Die Malerin Carola Dewor
Bundesstraße 27, Ausfahrt Tübingen. Im Französischen Viertel, dort, wo früher Soldaten des Nachbarlandes samt ihrer Kavallerie stationiert waren, befindet sich seit 1991 Carola Dewors Atelier. Die schlanke Malerin steht bereits an der Tür, lächelt freundlich und bittet herein: Ein heller Raum empfängt den Gast, die großen Glasfenster lassen viel Licht herein, an den weiß getünchten Wänden hängen die vor kurzem fertiggestellten Werke. In der linken Ecke steht ein Schreibtisch, in der Mitte ein Tisch mit Farben und ein Sessel. Rechts, ein wenig hinter Leinwänden versteckt, ein Diwan mit lindgrünem Überwurf, im Rücken, nahe der Tür, befindet sich die Bibliothek der Malerin. In diesem, mit wenigen Utensilien ausgestalteten Raum wird dem Gast deutlich, worum es geht. Der Raum ist Carola Dewor’s künstlerisches Lebensthema, das Atelier der Ort ihrer künstlerischen Forschung.
Transit – der analoge und der virtuelle Raum
Mit dem Raum als ästhetischem Ereignis beschäftigt sich Carola Dewor seit über 30 Jahren. Er spielt nicht nur auf der Leinwand eine zentrale Rolle, sondern ist genereller Erkenntnismodus der Künstlerin. Im Atelier, wo Carola Dewor in den vergangenen Monaten zahlreiche neue Bilder geschaffen hat, kommen die Künstlerin und ihre Besucherin in einen intensiven Dialog. Der Raum strahlt dabei dieselbe ruhige Dynamik aus wie die Künstlerin selbst: Während sie spricht, reist sie in Gedanken und lädt dazu ein, ihr zu folgen – durch den Senegal, wo sie noch vor kurzem Artist in Residence war und neue Erfahrungen machte, durch die Gegenwartskunst hin zur Begegnung mit dem Werk des chinesischen Malers Yan Pei Ming, das viele neue Inspirationen für sie bereithielt. Und natürlich hin zu ihren eigenen Bildern und Motiven, die sich erst in ihr formieren, um dann im malerischen Prozess zum Vorschein zu kommen.
Der Raum, den ihre jüngsten Ausstellungen im Titel tragen, spielt auch im Produktionsprozess der Künstlerin eine Rolle – und zwar auf allen Ebenen. Virtuell fungiert er als große Inspirationsquelle. Im Internet findet Carola Dewor, was sich ihr schließlich in eigene Kunst verwandelt: Räume, festgehalten auf ästhetischen Fotografien, rätselhafte Szenarien, unbewohnte Orte, in denen Menschen Spuren hinterlassen haben. Scheinbar verlassen, erzählen diese Fotografien vom Leben der Menschen, selbst wenn auf ihnen keine Menschen zu sehen sind – das Arrangement der Gegenstände, das einfallende und akzentuierende Licht macht sie dennoch sichtbar, hält die Erinnerung oder die Erwartung an sie wach.
Es ist dieses Gefühl des Unsichtbaren im Sichtbaren, des Moments als Möglichkeit, der Carola Dewor fasziniert, ihre Imagination freisetzt und ihre Lust, die Geschichten dieser Räume mit ihren Mitteln – Licht, Fläche, Perspektive, Farbe – zu erzählen. Dass sich das Unsichtbare im Sichtbaren, in Raum und Zeit vergegenwärtigt, will die Künstlerin mit Farbe und Pinsel neu interpretieren. Die sichtbare Welt, die ihr unter anderem das Internet bietet, ist für sie so reich an Erscheinungen, dass sie sie als Ausgangspunkt ihrer Malerei nimmt. Auf Sharing-Plattformen findet Carola Dewor ihre Motive, deren Urheber*innen sie in der Regel nicht kennt. Mit der Zeit hat sie daraus ein großes eigenes, digitales Bildarchiv zusammengetragen. Immer wieder kommt sie auf diesen Fundus zurück, wählt auch dieselben Aufnahmen noch einmal als Vorlagen aus, ohne dass sich die Bilder später gleichen würden. Es kommt auf die Lebensphase, die Betrachtung, den Dialog mit der Vorlage an.
Stille Momente, abwesende Menschen – Fotografie und Malerei
Zeit, Raum, Subjekt: Es sind im Grunde diese erkenntnistheoretischen Kategorien, die Carola Dewor faszinieren. Das fotografische Motiv inspiriert sie als Mensch, die Malerin in ihr nähert sich dem Sujet sodann in einer Zeichnung. Sie prüft mit Bleistift, Tusche oder Kohle das räumliche Arrangement, lotet Objekte und Kompositionen aus und – reduziert. In der Reduktion liegt ein wesentliches Moment: Im Zeichnen arbeitet Carola Dewor den ambivalenten Moment heraus, der sie auf der Fotografie angerührt hat, plant den Raum ihrer Gemälde, vorerst noch ganz ohne Farbe. Auf dieser Grundlage beginnt sodann die Transposition der Fotografie zum Gemälde mit den Mitteln der Malerei: Farbe, Licht und Fläche. Das Bild tritt mit ihr in Dialog: „Das Bild will jetzt etwas anderes von mir.“ Bisweilen unterbricht Carola Dewor die direkte Arbeit an der Leinwand, kehrt zum Computer zurück, experimentiert mit einer Software, indem sie Farbflächen retuschiert oder modifiziert, bis deren Bedeutung für die Gesamtaussage stimmt. Dann geht es zurück an die Leinwand, wo sich Gedachtes und Gefundenes in der Wirklichkeit des Bildes bewähren müssen. Erneut kann es zu Laborsituationen kommen, können sich mehrere Farbschichten aufbauen, bis die Künstlerin spürt: Nun entsteht Resonanz, Übereinstimmung und Überraschung gleichzeitig.
Der Raum als Motiv
In dieser langsamen, aber unmittelbaren Technik der Bildfindung lassen sich Parallelen zur analogen Fotografie finden – auch hier zeigen sich die Motive ihren Schöpfer*innen nur ganz allmählich, wenn sich das Papier in der Dunkelkammer, im Fixierbad, färbt und der Moment in allen seinen Facetten sichtbar wird. Ähnlich wird die Vielschichtigkeit der Aussage, die Lesbarkeit der Gemälde erst nach und nach deutlich. Zugleich sind sie Heterotopien, ja Heterochronien im besten Foucault‘schen Sinne – Orte, die nach ihren eigenen Regeln funktionieren, Räume, in denen Zeitschnitte stattfinden, die Kollisionen von Gegenwart und Vergangenheit produzieren. Heterochronien sind paradoxe Zeitformen, auf die wir gerade in der gegenwärtigen Mediengesellschaft ständig treffen. Genauso wie sie funktionieren Carola Dewors Werke: Zum transzendentalen Ort tritt die Zeit, zur Unbewohntheit der Räume die Zeitkunst der Narration. Die wenigen Möbel und Kochutensilien, Hausrat, Türen und Fenster scheinen von einer Vergangenheit zu erzählen, die noch eine Zukunft hat. Wie im klassischen Stillleben scheint die Zeit zunächst still zu stehen, doch dann – und das ist modern – entwickeln die dargestellten Gegenstände ein Eigenleben, eine Eigendynamik, laden die Betrachter*in zu der Frage ein: Was ist geschehen? Warum ist das so? Wo sind die Menschen? Mit diesen Fragen kommt der Blick der Betrachter ins Spiel, der Carola Dewor gleichfalls interessiert.
Von einem solchen Zeitschnitt erzählt auch das Gemälde Der Gast (2022). In der Mitte dieses Interieurs steht ein Bett, auf dessen etwas antiquiertem Rahmen frisch bezogene Kissen und Decken drapiert sind. Rechts ein Kamin, im Hintergrund die Reste einer Tapete. Auf die Kissen fällt Licht, es reflektiert die zartrosa Farbe des Bettzeugs, stellt einen Kontrast mit dem kühlen Violett der Tapete her. Das gesamte Ensemble scheint aus der Zeit gefallen: Die Tapete ist nicht mehr vollständig vorhanden, das Zimmer scheint jahrelang nicht genutzt worden zu sein, seine Wände lösen sich nach allen Seiten hin auf. Und doch scheint das Zimmer jemanden zu erwarten, für den es offenbar vorbereitet wurde: Blumen stehen in der kleinen Vase auf dem Kamin, die Kissen sind frisch. Das Bild strahlt Ambivalenz aus, lässt die Betrachter*in im Ungewissen, baut eine Spannung auf, die jener im Film gleicht: Suspense – die Spannung im Ungewissen des Moments. In diesem Moment fallen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eins, die Zeit scheint aufgehoben und doch präsent; es ist diese Ambivalenz der Zeit, die auch den Raum geheimnisvoll erscheinen lässt.
Derlei heterochronistische Momente sind für die Künstlerin zentral. Aber es geht ihr eben nicht nur darum, die Möglichkeiten des Raumes malend zu erkunden, sondern sie auch für den Dialog mit den Betrachter*innen vorzubereiten. Im sinnlich-visuellen Vokabular des Raumes bereitet Carola Dewor daher bewusst jenen Akt der Imagination vor, den sie auch bei den Rezipient*innen ihrer Kunst auslösen möchte. Sie arbeitet psychologische Momente heraus und verknüpft sie mit existenziellen, kulturellen und historischen Themen. Ihr eigener Blick auf das Bild ist daher ergebnissoffen, legt nicht fest, akzeptiert vielmehr die subjektive Deutung. Zu einer solchen laden auch die Titel der Gemälde explizit ein: Sie deuten, der Renaissancekunst gleich, den narrativen Gehalt an und weisen auf ein Moment des Bildes hin, von dem aus sich die Dynamik in Raum und Zeit entfaltet. Ein paar Beispiele: Das Versprechen(2022), Im Verborgenen (2022), Öffnungen (2022), Wendepunkt (2022), Sonntag (2023) oder Die Nachricht (2022). Letzteres bezeichnet ein 80 x 80 Zentimeter großes Quadrat, auf dem eine einfache Holztischplatte mit einer kleinen Herdplatte angedeutet wird. Auf ihr steht ein türkisfarbener Topf. Licht fällt von links auf die Szenerie, betont seine Farbe und taucht die Wand im Hintergrund in Schattierungen. Neben dem Topf liegt ein Brief, er regt die Fantasie der Malerin wie der Betrachter*in an. Wie lautet seine Nachricht? Was ist geschehen? Das Bild gibt Fragen auf, ohne sie zu beantworten. Es wird narrativ: „Es kommuniziert zurück“, sagt die Malerin.
In Carola Dewors jüngsten Werken deutet sich eine neue Tendenz an: eine stärkere Reduktion zugunsten der Farbe. Nicht nur der Mensch, auch die Gegenstände und Möbelstücke, die auf ihn hingedeutet haben, verschwinden aus den Bildern. Der Raum wird nur noch mit den Mitteln der Malerei, mit Licht und Farbe, gestaltet. Das 130 x 180 Zentimenter große Werk Portal (2022) macht diese Entwicklung deutlich. Es zeigt in Frontalperspektive ein Tor, durch das man imaginativ schreiten kann, um in eine Vorhalle zu gelangen. An deren Ende befinden sich eine Tür und ein Vorhang. Unklar ist, ob die Szenerie real ist oder einem Traum entspringt: Räumliche Erfahrung und imaginative Bewusstseinsmomente greifen ineinander, Raum wird, als physischer und psychischer Ort, zum Sinnbild des menschlichen Transits, des Lebens.
Dennoch: Der statischen Perspektive zum Trotz kommt durch frei angelegte Farbflächen Bewegung ins Bild. Die Fortsetzung des Raumes wird angedeutet: Was mag hinter der Tür sein? Die hellblaue Farbe im Vordergrund signalisiert etwas Einladendes, macht Mut, sich auf das Abenteuer einzulassen. Damit ist Hoffnung als Haltung verbunden: Selbst dort, wo Türen verschlossen zu sein scheinen, lässt sich noch ein Ausweg finden, sagt Carola Dewor. Das Positive entspringt der subjektiven Imagination, gibt ein Gefühl von Freiheit in Aussage und Betrachtung.
Körper und Seele – Hoffnung und Einklang
In dieser künstlerischen Kommunikation hat die im Ruhrgebiet aufgewachsene und in der Meisterklasse von Klaus Fußmann in Berlin ausgebildete Malerin keine direkten Vorbilder, auch wenn ihre Bilder immer wieder mit den Interieurs von Adolph Menzel oder den Stimmungen in Edward Hoppes Bildern verglichen werden. Um zu ihren Sujets, ihrem Lebensthema zu gelangen, legte Carola Dewor eine ganz persönliche Selbstwerdung als Künstlerin zurück. Der Raum und auch die figürliche Darstellung standen zwar am Anfang, ihr Interesse verlagerte sich über mehrere Jahre auf die Entwicklung einer eigenen Auffassung von abstrakter Malerei und konkret räumlicher Gestaltung, bis sie in einem ähnlich langen Prozess zur malerischen Auseinandersetzung mit dem Sichtbaren als Quelle der Inspiration für ihre Bilder zurückfand.
Das große Format, das Carola Dewor in ihrer jüngsten Schaffensphase bevorzugt verwendet hat, dient ihr dazu, auch den Betrachter*innen den Eindruck zu vermitteln, die Bilder physisch zu erleben, dass es nur eines Schrittes bedarf, um vom konkreten Raum in das Bild einzutreten. Es mag aber auch mit der physischen Erfahrung zu tun haben, dass Malerei „Herz, Auge und Hand“ bedarf, um Ausdruckskraft zu entwickeln – ein Zitat, für das Carola Dewor gerne auf David Hockney referiert. Carola Dewor: „Ich glaube, dass Menschen, die Kunst erleben wollen, nicht belehrt, sondern berührt werden wollen. Und ich wünsche mir, dass meine Bilder genau das können!“ Wie sehr diese Vorstellung mit ihrer Auffassung von Raum als innerem, emotionalem Raum übereinstimmt, machen ihre Werke spürbar: Sie laden ein zur Begegnung mit sich selbst, zum Moment des Innehaltens, der in seiner Energie dabei auf die Betrachter*in überfließt.
Carola Dewor hat Kunst geschaffen, die Kraft gibt.
Ausstellungen:
Teilnahme an der Discovery Art Fair in Köln, 20.–23. April 2023
XPost Köln, Gladbacher Wall 5, 50670 Köln