden Atelierhaus verortet, das sie zusammen mit ihrem Mann aus vier ehemaligen Werkswohnungen samt angegliederter Kneipe geschaffen hat. Das Gebäude, das aus dem 19. Jahrhundert stammt und zu einer Papiermühle an der nahegelegenen Saale gehörte, ließ das Ehepaar aufstocken und mit einem hübschen Innenhof versehen, um genug Platz für die Familie zu generieren. Nähert man sich dem Haus, fallen sofort die pinke und die hellgrüne Eingangstür – von Atelier und Wohnbereich – ins Auge, zwei Farben, die ebenso wie das tiefe Blau in der Küche oder das satte dunkle Grün des Flurs in den Gemälden von Anja Nürnberg zu finden sind.

Auch in denen, die das Meer zum Thema haben.
Schon von weitem leuchtet einem das Stelzenhaus mit gelbem Sitzmöbel (2023) entgegen. Auf seinen fragilen Stelen scheint es eher zu tanzen als Schutz zu bieten. Die Farben machen hier, was sie wollen, lösen sich oft vom Gegenstand, deuten Pflanzliches auf der linken und Wasserähnliches auf der rechten Seite an. Die nach hinten kippenden, roten Linien der Hütte werden von einer aufstrebenden Diagonale in Dunkelblau und den rosa Streifen im rechten Bildvordergrund „gehalten“. Chaos und Ordnung sind erstaunlich spielerisch miteinander verklammert: Alles wirkt so bedrohlich auseinandertreibend wie im Einklang. Dazu ist die Darstellung ohne sichtbare Lichtquelle durchzogen von strahlenden Farben, die Szenerie bestimmt von der besonderen Kraft der Sonne im Übergang vom Land zum Meer.

Stelzenhaus mit gelbem Sitzmöbel, 2023, Mischtechnik auf Leinwand, 140 x 160 cm. Foto: Isabelle Winkler

Stelzenhaus mit gelbem Sitzmöbel, 2023, Mischtechnik auf Leinwand, 140 x 160 cm
Foto: Isabelle Winkler

Das kommt nicht von ungefähr, denn Anja Nürnberg studiert nach ihrer Kindheit und Jugend in Berlin zunächst Internationales Management – bezeichnenderweise mit Fokus auf Hotelwesen – in Mainz, San Francisco (Berkeley) und San Diego. Obwohl die Entscheidung, freischaffende Künstlerin zu werden, noch nicht in Sichtweite liegt, habe sie „die Farben damals schon mitgenommen“. Weiß man das, scheint sich der frühe Hockney heute in einigen kräftigen Tönen, wie dem viel verwendeten Pink und Hellblau, zu manifestieren. Auch die Malerin sieht hier Parallelen. Doch bewusst lässt sie sich eher von zwei Künstlern inspirieren, deren Arbeiten durch die Lichtverhältnisse an den Küsten Frankreichs geprägt wurden: Zunächst von Bonnard, dessen duftiger, zarter Stil bereits Einfluss auf ihre frühen Bilder hat, von der Sonne durchströmte, kleinteiliger organisierte Interieurs und Landschaften. Und dann von Matisse, dessen Flächenbehandlung für sie nachhaltig von Bedeutung ist.

Gorey, 2012, Öl auf Leinwand, 200 x 160 cm. Foto: Anja Nürnberg

Gorey, 2012, Öl auf Leinwand, 200 x 160 cm
Foto: Anja Nürnberg

Trotz einer attraktiven Festanstellung bei einem Start-up am Berliner Gendarmenmarkt entscheidet sich Anja Nürnberg 2008 für ein Kunststudium an der Burg Giebichenstein in Halle, das sie 2013 abschließt. Die Künstlerin wird bereits als Kind von ihrer Großmutter aus Magdeburg ans Malen herangeführt und hat eine begnadete Kunstlehrerin in der Schule, die ihr hilft, „durch die Kunst Wege und Lösungen für das Leben zu finden.“ Deshalb sammelt sie schon sehr lange Farben. Und begeistert sich bis heute für bestimmte Kombinationen, die sie unterwegs entdeckt und im Kopf abspeichert. „Man braucht einen orchestralen Farbsinn, um eine Komposition auszutarieren“, erklärt sie.

Der zeigt sich auch in Auseinandersetzung mit dem Sujet des Waldes.
Eine mühelos segmentierte Landschaft tut sich auf. Der Blick wandert über starkfarbige Flächen sowie sommerlich leuchtende Streifenfelder und -hügel. Doch vorher bleibt er an einem großen, mit schnellen Strichen skizzierten Baumgerippe in Rot hängen, das auf der rechten Bildseite alles zu überragen scheint. Fast figürlich lugt davor ein zeichnerisch umrissenes Behältnis aus dem unteren vorderen Bildrand, begleitet von einem ovalen, lila konturierten Etwas mit drei orangefarbenen Klecksen darauf. Der Eindruck ist idyllisch und beängstigend zugleich. Wie der Titel Harz. Hasselfelde (2022) verrät, „befinden“ wir uns hier quasi mitten in dem norddeutschen Mittelgebirge.

Harz. Hasselfelde, 2022, Mischtechnik auf Leinwand, 190 x 150 cm. Foto: Isabelle Winkler

Harz. Hasselfelde, 2022, Mischtechnik auf Leinwand, 190 x 150 cm
Foto: Isabelle Winkler

Über ein Jahr lang fährt Anja Nürnberg in der Coronazeit zusammen mit ihrem kleinen Sohn und einer befreundeten Fotografin wöchentlich in den Harz, um dort zu wandern. Das Erlebte verarbeitet sie erst wesentlich später in einem Zyklus, der anschließend – jeweils in großen Einzelausstellungen – 2022 in Dessau und 2023 in Naumburg zu sehen ist. Zu diesen Gemälden kreiert die Künstlerin Keramiken, die sie als „Erweiterung der Malerei“ installativ im Raum anordnet. Besonders interessant ist daran, dass sie dafür nicht bestimmte Motive, sondern Fragmente ihrer eigenen Darstellung aus dem Bild löst und ins Dreidimensionale übersetzt. Da es hier um die Visualisierung des Farbauftrags geht, trägt die Plastik ganz wesentlich zum Verständnis der Malerei bei.

Keramik mit Gemälde Grillenberg, 2022, Mischtechnik auf Leinwand, 180 x 180 cm (im Anschnitt). Foto: Isabelle Winkler

Keramik mit Gemälde Grillenberg, 2022, Mischtechnik auf Leinwand, 180 x 180 cm (im Anschnitt)
Foto: Isabelle Winkler

Obwohl die Künstlerin auf ihren Streifzügen durch die Wälder im Harz immer wieder Schönes entdeckt, ist ihr doch der Schreck über das Sterben der dortigen Fichten ins Bild geschrieben. Indem sie der versehrten Natur durch liebevoll vorbereitete Picknicks beim Wandern eine persönliche Note entgegensetzt und die Landschaft so vor Ort und in der Darstellung zu etwas eigenem macht, versöhnt sie sich zwar bis zu einem gewissen Grad mit der Situation. In der Art aber, wie Anja Nürnberg vorher Wahrgenommenes dekonstruiert und neu wieder zusammenfügt, wie sie dabei Vertrocknetes, Abgestorbenes beschreibt, mag es noch so bunt sein, offenbart sie eine sensible und kritische Sicht auf die Wirklichkeit, deren tiefere Schichten sie hier freilegt.

Preußenturm, 2022, Mischtechnik auf Leinwand, 200 x 90 cm. Foto: Isabelle Winkler

Preußenturm, 2022, Mischtechnik auf Leinwand, 200 x 90 cm
Foto: Isabelle Winkler

Damit schafft die Künstlerin emotionale Zwischenräume innerhalb eines Werks sowie zwischen „Tisch“ und „Gast“, respektive Leinwand und Betrachter. Und die lassen sich in der Rezeption nicht nur mit eigenen Erinnerungen füllen, sondern auch mit Gedanken zur Gegenwart.

Genau das scheint viele Menschen zu faszinieren. Die Nachfrage nach Anja Nürnbergs Bildern ist groß. Nachdem sie 2022 mit einem Preis der Kunststiftung des Landes Sachsen-Anhalt ausgezeichnet wurde und in diesem Jahr auf der Art Karlsruhe vertreten war, sind für 2024 mehrere institutionelle Einzel- und Gruppenausstellungen geplant.

Wäscheleine vor pinkem Haus, 2022, Mischtechnik auf Leinwand, 160 x 140 cm. Foto: Isabelle Winkler

Wäscheleine vor pinkem Haus, 2022, Mischtechnik auf Leinwand, 160 x 140 cm
Foto: Isabelle Winkler

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Profile

Anja Nürnberg wurde in Magdeburg geboren und wuchs in Berlin auf. Nach der Schule studierte sie zunächst BWL in Mainz, San Francisco und San Diego. Von 2008 bis 2013 absolvierte sie ein Studium an der Burg Giebichenstein mit Schwerpunkt Malerei und Grafik in Halle, wo sie heute – ganz in der Nähe der Burg – mit ihrer Familie lebt und arbeitet.

Im Sommer 2022 erhielt Anja Nürnberg den Kunstpreis der Kunststiftung des Landes Sachsen-Anhalt, kurz vorher wurde sie für ein Kunst am Bau Projekt in Benndorf ausgezeichnet.

2024 werden ihre Arbeiten in gleich mehreren institutionellen Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen sein. Unter anderem in der Kunsthalle Lausitz in Cottbus, in der Fabrik der Künste in Hamburg, in der Kunsthalle Bernburg sowie in der Galerie im Rathaus Aalen.

[Foto: Dominik Wolf]

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