Die Malerin Melanie Richter
Wiedersehen nach mehr als zwei Corona-Jahren. Ausstellungen wurden erst verschoben, dann ganz abgesagt, plötzlich machte auch der noch so auf Distanz angelegte Besuch im Atelier für beide Seiten – Künstlerin und Gast – kaum noch Vergnügen. Und so kommt es, dass jetzt das erste Treffen mit Melanie Richter nach langer Zeit einige überraschende, weil unerwartete Bilder bereithält.
Es beginnt an der Königsallee in Düsseldorf in einer Kanzlei, die zum Zeitpunkt unseres Gesprächs aktuelle Gemälde präsentierte. Melanie Richters öffentliche Ausstellungen finden hingegen derzeit in Südwestdeutschland statt, wo die aus Göppingen stammende, in Düsseldorf ansässige Malerin ein treues fachkundiges Publikum besitzt, etwa in Karlsruhe, wo sie ihre Bilder regelmäßig in der Galerie Knecht und Burster zeigt, oder – ganz aktuell – bei der „Experimentelle[n]“ von Titus Koch im Kloster Bad Schussenried. Und bestimmt liegt die große Aufmerksamkeit dort auch daran, dass ihre Malerei, die so intensiv vorgetragen ist, dabei Farbe als Materie versteht und diese in ihren Möglichkeiten befragt, in Baden-Württemberg auf eine großartige, bis heute fortgesetzte Maltradition trifft.
Oscillare
Die Malerei von Melanie Richter hat sich in den vergangenen Jahren ebenso konsequent wie erstaunlich verändert. Die Farbsubstanz, die als Motiv zuvor betont stofflich vom Farbgrund umfangen wurde und sich zugleich von ihm abhob, besetzt nun ganzflächig das (oft riesengroße) Bildformat: Sie repräsentiert das Sujet. Seit 2018 malt Melanie Richter unter dem Titel Oscillare Meeresflächen, über die der Blick schweift oder die sich vor ihm aufbauen. Sichtlich geht es um die Substanz des Wassers, seine Verfasstheit. Das Klima der Temperierung wechselt und umfasst Gelb- und Violett-Töne – als Reflexion des Morgenhimmels –, neben einem kühlen Blau in Türkis und Kobalt, unterbrochen vom Weiß der Gischt, sogar in ruppig weißen Partien, die sich im Bildformat auftürmen. Gemalt in Acryl auf Hanf-Stoff, zeigen diese Bilder das ganze Repertoire an Zuständlichkeiten des Elementaren. Wie ein Felsgestein stellt sich das Wasser dem Betrachter schroff entgegen als augenblickliches, plötzliches Geschehen. Aufregend ist, wie Melanie Richter das Wasser zusammenballt und aufrichtet und mit ihm dann in Ruhephasen wechselt, die doch die Geschwindigkeit des Fließens vermitteln, und dabei zugleich auf ein Leitthema ihrer Kunst seit drei Jahrzehnten zurückkommt: die Malerei als repräsentierendes Phänomen zwischen Präsenz, Verdichtung und Auflösung. Mit ihrer Darstellung von Wasser schließt sie nebenbei an die Kunstgeschichte an und erobert gleichzeitig eine zeitgenössische Freiheit des Sehens mit der überantworteten Vorstellung, wie konkret oder abstrakt man das Geschehen versteht und wie fest oder liquid es empfindet. Die Brandung tritt als sinnliches Ereignis zu verschiedenen Witterungen und Tageszeiten vor Augen, und bei all dem findet ein Zelebrieren der Farbe mit ihrer Leuchtkraft statt.
Malerei bleibt – durchgehend im Werk von Melanie Richter – Experiment. Die Farbe besitzt etwas Zuständliches, Prozesshaftes. Kühn ist die Wahl der Sujets, wechselnd zwischen Banalität und Sublimem, Handfestem und Ungreifbarem, dem Melanie Richter mit ihren Verfahren und in der Ausschließlichkeit der Motive auf der Spur ist: derart, dass sie Fragen stellt, aber die erschöpfende Erklärung vermeidet. Nachdenklichkeit und ein Einlassen auf den Zufall beim Rückfluss der Farbe sind Teil ihrer Malerei, die in Werkgruppen verschiedene Strategien erprobt. Eigentlich überrascht nicht, dass sie an der Kunstakademie Düsseldorf bei Dieter Krieg studiert hat. Krieg (1937–2005), der seine künstlerischen Wurzeln in Baden-Württemberg hatte, dort zunächst als Vertreter der Neuen Figuration bekannt wurde und später zur documenta und zur Biennale Venedig eingeladen wurde, hat in seinem Hauptwerk Malereien geschaffen, deren Motive denkbar lapidar und aufreizend uninteressant sind, aber unangenehm sperrig – auf riesigen Formaten, pastos und teils sogar mit Stücken von Acrylglasscheiben versehen – auftreten. Aber was aus der Nähe als expressiv abstrakte, massige Malerei überwältigt, erweist sich mit Abstand als genau kalkulierter und, unterstützt von hauchfeinen gesprühten Schichten, räumlich empfundener und mit Schatten unterstützter Realismus.
Aus Kriegs Malklasse an der Kunstakademie Düsseldorf sind heute so wichtige Künstler*innen wie Tatjana Doll, Sophie von Hellermann, Sven Kroner, Andrea Lehmann, Simone Lucas, Cornelius Völker und eben Melanie Richter hervorgegangen. Und sie gehört zu denjenigen, die sich intensiv der Farbe in ihrer Substanz und ihrer Durchdringung mit der Leinwand zugewandt haben. Ihre Fragestellungen und Vorgehensweisen ziehen sich durch ihr gesamtes Werk. Das gilt schon für die Werkgruppe der Singles, die ab 1996, zum Ende ihres Studiums einsetzt. Die Singles zeigen vor einem hellen, grau-braun-weißen Farbkontinuum eine halbabstrakte, blockhaft gefügte Gestalt in Menschengröße, erkennbar an ihren Gliedern. Dargestellt sind Autofahrer, und vor diesen hat sich frontal ein Airbag ausgebreitet, der sich infolge eines Aufpralls geöffnet hat. Melanie Richter setzt ein weiches, milchig transparentes, im Lichten entstofflichtes Volumen gegen die steife Kantigkeit des Körpers, der regelrecht zurückgestoßen wirkt. Ein ähnliches Einfrieren der Verformung rekapituliert Melanie Richter zeitgleich bei der Werkgruppe Opfer (1996–98), bei der sie zu derartigen Effekten unter anderem mit Ölfarbe auf einer dünnen Kunststofffläche (Polystyrol) gelangt, auf der die Farbe zu schwimmen scheint, mit dem Rakel beiseitegeschoben und so als Form umrissen ist: ein „formulierendes Wegnehmen“ hat Helmut Müller zu diesen Bildern geschrieben (Kat. Hospitalhof Stuttgart 2001, S. 29), die ebenfalls Folgen plötzlicher destruktiver Ereignisse sind: Umfangen von einem Farbgrund, zentriert in den Hochformaten, handelt es sich um überfahrene Kleintiere, um Hamster oder Hasen. In der Art der Darstellung werden sie zu Porträts, Erinnerungen für die Ewigkeit und damit, als Reihe, zum Äquivalent einer Ahnengalerie.
Mit Wachs
In den weiß durchfluteten Partien im Bildgrund, die auch als konturierende Negativform wirken, deutet sich bereits ein Konzept an, für das Melanie Richter von 1999 an eine eigene Technik entwickelt hat, erstmalig bei der Bildfolge Schnee: Sie verwendet farblos-weißes Stearin als Ausgangspunkt. Sie trägt das Industriewachs auf die Leinwand auf (die durchlässig oder glatt und verschlossen sein kann), lässt es frei fließen, schiebt es wieder zusammen, so dass sich amorphe Formen ergeben, lässt aber auch den Zufall zu, schon indem sich die Spritzer über der Fläche verteilen. Nach dem Erkalten des Wachses setzt sie die buntfarbige Malerei in großzügigem Schwung darüber. Anschließend erhitzt sie die Leinwand punktuell auf der Rückseite, so dass sich das Wachs mit den darüber liegenden Farbschichten löst und herausbricht: Es entstehen leere Inseln, die einen milchigen Ton bewahren und noch teils wie eine Aureole um die Motive liegen oder als Schatten von einem vergangenen Ereignis berichten, dabei mehr ahnbar und kaum greifbar sind. Beim Schnee tritt das Wachs wie Schneeschmelze inmitten von grüner Natur auf. Melanie Richter hat dieses Verfahren über die Jahre entsprechend der Thematik variiert, teils aber auch darauf verzichtet.
Bei der Gruppe Spacebaby (ab 2003) spielt das Wachs in seinem unfassbaren Charakter mit der Darstellung des Körpers im schwerelosen Raum zusammen. Das Stearin bleibt als Kontur der Figur stehen. Die Astronauten sind hervorgehoben und lösen sich geradezu vom Bildgrund. Sie sind isoliert und haltlos. Eingefangen in einen verschließenden und verbergenden Anzug befinden sie sich geradezu im Fall ins Nichts. Ein Auslöser war das Auseinanderbrechen des Space Shuttle „Columbia“, bei dem die Crew verglüht ist, im Februar 2003: Auf ihre Vornamen beziehen sich die Titel dieser Werkgruppe. Einige Jahre später ist eine Folge von Malereien in Acryl auf großformatigen Papieren entstanden, bei denen die Figuren heraldisch im Format stehen und die Konturen rein zeichnerisch ausgespart bleiben: Breakout XL3 (2008). Sie verweisen auf den gleichnamigen General-Schutzanzug, der zu Gift- und Vireneinsätzen auf der Erde verwendet wird und in ihrer Malerei nun folglich aufrecht im Hochformat platziert ist. Melanie Richter arbeitet bei allen diesen Werkgruppen mit Astronauten (und Kosmonauten und Thaikonauten) im Universum auf die Individualität der Figuren hin. Im stereotypen Raumanzug mit dem anonymisierenden Helm unterscheiden sie sich in der Farbe des Anzugs, in der Körperhaltung der weichen Form im schwerelosen Raum – die noch an Putti erinnern – und teils dem zuordnenden Namen im Titel. Aber es sind nicht allein die Figuren, denen Richters Aufmerksamkeit gilt, sondern auch die unbekannte Weite, in der Sterne, Sternenstaub und Weltraumschrott in unabsehbarer Ferne flackern, mitsamt der Erkenntnis, dass der Weltraum gar nicht schwarz, sondern von Licht und Farben erfüllt ist. So handeln diese Bilder von der Orientierung im Unbekanntem, von einer Zeit- und Ortlosigkeit, in der die Anwesenheit des Menschen im Bildformat als Maß dient und doch, trotz aller Fortschrittlichkeit und Erfindungskraft, unsere Kleinheit in der Schöpfung demonstriert.
Im freien Raum
Im Wissen um all das überrascht es eigentlich nicht, dass Melanie Richter auch Kandelaber und Kerzenleuchter (ab 2010) gemalt hat. Sie sind häufig überdimensional, teils riesig vor einem überwiegend grünlichen, unruhig flackernden Hintergrund. In diesem verhält sich die starre Konstruktion beweglich, mitunter nach vorne kippend, frei stehend oder schwebend und immens plastisch auf mehreren, von den unscharfen und weichen Kerzen definierten Raumebenen. Das Stearin als Arbeitsmittel ist hier buchstäblich verstanden: Wachs ist Wachs. Das Leuchten wird im sich verflüssigenden Wachs mit seinen Lichttropfen unterstützt, das auf den metallischen Trägern reflektiert, stellenweise wie ein Wasserfall sprudelt, und natürlich kommen alle dieser Lichter ohne Flammen aus. Im Gegensatz zu den Spacebabys besetzen die Kerzenleuchter die ganze Bildfläche. Im evozierten Abbrennen und mit ihrer weiten Metaphorik repräsentieren sie nun ganz direkt Vergänglichkeit.
Zeitgleich entstehen Gefäße, besonders Gläser, Kelche und Flaschen, die zunächst stabil das Bildformat, auch zu mehreren, besetzen und dann wie im Weltraum trudeln, sich aber auch im weißen Wachs auflösen und auseinanderbrechen oder wie vor der Formwerdung aufscheinen. Dann wieder äußern sich Stofflichkeit und Volumen in der festen, harten Materialität – der im Übrigen, in der Produktion, das Schmelzen und Erkalten zugrundeliegt –, brillant umgesetzt mit der Konzeption der Durchsichtigkeit und der räumlichen Wölbung mit der Stiftung von Volumen, die den umgebenden, mithin neutralen Raum weiter konturiert.
Ausgehend von der Darstellung der Weltkugel mit ihren Wasser- und Landflächen im Universum – gesehen wie mit den Augen eines Astronauten – folgen in Melanie Richters Werk später noch Kometen und Meteoriten, plastisch skulptural und nunmehr schillernd in vielen Farben. Diese Zeugnisse und Überbleibsel anderer Welten verweisen genauso wie der Bezug auf die Weltraumfahrt und die Referenz der Katastrophen über die künstlerischen Fragen hinaus auf philosophisch existentielle und gesellschaftskritische Themen, die das Verhältnis der Natur zur Technik und ökologische Aspekte betreffen, das betrifft ja auch den Blick auf die Erdkugel selbst und die ausschließliche Hinwendung auf Wasser als lebensnotwendiges Gut, das aber auch so zerstörerisch auftreten kann und Indikator für die Erderwärmung ist.
Dann, im Atelier in Neuss, auf der anderen Rheinseite, direkt hinterm Hautbahnhof, wo Melanie Richter seit genau zwanzig Jahren arbeitet, hat sie die allerneuesten Bilder vorbereitet. In ihnen fokussiert die Perspektive die Erde: erfasst als Landzungen, umfangen vom Wasser, dessen Spiegel gesunken ist. Teils verbleibt die Struktur der Natur in der Andeutung, teils aber ist die Szenerie wiedererkennbar, konkretisiert durch einen Baum etwa, der einen Schatten wirft. Wie schon bei Oscillare sind diese jüngsten Darstellungen rein als Farbmalerei, also ohne Wachsgrund, entstanden … Das Atelier – weitläufig auf einer ganzen Etage, aber durch die verschiedenen Arbeitsstellen gegliedert – ist hier zugleich Labor, Werkstatt zum Experimentieren mit den Pigmenten und mit dem Wachs. Die Bilder entstehen parallel, schon durch die Trockenphasen. Die großen Formate erfordern den Abstand beim Sehen und Überprüfen, immer wieder aufs neue. Melanie Richter läuft hin und her, wägt ab, blättert in den Bildern, die übereinander lehnen, holt eines hervor, das sie schon lange nicht mehr betrachtet hat, stellt es an die Seite – und so sehr etwa die Oscillare-Gemälde wie aus einem Guss wirken, schnell gewonnen ist hier nichts. Malerei bedeutet immer auch Geduld und das Zulassen von Zeit: kritisch gegenüber den Ereignissen in der Gesellschaft, aufmerksam gegenüber den Neuigkeiten im eigenen Werk und abwartend gegenüber deren Umsetzung.
Ausstellung:
bis 4. Februar 2023: Melanie Richter. Tempo ceroso.
Ort: Maxhaus, Schulstraße 11, 40213 Düsseldorf, Tel. +49-(0)211-9010252, www.maxhaus.de
Öffnungszeiten: Di.-Fr. 11.00 bis 18.00 Uhr, Sa. 11.00 bis 17.00 Uhr