Interview

Die Ursache der Kunst liegt in der Zukunft

Johannes Stüttgen über die Bedeutung von Joseph Beuys für die Kunst

Joseph Beuys (* 12. Mai 1921 in Krefeld; † 23. Januar 1986 in Düsseldorf) hat als Zeichner, Bildhauer, Lehrer, Politiker, Aktivist, Aktions- und Installationskünstler die Kunst des 20. Jahrhunderts grundlegend verändert. Er prägte einen Erweiterten Kunstbegriff, der in der Sozialen Plastik gipfelte. Kunst und Leben wurden von ihm als Einheit wahrgenommen. Mithilfe seiner Kunst sollte die Gesellschaft von Grund auf erneuert, die Natur geheilt und Gegensätze überwunden werden. Bis heute ist Beuys‘ Einfluss in künstlerischen und politischen Diskursen spürbar.

Johannes Stüttgen, Meisterschüler und engster Mitarbeiter von Joseph Beuys, gilt als Erklärer des Werkes und des Menschen Beuys. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Erweiterten Kunstbegriff in Vortragsarbeit, Gesprächen, Seminaren und seinem gesamten künstlerischen Wirken konsequent und lebendig zu Gehör und ins Bewusstsein zu bringen. Die von ihm kuratierte Ausstellung „Die Unsichtbare Skulptur“ auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein fokussierte die gesellschaftspolitische Dimension in der Arbeit von Joseph Beuys und stellte deren Bedeutung für Gegenwart und Zukunft zur Diskussion.

Johannes Stüttgen

Johannes Stüttgen
Foto: OMNIBUS für Direkte Demokratie

Wir haben Johannes Stüttgen gefragt, inwiefern die Beuys’schen Positionen heute noch für die Kunst relevant sind.

boesner: Joseph Beuys wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Welche Bedeutung hat er Ihres Erachtens heute für die Kunst?

Die Epoche, die Joseph Beuys vorausgesagt und als Person selber vorbereitet hat, ist angebrochen, nämlich die Einsicht in die Notwendigkeit von Grund auf neuer Prinzipien im Umgang mit der Erde (…)

Johannes Stüttgen: Eine noch größere Bedeutung, als er sie schon zu Lebzeiten hatte – oder sagen wir, seine Bedeutung wird jetzt erst wirklich bewusst, sie geht den Zeitgenossen heute auf, immer mehr, nach und nach. Worin besteht die Bedeutung? Antwort: im Sinn der Kunst! Die Epoche, die Joseph Beuys vorausgesagt und als Person selber vorbereitet hat, ist angebrochen, nämlich die Einsicht in die Notwendigkeit von Grund auf neuer Prinzipien im Umgang mit der Erde, im Kleinen und Großen, im Persönlichen und Globalen – neuer Prinzipien, die nur wir, wir als Menschen, hervorbringen können. Diese Einsicht ist eine künstlerische. Sie bezieht sich a) auf die Kunst als Begriff (d.h. die Quelle) – b) auf alle drei Ebenen unserer Existenz hier auf Erden: auf die Natur, auf die Gesellschaft, d.h. den sozialen Zusammenhang, und auf das eigene Ich und dessen künstlerische Verantwortung. Beuys nennt das Zusammenspiel dieser drei Ebenen die Soziale Plastik (Skulptur), an deren Hervorbringung und Bearbeitung/Formung „jeder Mensch als Künstler“ beteiligt und dazu berufen ist. Ich sage bewusst,  b e r u f e n  ist. Berufen von wo und von wem? Man kann dieses Rufen heute deutlich hören, und zwar von zwei Seiten, von außen und von innen. Von außen, das ist der Ruf, die Stimme der Erde, von innen, das ist die eigene Innere Stimme. Wie gesagt, immer mehr Menschen vernehmen diese zwei Stimmen, sie erkennen, wie richtig Joseph Beuys gelegen hat, wie stimmig seine Maßnahmen und Kundgaben gewesen und immer mehr sind.

Um es auf die zeitgeschichtliche Bestimmung der Kunst zu beziehen: Beuys‘ historische Jahrhundertbedeutung besteht in der Ausnahmeleistung, nicht nur ein Innovator  i n n e r h a l b  des Feldes der Kunst gewesen zu sein, sondern dass er die Kunst als solche aus diesem Feld (Niklas Luhmann: „Teilsystem Kunst“) auf eine höhere Ebene gehieft hat.

boesner: Welche Rolle nimmt die Kunst in diesem Zusammenhang ein? Was ist mit „höhere Ebene“ gemeint?

Stüttgen: Ich sehe an Ihrer Frage, dass die Kunst, bzw. der Begriff „Kunst“, trotz meiner Erklärungen immer noch Rätsel ist. Kein Wunder, denn dieser Rätsel- oder Geheimnischarakter ist das für die Kunst (= die wirkliche Kunst) Bezeichnende und wird es immer bleiben. Denn die Kunst ist die Vermittlerin immer von etwas Zukünftigem – Joseph Beuys: „(Ihre) Ursache liegt in der Zukunft“. Schon diese Auskunft selbst ist rätselhaft. Mit anderen Worten: Die Rolle der Kunst ist allerdings zwar sehr bestimmt und klar, aber nicht „definierbar“, das macht ihren unaussprechlichen Reiz aus.

Mit „höherer Ebene“ ist eine höhere Relevanz gemeint – eine, die über die gegenwärtige „Systemrelevanz“ hinausreicht. Sie entspricht einer höheren Stufe unseres Wahrnehmungsvermögens (Sinn- und Sinnesvermögen), welches wiederum nur mithilfe des Kunstbegriffs, d.h. durch einen stärkeren, nämlich künstlerischen Denkwillen zu erreichen ist. Für dessen Mangel sind die gegenwärtig zunehmenden Katastrophen/Naturkatastrophen hinreichend Beleg. Die materialistische Ära/Bewusstseinsära ist am Ende, verbraucht.

boesner: Wann waren Sie erstmals mit dem Beuys’schen Werk konfrontiert, Herr Stüttgen? Wie haben sie darauf reagiert? Was hat Sie an der Beuys’schen Arbeit fasziniert oder auch abgestoßen?

Stüttgen: Ich war erstmals mit diesem Werk konfrontiert, als ich bereits ein Jahr Beuys‘ Schüler, d.h. Student in seiner Klasse in der Staatlichen Kunstakademie Düsseldorf war. Mit anderen Worten, ich war bereits ein Jahr im Zentrum des Strahlungsfelds dieses Mannes in seiner Eigenschaft als Lehrer, dessen Lehrertätigkeit ich an mir selbst und meinen Kommilitonen und Kommilitoninnen als  K u n s t  erlebte, und wusste nicht einmal, dass es ein solches „Werk“ überhaupt gab. So fiel ich aus allen Wolken, als im Herbst 1967 im Städtischen Museum Mönchengladbach eine Ausstellung „BEUYS“ angekündigt und eröffnet wurde. Wie habe ich darauf reagiert? Wie gesagt, ich fiel aus allen Wolken! Die Überraschung war total – heute würde ich sagen, sie war „Beuys-artig“, eben total! Genau dieses Totale, dieses von Grund auf fundamental Neue, Andere, das mich buchstäblich umwarf, war das Faszinierende, das in jeder Hinsicht Erschütternde – ein Energie-Ereignis total. Abgestoßen hat mich gar nichts, wohl war nicht zu leugnen, dass mein mir bisher vertrautes Urteilsvermögen völlig neutralisiert war. Ich erinnere mich noch wie heute: Auf dem Fußboden vor mir lagen zwei an beiden Enden mit Fett verlängerte Spazierstöcke – Titel: „mit Fett verlängerter Spazierstock“ in zwei Fassungen. Ich dachte, ich fass‘ es nicht! So dumm wie in diesem Augenblick hatte ich mich noch nie gefühlt. Kurz und schmerzhaft: Ich fiel vom hohen Ross. Nie übrigens wäre ich auf die Idee gekommen, meinen Lehrer Beuys nach dem Sinn dieser Stücke zu fragen, nie! Wie hätte ich dagestanden! Doch war diese Feigheit meine Rettung. So musste ich diesen Wahnsinn an mir und mit mir selbst austragen. Ich fühlte mich elend, kein Wunder. Das dauerte eine gehörige Zeit, bis mir am verlängerten Ende das Wunder widerfuhr, dass mir ein Licht aufging.

boesner: Welche Rolle spielt das Material im Erkenntnisprozess? Wie kommt man zum erweiterten Kunstbegriff?

Es gibt niemanden, der seine künstlerische Bestimmung so tief, so direkt, so aus- und „eindrücklich“ (!) in die Materie, die Stoffe, die Erde getrieben hat wie Joseph Beuys.

Stüttgen: Das Material ist die Materie, der Stoff, das Medium, das Mittel – das irdische Mittel, die Erde überhaupt in jeglicher Hinsicht. Jedes Material hat seine spezifische Eigenschaft, Eigenart, Befindlichkeit, Qualität. Immer ist es ein Außen, als solches auch Widerstand. Es gibt niemanden, der seine künstlerische Bestimmung so tief, so direkt, so aus- und „eindrücklich“ (!) in die Materie, die Stoffe, die Erde getrieben hat wie Joseph Beuys. Er hat diese Bestimmung buchstäblich mitten hindurch, durch die Stoffe hindurch, getrieben. Jedes Werk von ihm ist das Substanz-Resultat dieses Durch-den-Stoff-hindurch, die Substanz- und Freiheitsermittlung. Zum Erweiterten Kunstbegriff kommt man nur durch diese Enge hindurch aus ihr heraus. Es ist der Modellfall des irdischen Lebens zwischen Geburt und Tod. Welcher Wert kommt ihm zu? Der Wert der irdischen Existenz schlechthin, im Einzelfall wie auf das Ganze, Welt und Menschheit, bezogen. Der Erweiterte Kunstbegriff ist die Innen-Entsprechung der Globalisierung im Außen, der ökologische Kernfaktor der  F r e i h e i t s n a t u r .

boesner: Können Sie uns bitte einmal die Rolle des Materials und des Prozesses am Beispiel eines Werkes von Joseph Beuys erläutern?

Stüttgen: Das beste Beispiel sind die „Fettecken“, die damals Anfang/Mitte der 1960er Jahre in den Aktionen von Joseph Beuys aufgetreten sind und eine nicht fassbare öffentliche Aufmerksamkeit und Erregung ausgelöst haben. Um was eigentlich hat es sich da gehandelt? Um die Vorführung eines Allereinfachsten: die Anbringung von Fett (= Energie) in eine Ecke (= das Ende eines Innenraums, wo es nicht weitergeht). Beuys war imstande, durch eine minimale Demonstration außen am Material eine maximale Turbulenz im Seelen-Innen zu entzünden. Ohne damals die „Fettecken“ wäre z.B. unsere Debatte, die wir jetzt hier führen, nicht zustande gekommen. Auch das zum Thema „Rätsel“!

boesner: Wie ist der heutige Blick auf die Beuys’schen Materialien (Honig, Fett, Filz)? Sind das schon Reliquien? Wie empfindet Herr Stüttgen die Beuys’sche Ästhetik?

Ich, Johannes Stüttgen, empfinde die „Beuys‘sche Ästhetik“ als großen, ja den rettenden Glücksfall. Nebenwirkung dieser „Mittel“: Ich weiß wieder, was  s c h ö n  ist und  S c h ö n h e i t .

Stüttgen: Der heutige Blick auf die Beuys‘schen Materialien – und mit deren Hilfe überhaupt auf die Materialien – ist, wenn er tatsächlich auch getätigt wird, überaus hilfreich, augenöffnend, erhellend. Es ist nicht der Blick nur auf die „Reliquien“, denn diese sind ja nur die Restbestände der Substanz-Hervorbringung (s.o.), es ist der Blick auf den Vorgang und die Prinzipien der Substanz-Erzeugung selbst, welche über die von Beuys gelieferten Modellfälle und Präparate zu übertragen sind auf jede menschliche Betätigung, egal auf welchem Arbeitsfeld. Die von Beuys gelieferten Präparate und Entdeckungen sind heute unverzichtbar, das macht sich immer mehr bemerkbar und geltend. Ich, Johannes Stüttgen, empfinde die „Beuys‘sche Ästhetik“ als großen, ja den rettenden Glücksfall. Nebenwirkung dieser „Mittel“: Ich weiß wieder, was  s c h ö n  ist und  S c h ö n h e i t .

boesner: … und das ist dann was? Welche Attribute sind das ? Was verbinden Sie damit?

Stüttgen: Sie sehen, die Rätselhaftigkeit nimmt von Frage zu Frage, Antwort für Antwort, zu. Und die Schönheit ist von allem das Geheimnisvollste. Ich weiß, meine Antworten erscheinen am Ende als Ausweichmanöver, so, als drehten wir uns im Kreis. Ja, das tun wir auch, aber spiralisch – in die Tiefe und in die Höhe zugleich. Gerade die Schönheit bedarf, um sie überhaupt zu erkennen, unseres Sinns für sie. Und der ist zur Zeit arg heruntergewirtschaftet. Unter den von mir oben schon beiläufig angesprochenen Katastrophen ist dieser Mangel sogar der katastrophalste. Wenn man denn, wie heute üblich (was aber auch bereits ein Irrtum ist), Schönheit schon mit „Geschmack“ in Verbindung bringen will, spricht die zunehmende allgemeine Geschmacksverirrung-verwirrung für sich. Der Schönheitssinn ist eingeschnürt, privatisiert, verkitscht.

Alle alten Muster versagen, und das ist gut so. Nicht gut ist, dass dieser Abgesang überspielt, d.h. ignoriert wird.

Nein, der Schönheitssinn muss ganz neu, d.h. von Null an neu in uns von uns hervorgebracht werden. Was mich betrifft, kann ich nur sagen: die „Fettecken“ haben mir dabei kolossal geholfen! Das zum Thema „Schönheit“. Wem das nicht reicht, möge sich mit der „Sozialen Plastik“/„Sozialen Skulptur“, wie Beuys sie genannt und ermittelt hat, näher befassen. Denn Schönheit ist nur als Ganzes zu haben. Daraus folgen weitere Fragen.

boesner: Inwiefern verändert die Digitalisierung die Individualität und die Kreativität? Sind die Digitalität und das Beuys’sche Denken zwei Pole? Gibt es Gemeinsamkeiten bzw. Schnittmengen? Wie würde Beuys im Hinblick auf die digitale Entwicklung agieren? Welches Gesellschaftsbild würde er heute entwickeln?

Wie gesagt, Beuys war ein Zukunftsspezialist, die Digitalisierung ist dabei allerdings nur ein Aspekt, ein sehr irdischer.

Stüttgen: Bevor diese Frage gültig zu beantworten ist, gilt erst die Umkehrung: Die Digitalisierung ist das Resultat menschlicher Individualität und Kreativität. Wenn ich nämlich diese Voraussetzung ausblende, habe ich bereits den Verursacher=den Menschen, d.h. den Kreator ausgeschaltet. Ohne das zu bemerken, habe ich mich selber ausgeschaltet. Selber ausgeschaltet bin ich dann nur noch Opfer dieser Errungenschaft; das genau ist der von vielen herbeibeschworene Status Quo. Das Kreatorprinzip ausgeschaltet hänge ich in der Konsumfalle fest, die meine innersten Belange abschnürt. Das Kreatorprinzip kennzeichnet den Initiations- und Produktionspol im Beuys‘schen Denken und überhaupt in der Wirklichkeit, die Digitalisierung ist die letzte noch aus der alten Ratio-Quelle lieferbare Errungenschaft. Sie zielt ins rein Quantitative, Analytische, Zerteilende. Sie muss ergänzt werden, wodurch sie dann auch erst wirklich fruchtbar wird, durch die Erweiterung der Ich-Dimension und des Zukunftssinns. Nebenbei bemerkt, der erste Computer der 1979 gerade gegründeten Partei DIE GRÜNEN in NRW kam zum Einsatz auf Veranlassung von Joseph Beuys, er befand sich im Beuys-Atelier Raum 3, Kunstakademie Düsseldorf. Die Initiative, dass überhaupt ein Computer zum Einsatz komme, stieß auf den größten Widerstand im Lager der GRÜNEN damals. Wie gesagt, Beuys war ein Zukunftsspezialist, die Digitalisierung ist dabei allerdings nur ein Aspekt, ein sehr irdischer.

boesner: Herr Stüttgen, wir danken Ihnen für Ihre Darlegungen.


Der 100. Geburtstag von Joseph Beuys wird und wurde bundesweit und international gefeiert. Einen Überblick über die wichtigsten Veranstaltungen und Hinweise auf vieles, was den Künstler und sein Werk näherbringt, bietet die Internetseite beuys2021.de.

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