Alfonso Mannellas Metropolen
Spricht Alfonso Mannella (*1965) über seine Städtereisen nach New York City oder Chicago, seine Ausflüge in das Frankfurter Atelier oder den nächsten Venedig-Aufenthalt, strahlt sein ganzes Gesicht. Die (Groß-)Stadt als sozialer wie architektonischer Raum sowie urbaner Sehnsuchtsort ist das zentrale Element seiner künstlerischen Tätigkeit. Seine davon inspirierten Arbeiten sind emotionaler und subjektiver Reisebericht der Energie, des Wandels und der Alltagsschönheit, die er dort erlebt.
Ein bereits mehrfach besuchtes Reiseziel und vielleicht Erweckungsort seines aktuell verwendeten Form- und Farbrepertoires ist New York City, wo seine Wünsche um Vielfalt, Toleranz und eine sich stets weiterentwickelnde Kulturszene wie in wenigen anderen Städten (bereits) derart allumgebend sind. Lebhaft, farbenfroh, fast reizüberflutend zeigt sich die Weltstadt mit ihren berühmten öffentlichen Plätzen in seinen Ölmalereien und Grafiken, und lässt Betrachter*innen in die Lebenswelten der pulsierenden Metropole eintauchen. So ziehen die das Stadtbild prägenden gelben Taxis auf dem Malgrund scheinbar ihre Runden, während rasch angedeutete Passant*innen hastigen Schrittes das Blickfeld durchqueren und Baukräne auf den andauernden Bauwandel der Stadt hinweisen. Durchzogen vom expressiven Einsatz schwarzer, konturierender Farbe, bannt Mannella die schreiend bunten Eindrücke und Farbfelder zu einer großstädtischen Form – und das, ohne das bunte Treiben einzuengen oder der Ansicht das metropolitische Gefühl zu entreißen.
Es ist ein Spektakel, dem die Betrachter*innen beiwohnen, ein Spektakel, das sie erst durch Mannellas Blick auf die Stadt erleben können, der die Ansichten aus einem fahrenden Bus heraus oder in einem Café auf die Straße blickend aufgesogen hatte – stets mit dem Skizzenbuch oder Fotoapparat als Gedächtnisstütze ausgerüstet. Die Motive, die, wie auch in seinen zumeist aquarellierten Ansichten Venedigs, der reinen Freude an der Farbe und Lebendigkeit gewidmet sind, verbleiben dabei gänzlich unbehaftet von sozialkritischen Forderungen und erscheinen demnach fast als eine Form des „l’art pour l’art“ im besten Sinne: Es sind Auf- oder Ansichten eines Treibens, das parallel zur eigenen Aktivität verläuft und unabhängig der eigenen Person. Und obwohl sein Blick aus einer ausschließlich beobachtenden Distanz auf das Geschehen gerichtet ist, sind Puls und Rhythmus der Stadt weiterhin spürbar, ziehen in den Bann und evozieren trotz – oder gerade wegen – ihrer aufbrausenden Farbigkeit, zeitgleich eine Form der Wehmüdigkeit über den rasch vorübergehenden Moment, der augenblicklich bezeugt wird.
Szenenwechsel: Furchen, Schrammen, schnelle Hiebe und starke Konturen nehmen das Bildfeld der Grafiken über und über in ihren Besitz. Das dichte Schwarz der sich überschneidenden und überlagernden Schraffuren entreißen dem Blick die Perspektive, erschweren die Verortung in ihrem schier unüberschaubaren Konstrukt, lediglich durchbrochen von rettenden hellen Freiflächen, die dem nach Orientierung suchenden Blick zur Pause verhelfen. Wie aus einem Kokon heraus gewähren die Radierungen Mannellas eine andere Perspektive auf die Großstadt – erneut New York City. Nicht die prominente Skyline oder der Trubel der Straßen zeichnen das Bild der Stadt, die niemals schläft, sondern die ebenso wohlbekannten Feuerleitern, die an den Außenfassaden der frühen New Yorker Backsteinbauten montiert sind.
Zuerst aufkommend im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Vierteln wie der Lower East Side oder dem Greenwich Village, kontrastieren die vorgelagerten Leitern der Backsteinfassaden als eine bauliche Sicherheitsmaßnahme mit ästhetischer Wirkkraft. Denn so prominent die Feuerleiter nun das Stadtbild prägt, desto schillernder wird sie seitdem medial verbreitet: Ob bei einer wilden Verfolgungsjagd über die Dächer und Straßen der Stadt oder einem romantischen Chanson im Mondschein – die ikonischen Feuerleitern entwickelten sich zu einer subversiven, ästhetischen Projektionsfläche einer Stadt, in der alles möglich zu sein scheint. Mannella kombiniert in seinen Werken unterschiedliche Ansichten dieser Konstruktionen aus Stahl und lenkt damit den Blick der Betrachter*innen weg von den touristischen Straßenszenen des „Big Apple“ und hin zu den architektonischen Reminiszenzen des Industrialismus. Er zeigt in seinen Radierungen mehr Einkehr und Einsicht in die Architektur der Stadt, ganz als ob man Teil eines intimen Zwiegesprächs der menschenleeren Feuerleitern werden könnte – ein stiller Dialog über eine Stadt im Wandel der Zeit.
Architektonische Formen und der Blick auf das vom Menschen industriell Geschaffene sind Ästhetiken und Interessensfelder, die Mannella bereits seit seinem Studium beschäftigen. Ein kooperatives Projekt des Fachbereichs Bildende Kunst der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Ruhr-Universität Bochum formierte sich 1992 zu dem „Bochum-Projekt“, in welchem die Studierenden der jeweiligen Fachbereiche die Industrielandschaft des Bochumer Umlands künstlerisch inszenierten. Ausstellungen in der Jahrhunderthalle Bochum, dem Frankfurter Hof in Mainz und der Kunsthalle Darmstadt rückten die jungen künstlerischen Perspektiven in den musealen Kontext. Alfonso Mannella war einer dieser Studierenden und entdeckte das per se mechanische und auf Effizienz konzipierte Formenkonstrukt der Industriearchitektur mit den Mitteln des althergebrachten Druckverfahrens der Kaltnadelradierung. Und doch könnte Mannellas stilistischer Umgang mit der Kupferplatte nicht unterschiedlicher sein im Gegensatz zu historischen Kupferstechern wie beispielsweise Albrecht Altdorfer, der die Landschaft der Natur detailliert wiederzugeben vermochte – man mag, wenn überhaupt, Brücken zum italienischen Künstler Giovanni Battista Piranesi und seinen labyrinthischen Stichen der „Carceri d’Invenzione“ schlagen.
Mannella arbeitet und bearbeitet den metallenen Druckstock energetisch und mit körperlichem Einsatz in der Technik der Kaltnadelradierung. Er schraffiert, durchdringt und durchsetzt die Platte Stück für Stück und Schramme um Schramme mit dem zu den industriellen Motiven passendem Werkzeug: dem Winkelschleifer und der Bohrmaschine. In schnellen Bewegungen, gleich wie den Pinselstrichen seiner Ölmalereien, strukturiert er die metallene Oberfläche, gibt ihr Ecken und Kanten und Furchen, die das Stahlskelett der Architektur wiederholen. Es entstehen haptisch begreifbare Oberflächen, die aufgrund des Tiefdruckverfahrens ebenfalls auf den weißen Papierträger gebannt werden. Ein zweiter Druck mit auf den Fingern aufgetragener Ölfarbe versetzt die Kulisse mit Leben, akzentuiert und wiederholt mit malerischen Mitteln das tiefschwarze Dickicht der geschliffenen, dann gedruckten, Stahlträgern. Als „emotionale Eintrittskarte ins Bild“ begreift Mannella ebenjene Farbflächen, als „Zufluchtsort, wenn das Schwarz überbordend wird“ und als „Ausblick in eine andere Welt“, die es den Betrachter*innen ermöglichen, sich neu zu ordnen und zu orientieren. Doch sind sie vielleicht nicht nur das, sondern auch Kommentar des Künstlers inmitten dem sonst so industriellen Geflecht des wiedergegebenen Stahls. Es sind von Mannella vorgegebene Fixpunkte, die zwar durch ihre Farbigkeit und Fröhlichkeit im Kontrast zum massiven Schwarz gefallen, mit welchen der Künstler jedoch gleichzeitig dezidiert die antagonistische Haltung zu den industriellen Stahlträgern einnimmt und zum Druckverfahren selbst, da durch die manuellen Eingriffe nun eher Unikate denn Auflagendrucke entstehen. Er führt damit ein Vexierspiel zwischen formal zurückgenommener Rettungsarchitektur und gänzlich eigenständig, flirrenden Farbfeldern ein und lässt sie in einen spannungsvollen Dialog treten. Es ist ein Gespräch innerhalb wie außerhalb der Bildfläche, denn es ist die „Begegnung mit anderen Menschen, anderen Denk-, Lebens- und Gestaltungskonzepten“, die ihn inspiriert und sich in seiner Kunst verbindet. Er erinnert dabei dezidiert an niemand geringeren als Vincent van Gogh, der Kunst als Leben bezeichnete.
Streift Alfonso Mannella durch eine neue Stadt, richtet er den Blick auf Formen der „Wahrheit“. Er achtet auf Farben, den Lichteinfall, die Fassaden der Häuser und die Konstruktionen dahinter, und generiert bei diesen Streifzügen eine Form des ersten Eindrucks – „Schönheit ist Echtheit“, wie er erklärt. Es wäre einfach, seine Aussagen als Plattitüden zu kennzeichnen, als Blick eines touristischen Träumers und beobachtenden Reisenden – aber was wäre, wenn man sich einfach auf dieses Gefühl einlassen würde? Die Stadt wahrnehmen als Spektakel der Formen, Farben, Perspektivwechsel und Geschichte, zwischen Wachstum und Zerfall. Als etwas, das nicht nur alltäglich ist, sondern uns täglich prägt und in der wir unsere eigene Prägung hinterlassen. Es sind Prägungen, die weit über den Augenblick des Jetzt gehen und uns überdauern, sodass das Selbst nur kurz als Zeug*in eines Zwischenstadiums verweilen kann, während die Stadt fortlebt. Mannella lädt uns zu diesem Perspektivwechsel ein, nimmt uns begeistert mit auf seine Reise ins Café der Großstadt und der Erkenntnissuche nach einer Form der Zeitzeugenschaft. Wir flüchten mit ihm in das Dickicht der Feuerleitern, flanieren durch die Gassen Venedigs und erhaschen seinen Blick auf den pulsierenden, facettenreichen und sich stets wandelnden, urbanen Raum.
Ein Kompliment zu Ihrem Alfonso Mannellam-Beitrag!
Es ist eine WOHLTAT, dass sprachlich auch die weiblichen Betrachtenden durch die moderne Schreibweise benannt sind. Nur dadurch hab ich den Beitrag in Ruhe wirklich lesen mögen.
Deshalb mache ich mir den Aufwand einer Rückmeldung. b.k.