Kunsthalle Tübingen untersucht den Einfluss Sigmund Freuds auf die Künste
Im symbolträchtigen Jahr 1900 erschien in Wien eine Schrift, die Furore machte: Sigmund Freud, der 44-jährige Mediziner, der sich schon mit Studien zur Hysterie einen Namen gemacht hatte, veröffentlichte seine „Traumdeutung“. Der programmatische Text, der zur Grundlage der analytischen Psychologie wurde, offenbarte, so sein Autor, den „Aufbau des seelischen Apparats“, da „man durch die Traumdeutung wie durch eine Fensterlücke in das Innere desselben einen Blick werfen kann“. Kein Wunder, dass auch Künstler, bildende wie solche des Wortes, fasziniert waren von einem Erklärungsansatz, der psychische Mechanismen und Bilder so schlagend miteinander in Beziehung brachte. Nicht zuletzt war es die Sprengkraft erotischer Fantasien, die ergiebige Energiequelle künstlerischer Betätigung zu werden versprach.
Die Kunsthalle Tübingen zieht derzeit, ein und ein viertel Jahrhundert später, ein Resümee dieser dramatischen Revolution des Menschenbildes und ihrer künstlerischen Folgen. „Innenwelten. Sigmund Freud und die Kunst“ ist mit etwa 50 internationalen Positionen der vielgestaltigen ästhetischen Rezeptionsgeschichte der später Psychoanalyse getauften Theorie auf der Spur. Im chronologischen Ablauf, aber auch geordnet nach Themenfeldern wie Traum, Eros und Thanatos oder dem schlechthin Abgründigen, dem „Unheimlichen“, wie Freud es nennt. Was sich bei Oskar Kokoschka noch beinah märchenselig ausnimmt mit den eckig ungelenken Knabengestalten vor ornamentartig abstrahierter Naturkulisse, das verdunkelt sich schnell. Man denke nur an die Reihe von Richard Gerstls Selbstbildnissen, bei denen man auch in den eher zurückhaltenden Exemplaren förmlich lauert auf die sich anbahnende Katastrophe – der Künstler erhängt sich im Atelier, als seine Affäre mit der Ehefrau des Komponisten Arnold Schönberg ruchbar geworden war.
Surrealismus und Écriture automatique
Das Interesse der Künstler für das Un- und Unterbewusste verstärkt sich mit dem Ersten Weltkrieg, scheint doch bei diesem Zusammenbruch der bestehenden Weltordnung die Vernunft (ob nun nur die bürgerliche oder die menschliche überhaupt) versagt zu haben. 1924 wird jedenfalls das „Surrealistische Manifest“ publiziert, in dem explizit der Name Freuds als Vordenker genannt wird. Während der Wiener Arzt allerdings stets auf die Heilung seelischer Störungen aus war –selbst wenn da ein unlösbarer Rest bleiben sollte –, so sind die André Breton folgenden Schriftsteller und bildenden Künstler gerade an der unkontrollierten Freisetzung der unbewussten Empfindungen interessiert.
Der triebgesteuerte oder auch krankhafte Mensch scheint ihnen weitaus spannender als der im bürgerlichen Seelenkorsett eingekastelte … Ängste und Ticks, Neurosen und Wahnvorstellungen halten ein unerschöpfliches Potenzial künstlerischer Motive bereit, eine Mine, die man sozusagen nur anzubohren braucht. Systematisch betreibt das Salvador Dali. Er verblüfft mit seinem Recycling altbekannter historisch-mythologisch bekannte Stoffe: In seiner Metamorphose des Narziss (1937) beispielsweise stellt er den Jüngling als klassischen Akt in sein Spiegelbild vertieft dar, während parallel eine in ihrem Umriss mit der kauernden Figur identische Hand ein Ei emporhält, aus dessen berstender Schale die nach ihm benannte Blume hervorbricht … Tatsächlich kann der Maler, anlässlich eines Besuchs 1938 bei dem mittlerweile nach London emigrierten jüdischen Wissenschaftler, diesen mit dem Gemälde durchaus beeindrucken, wie er in seiner Autobiografie erzählt. Und das, obwohl Freud, ganz altsprachlicher Bildungsbürger, in seinem privaten Kunstgeschmack eher Antikes bevorzugt.
Dalis künstlerisches Vorgehen ist, ungeachtet seiner neuartigen assoziativen Konzeption, in der eigentlichen malerischen Durchführung traditionell, die Alten Meister bleiben gültige Vorbilder. Anders sieht das aus bei neuen Verfahren wie der Collage oder Frottage: Hier kommen, wie im nächtlichen Traumbild, ansonsten unverbundene Motive zusammen. Man rekurriert auf das alte Motto der französischen Surrealismus-Vorläufers Lautréamont vom „zufälligen Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf dem Seziertisch“. Bei der „Écriture automatique“ soll die (wenigstens theoretisch) vom ordnenden Verstand völlig unbeeinflusste Hand ein Werk von bislang unbekannter Wahrheit schaffen (passender: zu Tage fördern) – analog zum Verfahren der freien Assoziation in der psychoanalytischen Gesprächssituation. Ist der Surrealismus der Zeit zwischen den Kriegen dominiert von der künstlerischen Erforschung der Dämonen im innerpsychischen Bereich (oder ihrer produktiven Bewirtschaftung …), so hält die äußere Welt ihrerseits reichlich Schrecknisse bereit: Der Deutsche Richard Oelze kommt zwar aus der Tradition des französischen Surrealismus, doch seine halb zoomorphe, halb anthropomorphe Bildwelt ist entscheidend geprägt vom Bestreben, die traumatische Erfahrung des Zweiten Weltkriegs zu bewältigen. Seine Selbstreflexion könnte man als existentialistisch etikettieren oder, wie es Freud formuliert: „Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten“.
Kritische Stimmen
Ein Zeitsprung in die 1970er-Jahre: Im Spannungsfeld zwischen lebensspendendem Eros und (selbst-)zerstörerischem Thanatos, zwischen gesellschaftlichen Zwängen und individueller Befreiung, greifen viele Künstler erneut zurück auf die von Freud entwickelten Denkmodelle, Therapie wird zum angesagten Trend. Ganz auffällig aber nun: Der Körper in seiner physischen Unmittelbarkeit betritt die Bühne der Kunst: Vom Orgien-Mysterien-Theater eines Hermann Nitsch bis zu innovativen feministischen Positionen. Eine jüngere Künstlerinnengeneration platziert ihrerseits Freud auf der Couch und dekuvriert nun dessen patriarchalische Verkrustungen. Ganz zeitgenössisch: Raphaela Vogel vereint Skulptur, Musik und Video zu provokanten, raumgreifenden Installationen. Es geht um eine lustvolle Selbst-Ermächtigung des Weiblichen versus dem nun als frauenfeindlich empfundenem Zugriff der „klassischen“ Surrealisten auf den zum Objekt gemachten weiblichen Körper. In der Aufwertung des Körperlichen spiegelt sich natürlich auch grundsätzliche Kritik am sprachbasierten Freudschen Analysemodell, insofern nämlich vorgegebene Sprachstrukturen das individuelle Denken (und auch Fühlen) unnachgiebig vor-formatieren.
Die Wechselwirkung zwischen der von Freud entwickelten Theorie und der Kunst ist also immens vielseitig, die jüngere kritische Position vermehrt noch die Anzahl der Facetten. Und das vom Altmeister beschriebene Leitmotiv des „Unheimlichen“? Wenig könnte wohl aktueller sein bei der Beschreibung unserer Gegenwart mit ihren immer unübersichtlicher werdenden, sich gegenseitig überschneidenden Multi-Krisen! Die Tübinger Innenwelten wurden kuratiert von Nicole Fritz und Monika Pessler und realisiert in einer Kooperation der Kunsthalle mit dem Wiener Sigmund Freud Museum. „Die besten Bilder sind die, die mir am fremdesten sind, als wären sie von selbst entstanden“: Das aktuelle Statement der deutsch-österreichischen Künstlerin Barbara Breitenfellner lässt unverkennbar die inzwischen historisch gewordene „automatische“ Schreib- und Maltechnik der Surrealisten anklingen. Aber mindestens ebenso klar ist, dass die Flut medialer Bilder heute „unser Unbewusstes (zu) kolonisieren“ droht. Der Blick ins Unbewusste erweist sich hier unversehens als Aufforderung zum Bewusstsein!
Ausstellung
Innenwelten. Sigmund Freud und die Kunst
Ort und Laufzeit
Bis 3. März 2024
Kunsthalle Tübingen, Philosophenweg 76, 72076 Tübingen
Ausstellungslaufzeit im Sigmund Freud Museum Wien unter dem Titel „Innenwelten | Das Unheimliche. Sigmund Freud und die Kunst“: 25. April bis 4. September 2024
Öffnungszeiten
Di, Mi, Fr-So 11.00–18.00 Uhr, Do 11.00-19.00 Uhr
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