Zwei Ausstellungen in Brüssel feiern den 100. Geburtstag des Surrealismus
Im Jahr 1924 veröffentlichte André Breton in Paris das „Manifeste du Surréalisme“. Die Geburtsstunde einer Bewegung, die weit über Frankreich hinauswirkte, die kosmopolitisch war. So macht es Sinn, dass Belgien, Heimatland von René Magritte, beim Surrealismus-Jubiläum Flagge zeigt.
Jeder, der sich mit moderner Kunst beschäftigt, begegnet über kurz oder lang einem Gemälde, das eine Pfeife zeigt und darunter den Schriftzug „Ceci n’est pas une pipe“. Die Moral des Bildes: Die Darstellung einer Pfeife, und sei sie noch so trügerisch echt wiedergegeben, darf nicht mit dem Gegenstand selbst verwechselt werden: eigentlich eine Banalität – dennoch ignorieren wir den Unterschied in der Regel. Unbewusst billigen wir dem Bild einen Status zu, den es nicht besitzt.
Diese Eigenheit unseres Erkenntnisapparats enthüllte René Magritte 1929 mit seinem Werk La trahison des images (Der Verrat der Bilder). Die paradoxe Pfeife des Belgiers hat nicht bloß zahlreiche Deutungen erfahren – so sah der Philosoph Michel Foucault darin einen Appell, der uns zwinge, darüber nachzudenken, was eigentlich überhaupt unter der Realität eines Gegenstandes zu verstehen sei. Das Poster-Motiv ist zugleich eines der populärsten Werke des Surrealismus, der in diesem Jahr das 100. Jubiläum feiern kann. Magrittes Pfeife ist nur fünf Jahre jünger.
Vom Dadaismus zum Surrealismus
Die Geburtsstunde der Bewegung, die aus dem Dadaismus hervorging, schlug 1924 in Paris, wo der Dichter André Breton, Kopf des Ganzen, sein erstes „Manifeste du Surréalisme“ in Umlauf brachte. Zunächst hauptsächlich eine literarische Vereinigung, gesellten sich bildende Künstler rasch hinzu, unter ihnen Max Ernst, Salvador Dalí, Hans Bellmer, Man Ray, Yves Tanguy und eben René Magritte. Freilich ist der Begriff „Künstlergruppe“ hier eigentlich fehl am Platz. Weder zeichnen sich die Surrealisten durch einen einheitlichen Stil aus noch durch eine kongruente Bildwelt. Das Einzige, was die Literaten, Maler, Bildhauer, Fotografen und Filmemacher verband, war ihre Überzeugung, dass sämtliche Werte der bürgerlichen Gesellschaft in den Orkus der Anarchie gehörten.
Wie Max Ernst den Surrealismus definierte: „Die systematische Ausbeutung des zufälligen oder künstlich provozierten Zusammentreffens von zwei oder mehr wesensfremden Realitäten auf einer augenscheinlich dazu ungeeigneten Ebene – und der Funke Poesie, welcher bei der Anhörung dieser Realitäten überspringt.“
An die Stelle der Welt, wie sie uns im Alltag begegnet, setzte „la Révolution surréaliste“ (so hieß das Zentralorgan der Gruppe) eine „Wirklichkeit über der Wirklichkeit“. Das Unbewusste, der Traum und der Zufall, kurzum: der mit Bedacht herbeigeführte Kontrollverlust gab hier den Ton an.
Belgien geht voran
Originelle Strategien, die kaum Patina angesetzt und doch schon ein ganzes Jahrhundert auf dem Buckel haben. Erster Schauplatz der Jubiläumsaktivitäten ist eigenartigerweise nicht Frankreich, das Mutterland des Surrealismus, sondern Belgien – dank zentraler Figuren wie Magritte oder Paul Nougé, Mastermind der belgischen Surrealisten, weitaus mehr als ein Außenposten.
Stand die Brüsseler Kunstmesse BRAFA bereits im Zeichen des Surrealismus-Jubiläums – unter anderem mit Werken von Magritte, Paul Delvaux oder Salvador Dalí –, so wird die zentrale Jubiläumsausstellung bis Juli in den Königlichen Museen der Schönen Künste Belgiens (RMFAB) präsentiert. Im Anschluss ist „Imagine! 100 Jahre internationaler Surrealismus“ in abgewandelter Form in Paris, Madrid, Hamburg und Philadelphia zu sehen. Weil der RMFAB-Koloss an der Rue de la Régence unter anderem das Magritte-Museum beherbergt, hat der Surrealismus hier ohnehin ein permanentes Heimspiel.
Für das Konzept der Brüsseler Premiere zeichnet Francisca Vandepitte verantwortlich. Die mit 140 Exponaten bestückte Schau spannt den surrealistischen Bogen weiter, als dies herkömmlicherweise geschieht. Der Grund: „Imagine!“ bindet den belgischen Symbolismus des späten 19. Jahrhunderts ein, der in der Tat in vielem auf das vorausweist, was die Surrealisten Jahrzehnte später praktizierten. Wie jene hatten die Symbolisten – beispielsweise James Ensor, Fernand Khnopff, Felicien Rops oder Leon Spilliaert – ein Faible für das Absurde, Irrationale und Wunderbare, für Traum und Unbewusstes.
Wunderland mit zwölf Stationen
In Brüssel hat Francisca Vandepitte eine Reise durchs surrealistische Wunderland arrangiert, die von zwölf thematischen Stationen gegliedert wird. Unvermeidlich, wenn es um den Surrealismus geht, die Sektion „Labyrinth“. „Minotaure“, so hieß ein von Breton herausgegebenes Magazin, das 1933 bis 1939 erschien. Das in einem Labyrinth hausende mythologische Monster, dessen menschlicher Körper von einem Stierkopf bekrönt wird, war ein Mischwesen so recht nach dem Geschmack der Surrealisten. Max Ernst, Dalí, Magritte, Miró und Masson, nicht zu vergessen Picasso (der es freilich bei einem surrealistischen Seitensprung bewenden ließ), sie alle haben den Minotaurus dargestellt. So wurde er beinahe ein Wappentier des Surrealismus.
Weitere Leitmotive der Ausstellung sind die Nacht und der Wald (dem Max Ernst mit seinen Frottagen ganz neue Facetten abgewann). Zu den Angelpunkten gehören außerdem Metamorphosen und Mythen, Träume und Wahnvorstellungen sowie „Die Tränen des Eros“ – Randbezirke der Erotik, wo Fetischistisches, Bizarres und Obszönes hemmungslos wuchern, begrüßten die Surrealisten als Tummelplatz der Grenzüberschreitung.
Kosmopolitischer Zuschnitt
„Imagine! 100 Jahre internationaler Surrealismus“, der Titel der Ausstellung deutet den kosmopolitischen Zuschnitt der Bewegung schon an. In der Tat kamen die Surrealisten beinahe aus aller Herren (und Damen) Länder: Die Liste umfasst Belgien, Chile, Frankreich, Italien, Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Mexiko, Ungarn, Rumänien, die Schweiz, Spanien und die USA. Auf einer Weltkarte des Surrealismus steckten viele kleine Fähnchen.
Vorläufer und Idol der Surrealisten war der um eine Generation ältere Giorgio de Chirico. Sein Frühwerk, die „Pittura metafisica“, in der eine traumähnliche urbane Kulissenwelt Gestalt annimmt, galt der Bewegung als Katechismus. Als sich de Chirico jedoch um 1930 von dieser „metaphysischen Malerei“ abwandte, um Neues zu erproben, fiel er bei André Breton prompt in Ungnade. Keine Seltenheit: Der „Papst des Surrealismus“, wie er bereits 1924 genannt wurde, fackelte nicht lange mit der Exkommunikation, wenn einer der Künstler vom offiziellen surrealistischen Kurs abwich.
Kurios in diesem Zusammenhang, dass Breton vorübergehend sogar ein eigenes Büro mit täglichen Öffnungszeiten aufmachte, um den Surrealismus zu institutionalisieren und Neugierige für dessen skurrile Ideenwelt zu interessieren. Doch schon im April 1925 wurde das „Bureau de recherches surréalistes“ wieder geschlossen – Bürokratie und Freiheit der Kunst ließen sich auf Dauer nicht auf einen Nenner bringen.
Max Ernst, der Pionier
Max Ernst, Mitstreiter der ersten Stunde, blieb übrigens von André Bretons disziplinarischen Maßnahmen unbehelligt. Vielleicht, weil der Rheinländer (1891–1976) die herausragende Künstlerpersönlichkeit innerhalb des Zirkels war. 1919 macht er als einer der Mitbegründer der Kölner Dada-Gruppe erstmals von sich reden. Drei Jahre später übersiedelte er nach Paris. Den surrealistischen Spirit verkörperte er wie kein zweiter bildender Künstler. „Max Ernst“, erklärte Breton, „war der Erste, der das Neue erscheinen ließ und der in seinen frühen Bildern das große Abenteuer auf sich nahm.“
Mit seiner Durchreibe-Technik der Frottage – einer Entsprechung zur Surrealisten-Methode der „écriture automatique“, des automatischen Schreibens – begab er sich auf eine Suche nach der „Malerei jenseits der Malerei“. Und wurde fündig. Auch die anderen Bildtechniken, die er erprobte, beispielsweise die Grattage oder das Drip Painting, dienten dazu, die Kontrolle beim Malen auszuschalten und dem Zufall Raum zu geben. Gleichwohl gewinnt man beim Betrachten seiner Werke den Eindruck, dass der Künstler das Heft des Malens stets in der Hand behielt. In der „Imagine!“-Ausstellung zeugen davon unter anderem die beiden Hauptwerke Der Hausengel (1937) und Die Einkleidung der Braut (1940).
Maltechnisch konnte Salvador Dalí (1904–1989), der spanische Exzentriker, dem Deutschen durchaus das Wasser halten; doch haftet seinen weichgekochten Bohnen, zerfließenden Uhren und brennenden Giraffen der Hautgout von vordergründiger Sensationslust an, von Virtuosität um der Virtuosität willen. Gleichwohl zählt sein in Brüssel zu sehendes Werk Weiche Konstruktion mit gekochten Bohnen – Vorahnung des Bürgerkriegs von 1936 zu den beeindruckendsten Exponaten der Ausstellung. In dem Horrorbild beschwört Dalí das Unheil durch einen monströs deformierten Riesenkörper, der vor niedrigem Horizont wie ein Menetekel des Grauens aufragt.
Nichts zu lachen, viel zu sehen
Auf Werke von Max Ernst und Salvador Dali trifft man auch in der flankierenden Surrealismus-Ausstellung, die im nahegelegenen Palais des Beaux-Arts de Bruxelles, kurz BOZAR, gezeigt wird. Wer beide Präsentationen besuchen will, ist mit einem Gemeinschaftsticket (29 Euro) gut bedient. Im Zentrum der umfangreichen BOZAR-Schau steht allerdings der belgische Surrealismus, der eine solche Hommage allemal verdient hat. „Histoire de ne pas rire“, diesen kryptischen Titel hat der Kurator Xavier Canonne gewählt. Nichts zu lachen und das auch noch im Historienformat?
Die Irritation klärt sich, sobald man erfährt, dass es sich um den Titel einer Publikation von Paul Nougé handelt. War Breton Anführer und Zuchtmeister der Surrealismus-Bastion Paris, so gab der Brüsseler Dichter (1895–1967) in Belgien die maßgeblichen Impulse. Anders als Breton spielte er sich jedoch nicht in den Vordergrund. Zudem waren Nougé inquisitorische Neigungen gänzlich fremd.
Doppelgänger im Frack
Parallel zu den Ereignissen in Paris scharte Paul Nougé in Brüssel eine Gruppe von Schriftstellern und Künstlern um sich – die Keimzelle des belgischen Surrealismus. Camille Goemans, Marcel Lecomte, E. L. T. Mesens oder Louis Scutenaire gehörten dazu. Und natürlich René Magritte, das Aushängeschild des belgischen Surrealismus. In der BOZAR-Ausstellung gibt es ein schönes Nougé-Porträt, das Magritte 1927 gemalt hat. Der Freund, gekleidet im eleganten Frack, ist hier als mondäne Erscheinung in Szene gesetzt. Und zwar doppelt, in zwei nahezu identischen Versionen. Irritierend. Noch rätselhafter ist das Fragment einer Tür, eine Art Laubsäge-Arbeit, die als Barriere zwischen die Doppelgänger tritt.
Mehr als 260 Kunstwerke und rund 100 Zeitdokumente hat der BOZAR-Kurator Xavier Canonne im Art-déco-Bau von Victor Horta versammelt. Gewöhnungsbedürftig indes die Inszenierung: Als Anspielung auf Magrittes Balanceakte zwischen Bildern und Begriffen verbannte Canonne die Kunstwerke auf Stellwände, während die Wände erläuternden Texten und Zitaten vorbehalten bleiben. Nichts gegen Erläuterungen in einer Ausstellung, aber das ist zu viel der Ehre für das Geschriebene. Das Motto einer Salieri-Oper kommt einem in den Sinn: „Prima la musica, poi le parole“.
Belgische Surrealistinnen im Brennpunkt
Die opulente Auswahl geht den internationalen Verzweigungen des Surrealismus nach und schenkt den – mit Ausnahme von Frida Kahlo – lange vernachlässigten Künstlerinnen der Bewegung gebührende Aufmerksamkeit. Das gilt im Besonderen für die beiden wichtigsten belgischen Surrealistinnen, Jane Graverol und Rachel Baes. Graverol (1905–1984) platziert eine „befreite Frau“ in einem Käfig, dessen Tür zwar offensteht, gleichwohl ein Entkommen nicht erlaubt, weil das Gestell in der Luft schwebt und wie eine Laterne vom oberen Bildrand herabbaumelt.
Ihr 1964 datiertes Gruppenbild Der Wassertropfen, eine Anspielung auf das Selbstporträt im konvexen Spiegel des italienischen Manieristen Parmigianino, vereint die wichtigsten Brüsseler Surrealisten. Ein Jahr zuvor, 1963, malte Rachel Baes (1912–1983) Die Philosophiestunde: Ein Mädchen, am äußersten Rand einer steilen Klippe stehend, dem Abgrund den Rücken zugewandt, ist in ein Buch vertieft. Ein Nachtstück, in dem Todesgefahr und Leichtigkeit des Lesens eine eigenartige Kombination eingehen.
Obwohl „Histoire de ne pas rire“ das Schaffen von drei Generationen ausbreitet, stehen die Werke des bekanntesten belgischen Surrealisten einmal mehr im Rampenlicht. An Magritte (1898–1967) führt im BOZAR kein Weg vorbei. Dem jungen Künstler, der seit 1923 als Plakat- und Werbezeichner arbeitete, wurde 1925 die Begegnung mit Giorgio De Chiricos Lied der Liebe zum Erweckungserlebnis. Trotz seiner Wandlung vom Saulus zum Paulus blieb seine Malweise konservativ: „Meine Art, zu malen, ist ganz und gar banal, akademisch“, hat er unumwunden eingeräumt.
Banal gemalt, brillant vor Augen geführt
Ganz und gar nicht banal dagegen sein Umgang mit den Gegenständen auf der Leinwand. Auf dem Spielplan seiner Stücke stehen brillant vor Augen geführte Metamorphosen, verblüffende Rochaden und die Kopplung von Elementen, deren insgeheime Verwandtschaft erst durch Magrittes Malerei zum Vorschein kommt. Seine Methode hat er selbst in Form einer Anekdote beschrieben: „1936 erwachte ich eines Nachts in einem Zimmer, in das man einen Käfig mit eingeschlafenem Vogel gestellt hatte. Ein großartiger Irrtum ließ mich in dem Käfig ein Ei anstelle des Vogels sehen. Damit besaß ich ein neues und erstaunliches poetisches Geheimnis.“ In seinem Meisterwerk La Clairvoyance, entstanden im selben Jahr, hat er dieses Geheimnis preisgegeben: Das Selbstporträt zeigt Magritte an der Staffelei; er malt einen Vogel, doch sein Modell, das er prüfend inspiziert, ist ein Ei, das auf einem Tisch neben der Staffelei liegt.
Magritte, der sich als Biedermann gab, meist im Anzug an der Staffelei arbeitete und auf der Straße stets einen Hut trug, war immer für eine Überraschung gut. Nicht nur Breton glaubte, er sei im falschen Film, als René Magritte in den frühen 1940er-Jahren eine Werkgruppe präsentierte, die ausgerechnet von der lieblichen Malerei Auguste Renoirs inspiriert war: Le Surréalisme en plein soleil – allein der sonnige Titel ist ein Affront, weil er nach Idylle klingt, während sich die Surrealisten Aufruhr und Revolte auf die Fahnen geschrieben hatten.
Noch unorthodoxer agierte Magritte, als er 1948 in Paris die Serie La Période vacheaus dem Boden stampfte. Binnen kurzer Zeit entstanden rund 30 Gemälde und Gouachen, die aussehen wie Pop Art: Comics, Karikaturen, Eigenzitate, Bildentlehnungen bei Henri Matisse und James Ensor – der Künstler nahm das „anything goes“ beim Wort, bevor die Formulierung in Mode kam.
Auch Magritte, der von 1927 bis 1930 in Paris lebte, dann aber wieder (und für immer) nach Brüssel zurückkehrte, geriet wiederholt ins Fadenkreuz von André Bretons Verdikten. Gleichwohl hat der Cheftheoretiker die Bedeutung und Originalität des Belgiers erkannt. „Was ist der Surrealismus? Das ist ein Kuckucksei, das unter Mitwissen von René Magritte ins Nest gelegt wird“, schrieb er kurz und bündig. Eine wunderbare Definition – vor allem wenn man in Rechnung stellt, das Magritte (siehe oben), dem Magier, ein Ei als Motiv genügte, um zu demonstrieren, was die Malerei vermag.
Ausstellungen
„Imagine! 100 Jahre internationaler Surrealismus“
Laufzeit: bis 21. Juli 2024
Ort: Königliche Museen der Schönen Künste Belgiens (RMFAB), Rue de la Régence 3, Brüssel
https://fine-arts-museum.be/en
„Histoire de ne pas rire. Surrealismus in Belgien“
Laufzeit: bis 16. Juni 2024
Ort: Palais des Beaux-Arts – BOZAR, Rue Ravenstein 23, Brüssel
https://www.bozar.be/en