Ein Bild vom Meer im Winter versüßte die teils frostklaren, teils grauen und sicherlich herausfordernden letzten Wochen: Sonnenstrahlen glitzern auf der leicht bewegten Wasseroberfläche, auf den Felsen reckt entfernt (und winzig klein) ein Kormoran den Schnabel in die Luft. Ein Boot segelt am Horizont, dessen klare Linie das Wasser und den blauen, ein wenig bewölkten Himmel trennt. Ruhige Weite, ein Blick auf die Schönheiten der Natur und ein besonderes Vertrauen in die Zeitläufte waren die Botschaften, gleichsam in Echtzeit dank Handy-Messenger auf den Schreibtisch zugestellt.
Dies war mehr als willkommen, denn, Hand aufs Herz: Wie oft haben Sie in den letzten Monaten gedacht „Das kann ich nicht verstehen“ oder: „Das geht über meinen Horizont“? Die Entwicklungen und Krisen in der Welt, die Unsicherheiten, die uns im Großen wie im Privaten umgeben, lassen sich mitunter kaum mehr gedanklich nachvollziehen. Wenn etwas den eigenen Horizont übersteigt (und wer kennt dies nicht?), macht sich häufig ein Gefühl der Rat- und Hilflosigkeit breit.
Doch der Blick auf den Horizont lehrt uns vieles, wenn man sich klarmacht: Der Horizont ist immer und für jeden einzelnen ein anderer, denn er hängt maßgeblich von der Perspektive ab. Wissenschaftlich gesehen wird er je nach Standort und Lichtbrechung höher oder tiefer, näher oder weiter entfernt wahrgenommen. In früheren Zeiten wurde der Horizont auch „Gesichtskreis“ genannt: Das also, was man sehen, aber nicht (be-)greifen kann. Auf jeden Fall öffnet der Horizont den Blick und die Gedanken – auch an das, was dahinter liegen mag.
Die nur scheinbar waagerecht verlaufende Grenzlinie zwischen Himmel und Erde ist auch besondere Protagonistin in der Kunst. In der gegenständlichen Malerei und Zeichnung ist sie fast unverzichtbar, denn sie lenkt den Blick und bestimmt die Betrachtungsweise. Ob er dem Himmel sehnsuchtsvoll fast die ganze Bildfläche zugesteht, wie in Caspar David Friedrichs Mönch am Meer, oder in Dalís Forgotten Horizon von 1936 unbeschwerte Tage der Vergangenheit heraufbeschwört – der Horizont ist genau der richtige Ort für Träume und Pläne, für Sehnsüchte und Luftschlösser, die immer dann gebaut werden, wenn es auf dem Boden der Tatsachen zu eng zu werden scheint. „Hinterm Horizont geht’s weiter“, sang Udo Lindenberg in seiner 1986 veröffentlichten gleichnamigen Ballade, die von Gefühlen spricht, von Freundschaft und Liebe und dem Band, das Menschen stets verbindet – auch heute ein unverzichtbares Gut.
Als Christoph Kolumbus am 3. August 1492 in einem andalusischen Hafen in See stach und gen Westen dem Horizont entgegensegelte, ahnte er noch nichts von den Welten, die sich ihm eröffnen würden. Nach Erreichen seines Ziels wurde der Spruch, der bis dahin die Spruchbänder des spanischen Wappens zierte, geändert: Statt wie bisher „Non Plus Ultra“ ist seitdem „Plus Ultra“ zu lesen: Es geht weiter. Und dies gilt nicht nur, aber insbesondere zum Start eines neuen Jahres in der Kunst, der Literatur und der Musik: Wer den eigenen Horizont überschreitet, empfängt frische Impulse und Inspirationen.
In diesem Sinne: Ein glückliches Jahr 2023 mit neuen Horizonten wünscht
Sabine Burbaum-Machert