Unter den kunsthistorischen Denkwürdigkeiten dieses Jahres ragt ein Jubiläum hervor: Der 75. Todestag des belgischen Malers James Ensor (1860–1949) gibt Anlass, den Symbolisten, der an der Schwelle der Moderne steht, zu feiern. Ausstellungen in Ostende, Antwerpen und Brüssel präsentieren sämtliche Facetten seines vielschichtigen Werks.
Sein Œuvre ist ein Musterbeispiel für Vielseitigkeit. James Ensor schuf Landschaften, Seestücke, Stadtansichten und Interieurs. Er hinterließ mythologische, biblische sowie historische Szenen. Dem Porträt widmete er ebenso viel Aufmerksamkeit wie dem Massenaufmarsch. Berühmt ist der belgische Maler und Zeichner (1860–1949) wegen seiner Vorliebe für Masken und Skelette. Und wegen des Faibles für den Karneval in Flandern, den der zeitlebens in Ostende lebende Künstlerschelm, keinem Schabernack abgeneigt, als sein ureigenes künstlerisches Biotop empfand.
Damit nicht genug: Mit Plakaten, deftigen, teils obszönen Karikaturen und Gesellschaftssatiren mischte sich Ensor in den Meinungsstreit seiner Zeit ein. Obendrein musikalisch versiert, komponierte der Wagner-Bewunderer sogar ein Ballett – versteht sich, dass er das Bühnenbild und die Kostüme der über 100 Figuren gleich mitentwarf.
Dem Stillleben jedoch galt James Ensors besondere Aufmerksamkeit. Und so kommt es nicht von ungefähr, dass das belgische Jubiläumsjahr zum 75. Todestag des Symbolisten und Patriarchen der Moderne mit einer Ausstellung zur Stillleben-Malerei begonnen hat. Bereits Mitte Dezember eröffnete im Ostender Mu.ZEE – Kunstmuseum aan Zee die Schau „Rose, Rose, Rose à mes yeux! James Ensor und das Stillleben (1830–1930)“.
Zwischen akademischer Tradition und Surrealismus
Mehr als 200 Stillleben hat Ensor im Laufe seiner langen Karriere gemalt. Rund 50 dieser Werke betten die beiden Kuratoren Bart Verschaffel und Sabine Taevernier ein in eine Gesamtdarstellung des Genres, die ein ganzes Jahrhundert der belgischen Kunstgeschichte umfasst. Zwischen akademischer Tradition und Surrealismus, in der Mu.ZEE-Schau exemplarisch verkörpert durch René Magritte, erscheint Ensor als ein Grenzgänger. Weder passt er in das Korsett der technisch makellosen, aber konventionellen Malerei, die im 19. Jahrhundert in Belgien das künstlerische Feld beherrschte, noch interessierte ihn die Akrobatenartistik eines Magritte, der Gegenstände zugleich durch ihr Bild und ihren Begriff repräsentierte und auf diese Weise grundsätzliche Fragen zum Wesen der Malerei aufwarf.
Markant unterscheiden sich James Ensors seit den 1880er-Jahren entstehende Stillleben von dem, was Spezialisten wie Georgette Meunier, Frans Mortelmans, Alice Ronner oder Antoine Wiertz auf der Leinwand kredenzten: Opulente Blumenbouquets, kulinarisch angerichtete Arrangements mit Fisch, Fleisch und Obst sowie diverse dekorative Requisiten sind dort akkurat in Szene gesetzt. Gediegen und kultiviert geht es auf diesen Bildern zu, die meist durch eine dunkeltonige Palette charakterisiert sind.
Ganz anders die Stillleben von Ensor: Dank der aufgehellten Farbigkeit und der lockeren Malweise wirken seine Bilder leicht, spontan, beinahe aus dem Ärmel geschüttelt. Auffälliger noch die Unterschiede, was die dargestellten Objekte angeht: Masken, Muscheln, groteske Köpfe oder Skelette geben den Ton an bei Ensor. Sie verwandeln diese Stillleben in eine Bühne, die gefällig ist, auf der aber auch ernste, ja existenzielle Aspekte zur Anschauung kommen.
Viele Motive gehen zurück auf eine frühkindliche Prägung: Seine Mutter Catharina Haegheman und deren Schwester Mimi betrieben einen Laden für Souvenirs, Muscheln, Kuriositäten, Scherzartikel, Masken und Karnevalskostüme. Eine visuelle Fundgrube für den kleinen James, der als „Maler der Masken“ in die Kunstgeschichte eingehen sollte. „Ich habe“, erinnerte er sich später, „meine Kindheit inmitten von glänzenden perlmuttfarbenen Muscheln mit tanzenden, schillernden Reflexen und den bizarren Skeletten von Meeresungeheuern und -pflanzen verbracht. Diese herrliche Welt voll Farben, diese Überfülle von Spiegelungen und Strahlen hat aus mir einen Maler gemacht, der in die Farbe verliebt und von der blendenden Glut des Lichtes entzückt ist.“
Wie Édouard Manet, der um eine Generation ältere französische Impressionist, sah er im Stillleben den eigentlichen „Prüfstein des Malers“. Aus gutem Grund: Wer in der Lage ist, unspektakuläre Gegenstände wie Blumen, Muscheln oder Küchengeschirr so darzustellen, dass sie die Wahrnehmung bezaubern, ist auch für größere, scheinbar bedeutsamere Themen gerüstet.
Alles andere als ein Senkrechtstarter
Zur Kategorie Senkrechtstarter gehört James Ensor nicht. Im Gegenteil: Ähnlich wie der sieben Jahre ältere Vincent van Gogh (1853–1890) war Ensor in jungen Jahren ein Außenseiter, ein Eigenbrötler auch, der mit der Kunstszene in Brüssel und Antwerpen zwar in Berührung stand, jedoch nie so richtig dazugehörte. Symptomatisch: Sämtliche Bilder, die der Dreißigjährige 1883 zum Brüsseler Salon schickte, wurden abgewiesen. Eine Reaktion darauf war die Gründung der Avantgarde-Gruppe Les XX, die er im selben Jahr gemeinsam mit 19 anderen belgischen Künstlern ins Leben rief. Zumindest bei den Jahresausstellungen von Les XX waren Ensors Werke regelmäßig vertreten.
Früh schon hatte sich seine künstlerische Begabung erwiesen, gefördert vom Vater, dem aus einer wohlhabenden englischen Familie stammenden, in Brüssel geborenen James Frederic Ensor. Bereits der Elfjährige erhielt Kunstunterricht. Mit 16 besuchte er die Ostender Akademie, ein Jahr später wechselte er zur Académie royale des Beaux-Arts de Bruxelles. Glücklich wurde er dort nicht: Schon nach zwei Jahren verabschiedete er sich von dem „Gehäuse für Kurzsichtige“, wie er die Hochschule verspottete, und kehrte zurück in sein geliebtes Ostende.
Die Hafenstadt an der Nordsee, vor der weitgehenden Zerstörung im Zweiten Weltkrieg ein mondänes Seebad, verließ er danach kaum jemals. Eine Reise nach England, wo ihn die entfesselten Lichtlandschaften William Turners beeinflussten, drei Abstecher nach Frankreich, zwei in die Niederlande – das ist die gesamte Bilanz seiner Auslandsaufenthalte. Seine Imagination hingegen war ungemein mobil – und blieb es bis ins hohe Alter. Zudem erweiterte Ensor seinen Horizont durch eifriges Lesen und Studieren – Literatur, Volkskunst, Karikatur und Musik faszinierten ihn nicht weniger als sein Brotberuf, die Kunst.
Atelier mit Aussicht
Auf dem Dachboden des Elternhauses an der Rue de Flandre 23, Ecke Boulevard Van Iseghem richtete sich der junge Ensor ein Atelier ein. Zimmer mit Aussicht: Strand- und Meerszenen konnte er von der heimischen Staffelei aus malen. Hier, in räumlich beengten Verhältnissen, entstand 1888 auch sein Hauptwerk, Der Einzug Christi in Brüssel. Ein furioser Massenaufmarsch, ein Kunterbunt aus Bibelanleihe, Karnevalsumzug, Militärparade und politischer Demonstration. Wegen ihrer monumentalen Ausmaße (252 cm hoch, 430 cm breit) „lag die an die Wand genagelte Leinwand zum Teil am Boden“, berichtet sein Künstlerfreund Jean Stevo. „Ensor musste daher manchmal auf den Knien, manchmal auf einem Stuhl stehend arbeiten. Man trampelte auf dem unteren Rand am Boden herum, ja es regnete sogar darauf.“ 1987 wurde Der Einzug Christi in Brüssel vom J. Paul Getty Museum in Los Angeles erworben – inzwischen wird das Gemälde nicht mehr ausgeliehen, fehlt also in Belgien als Sahnehäubchen der Jubiläumsaktivitäten.
Sein Haus in der Nähe der Strandpromenade, das James Ensor 1917 von seinem Onkel und seiner Tante geerbt hatte, dient heute als Künstlermuseum. Hier befindet sich der Andenkenladen seiner Mutter und seiner Tante, den man nach wie vor besichtigen kann – ebenso wie den gutbürgerlich-gediegenen „Blauen Salon“, den Ensor als Empfangsraum, Wohn- und Esszimmer sowie als Atelier nutzte.
Mit den Jahrzehnten nahm die Reputation des Künstlers zu – anders als beim frühverstorbenen Van Gogh, dessen Isolation zu Lebzeiten Dauerzustand blieb. Seit der Jahrhundertwende fanden regelmäßig Einzelausstellungen Ensors statt, zunächst in Belgien, später auch in anderen Ländern. 1929 ernannte ihn der belgische König Albert I. zum Baron. Albert Einstein, Erich Heckel, Emil Nolde, Wassily Kandinsky und Stefan Zweig besuchten den berühmt gewordenen Maler. Und als er 1949 im Alter von beinahe 90 Jahren in Ostende starb, bekam er ein Staatsbegräbnis.
Selbstporträts und Rollenspiele
Der Badeort bildet bis September den zentralen Anlaufpunkt für Ensor-Fans – Antwerpen steigt erst im Herbst in das Festjahr ein. Vom 21. März bis 16. April zeigt das Ensor-Haus eine Themenschau, die sich dem Selbstporträt widmet. Ein zentraler Aspekt des Œuvres: Zeitlebens hat sich der Künstler zeichnend und malend selbst befragt, hat unablässig Rollen ausprobiert, um die Facetten seiner Persönlichkeit auszuloten. Mehr als 100 Selbstporträts umfasst das Werk.
Die frühesten drei Beispiele stammen aus dem Jahr 1879. Vier Jahre später malte sich Ensor mit Blumenhut. Was bei heutigen Betrachtern Assoziationen an die Flower-Power-Mode der Hippie-Zeit auslösen mag, war tatsächlich als selbstbewusste Reverenz an einen berühmten Vorgänger gemeint: Peter Paul Rubens, der barocke flämische Malerfürst, hat sich in einer ähnlich kecken Pose verewigt.
Was Antwerpen im Ensor-Jahr plant
Richtet man den Blick im Jubiläumsjahr nach Antwerpen, so nimmt das Königliche Museum der Schönen Künste (KMSKA) eine hervorgehobene Position ein. Kein Wunder, beherbergt es doch die größte Ensor-Sammlung der Welt. Die Ausstellung „Ensors kühnste Träume. Jenseits des Impressionismus“ befragt den Kontext seiner Kunst – wer ihn inspirierte, wird ebenso dargelegt wie die Einflüsse, die der Künstler auf nachfolgende Generationen ausgeübt hat (28.9. bis 19.1.2025).
Radierungen und Lithografien stehen im Zentrum der Ausstellung „Ensors Suche nach dem Licht. Experimente auf Papier“, die das Museum Plantin-Moretus für den Herbst vorbereitet (28.9. bis 5.1.2025). Parallel läuft im Fotomuseum Antwerpen (FOMU) eine Präsentation, die James Ensors Selbstinszenierungen mit den fotografischen Metamorphosen von Cindy Sherman vergleicht. Die US-Künstlerin ist bekannt für ihre beinahe grenzenlose Wandungsfähigkeit. Von Shermans Affinität zu Schock und Horror lässt sich in der Tat eine kunsthistorische Linie ziehen zu blutrünstigen Ensor-Gemälden wie Der Mord (1890) oder Die niederträchtigen Vivisekteure (um 1930).
Mit dem Totenschädel an der Staffelei
Beide eint der Hang zum Makabren und Grotesken – bei Ensor kulminiert er in den Leitmotiven „Maske“ und „Skelett“. In seinem Werk tauchen diese Motive an verschiedensten Stellen auf, oft auch gleichzeitig in einer Darstellung. So bei dem 1896 datierten Bild Das malende Skelett. Eine Atelierszene, die den Künstler an der Staffelei zeigt. Seinen Kopf hat er durch einen Totenschädel ersetzt. Weitere Schädel bevölkern das Bild, und unten zieht eine muntere Maske, die der Künstler radikal abgeschnitten hat, die Aufmerksamkeit auf sich.
Ein seltsames, ein faszinierendes Bild. Im selben Jahr malte Lovis Corinth sein Selbstbildnis mit Skelett. 1872 hatte sich Arnold Böcklin in seinem Selbstbildnis mit fiedelndem Tod vergleichbar verewigt. Doch wie anders sind diese Gemälde! Bei Böcklin und Corinth erscheint das Skelett als knöcherner Fingerzeig, der die Vergänglichkeit des Daseins symbolisiert. Ensor aber mimt selbst den Sensenmann. Und er scheint sich in dieser Rolle sogar pudelwohl zu fühlen: Die Atmosphäre des Gemäldes ist nicht morbide, sondern geradezu vital.
Mit seiner Vorliebe für Skelette steht Ensor in einer Tradition, die von den Totentänzen des Mittelalters bis zu anatomischen Kompendien der Renaissance und des Barock reicht. Erwähnt sei beispielsweise der flämische Anatom Andreas Vesalius, dessen Hauptwerk „De humani corporis fabrica libri septem“ („Sieben Bücher vom Bau des menschlichen Körpers“) 1543 erschien. Eine der rund 200 Illustrationen zeigt ein Skelett, das sich meditativ in den Anblick eines Totenschädels vertieft. Die Figur, gezeichnet vom niederländischen Tizian-Schüler Jan Stephan von Calcar, könnte geradewegs einem Bild Ensors entstammen.
Mein Freund, der Tod
Zum Tod hatte der Künstler ein beneidenswert unbefangenes Verhältnis. Auf seiner Visitenkarte ist der Schriftzug „James Ensor – Artiste-Peintre“ von den Konturen eines Sargs umrahmt, den vier Sargträger zu Grabe tragen. „Der Tod“, erläuterte er seine „Ars moriendi“, „kommt nur als Sieger zu uns, wenn wir nie den Mut gezeigt haben, ihn als Freund zu empfangen.“ Nichts bringt sein stoisches Verhältnis zum Sterben so treffend auf den Punkt wie eine Anekdote, die über Ensor im Umlauf ist. 1942, sieben Jahre vor seinem Ableben, sendete das belgische Radio versehentlich die Nachricht vom Tod des Künstlers. In den Tagen darauf sahen die Einwohner Ostendes ihn andächtig vor einer Büste verharren, die man ihm zu Ehren in den Casinogärten aufgestellt hatte. Als ihn Passanten fragten, was er dort tue, gab Ensor zur Antwort: „Ich trauere um mich.“
Website zum Ensor-Jahr in Belgien – Ausstellungen in Ostende und Antwerpen
Ausstellung „Rose, Rose, Rose à mes yeux! James Ensor und das Stillleben“, Mu.ZEE – Kunstmuseum aan Zee, Ostende, bis 14.4.2024
Ausstellung „James Ensor. Maestro“ (über sein Ballett „La Gamme d’Amour“ und das künstlerische Werk, das mit Musik in Verbindung steht), Kunstzentrum Bozar, Brüssel, 29.2.–23.6.