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Hintergrund

Architekturen aus Trümmern

Die Kunst von Wibke Rahn

Metall und Beton. Baustoffe der modernen Architektur. Material für die Kunst von Wibke Rahn. Sie spielt mit ihnen und spiegelt dabei einen Aspekt unserer Realität, den wir leicht aus dem Blick verlieren: die Gestaltung der Orte, die uns umgeben. Auch sie schafft in ihrer Kunst Orte, gestaltet dystopische Architekturen, inszeniert in menschenleere Landschaften, Orte ohne Geschichte und Identität. Es sind Nicht-Orte. Egal ob fiktiv oder an reale Orte angelehnt – sie erzeugen ein Gefühl, als seien sie vertraut, möglich, bekannt, zugleich entfremdet und befremdlich, beängstigend nahe an der Realität.

Ihre Kunst kann als Kommentar auf die spätmoderne Raumgestaltung verstanden werden. Sie wird dominiert von Orten des temporären Aufenthalts, Orte, die sich durch Zugangsbeschränkungen und Ausschluss auszeichnen. Es ist das, was der Ethnologe Marc Augé als Nicht-Orte bezeichnet: Klassische Transit-Orte wie Bahnhöfe, Hotels und Flughäfen, aber auch Supermärkte, Orte des Konsums, Räume, die für Freizeitzwecke konzipiert sind, Flüchtlingsheime, Slums, virtuelle Räume. Orte der Anonymität, der Einsamkeit, der Entwurzelung. Sie sind austauschbar, nur für einen Zweck bestimmt und werden nie dauerhaft mit Leben gefüllt. Zugang erhält nur, wer seine Identität mittels Scheckkarte oder Ausweis preisgibt. Innerhalb dieser Nicht-Orte ist die eigene Identität jedoch egal, denn der Mensch wird auf seine Funktion reduziert: Käufer*in, Konsument*in, Passagier*in, Geflüchtete*r. In dieser anonymen Welt stellt sich schnell ein Gefühl der Verlorenheit ein. Es ist die weltweite Zunahme von Nicht-Orten, die Rahn in ihrer Kunst reflektiert. Zentral ist ihr dabei das urmenschliche Bedürfnis nach Schutz, Geborgenheit, einer Heimat. Es ist ein Bedürfnis, das zunimmt, wenn wir uns Orte nicht mehr aneignen können.

VG Bild-Kunst, Bonn 2023 / Wibke Rahn

VG Bild-Kunst, Bonn 2023 / Wibke Rahn

Wibke Rahn selbst verließ ihre Heimat an der Ostsee mit ländlichem Umfeld, dem Wattenmeer, vertrauten Gesichtern, und zog nach Leipzig. Damals noch eine Stadt mit viel Leerstand, dem Zerfall ausgesetzt, voller Industriebrachen. Doch gerade deshalb waren es auch Orte mit einer Identität, einer Geschichte, die man ihnen sogar ansah. Mit dem wiederaufkommenden Boom der Messestadt änderte sich jedoch auch ihr Gesicht. Die maroden Häuser wurden abgerissen und Neubauten errichtet, die mehr den Bedürfnissen der neuen Bewohner*innen entsprechen. Ein neuer Flughafen, Einkaufszentren, Supermärkte, Sportanlagen, Hotels, allesamt in modernem Stil. Es sind reine Funktionsorte. Sie haben keinen wirklichen Bezug zur Stadt. Es wird versucht, ihnen eine geschichtliche Kontinuität zuzuweisen. Doch sie sind auch nur aus Beton gegossen und mit Glas versiegelt – steril und glatt.

Spelling Dystopia, 2022, Installation/ Videoprojektion, variable Maße VG Bild-Kunst, Bonn 2023 / Wibke Rahn, Videostill: Wibke Rahn

Spelling Dystopia, 2022, Installation/ Videoprojektion, variable Maße
VG Bild-Kunst, Bonn 2023 / Wibke Rahn, Videostill: Wibke Rahn

Ganz und gar nicht glatt hingegen sind die Objekte von Wibke Rahn. Feinste Maserungen und Reliefs lassen das Ausgangsmaterial klar zur Geltung kommen: Karton, morsches Holz, feine Drähte, Metall. Diese sammelt sie größtenteils auf ebenjenen alten Brachen, die langsam, aber sicher weichen. Sie arrangiert diese Materialien zu Architekturen, schafft neue Orte aus altem. Die Objekte entstehen als Reflex auf die sich verändernde Umgebung in ihrer neuen Heimat. Es ist ihre Art, sich die neue Heimat anzueignen, einen Platz zu finden. So fand sie auch das passende Medium für ihre Kunst. Arbeitete sie anfangs noch mehr mit zweidimensionalen Medien, entdeckte sie im Kontext der eben beschriebenen Entwicklung ihre Vorliebe für die Bildhauerei. Es ist eine sehr haptische Arbeit, die mehr als andere den Begriff Kunsthandwerk verdient. Das ist nicht sehr verwunderlich, stammt die Künstlerin doch aus einem Tischlerhaushalt. Von klein auf lehrte sie der Vater die Arbeit mit dem Holz. Auch ihr Atelier gleicht mehr einer Werkstatt: An den Wänden reihen sich Schraubzwingen auf, in den Regalen Werkzeugkoffer, Wannen zum Anrühren des Betons, das Baumaterial ordentlich sortiert in einer anderen Ecke.

Aus der Reihe Flat, 2021, Wandrelief, Betonguss, 58 x 60 x 7 cm VG Bild-Kunst, Bonn 2023 / Wibke Rahn, Foto: Wibke Rahn

Aus der Reihe „Flat", 2021, Wandrelief, Betonguss, 58 x 60 x 7 cm
VG Bild-Kunst, Bonn 2023 / Wibke Rahn, Foto: Wibke Rahn

Und es ist durchaus nicht falsch, hier von Baumaterial zu sprechen, schafft sie mit ihren Objekten doch eher Architekturen. Dabei betreibt Rahn ein cleveres Spiel mit Material, Form und Symbolik. Aus altem Holz und Metall entstehen in der Werkstatt Miniaturhäuser. Manche wirken fragil, improvisiert. Draht und Metall ergeben löchrige Konstrukte. Morsches Holz wird zu einfachen Behausungen zusammengeschraubt. Der Einfluss der Zeit auf das Material ist deutlich ablesbar. In Beton ausgegossen erhalten diese Grundskelette eine neue Bedeutung. Sie sehen aus wie moderne Wohnblocks unserer Gegenwart. Immer höher stapeln sich die kubischen Formen auf. Es ist ein Spiegel der Herstellungsweisen eben dieser Gebäude, an die sie angelehnt sind. Aus Resten entstehen einfache Behausungen, die Wohnblocks werden aus Beton in Form gegossen. Ebenso finden Karton und Styropor Verwendung in ihrer Arbeit. Diese aus Verpackungen gewonnenen Materialien serieller Produkte sind reines Funktionsmaterial. Sie verpacken Produkte. Etwas weitergedacht sind auch die Gebäude der Nicht-Orte nur Verpackungen für Produkte, Orte, an denen Erlebnisse verkauft werden. Neben dieser inhaltlichen Parallele zwischen Material und Nichtorten findet sich auch eine visuelle. Die feinen Wellen des Verpackungskartons setzen sich im Wellblech fort. Die feinporige Oberfläche des Styropors ähnelt derjenigen des Betons.

Aus der Reihe „Shelter“, 2012 / 2014, C-Print/Diasec, 60 x 110 cm VG Bild-Kunst, Bonn 2023 / Wibke Rahn, Foto: Wibke Rahn

Aus der Reihe „Shelter“, 2012 / 2014, C-Print / Diasec, 60 x 110 cm
VG Bild-Kunst, Bonn 2023 / Wibke Rahn, Foto: Wibke Rahn

Neben der ersten Transformation des alten Baumaterials zu neuen Architekturen findet in manchen der Arbeiten eine zweite Transformation statt. Die Objekte werden in oder als Landschaften inszeniert, fotografiert oder gefilmt. Dies ändert ihre Qualitäten. In scheinbar unberührter Natur, vom Winde verweht, scheinen die Betonkuben auf einmal ein Bild dafür zu sein, was uns in Zukunft erwarten kann: Geisterstädte, verschlungen vom Sand der sich ausbreitenden Wüsten. In die Silhouette der Stadt eingereihte Betongebäude stehen vor Trümmern und altem Metall, als möchten sie sagen: „Auch diese Giganten werden einmal fallen“. Improvisierte einfache Siedlungen, die an Filme wie „Mad Max“ oder „Waterworld“ erinnern – Welten nach dem Kollaps unserer Gesellschaften, wie wir sie heute kennen. Medien, die Werbung, Filme oder Spiele vermitteln uns Bilder dieser Orte, sodass uns ein Gefühl der Vertrautheit beschleicht.

Behausung III, 2012, Holz, mixed media, 59 x 47 x 44 cm VG Bild-Kunst, Bonn 2023 / Wibke Rahn, Foto: Wibke Rahn

Behausung III, 2012, Holz, mixed media, 59 x 47 x 44 cm
VG Bild-Kunst, Bonn 2023 / Wibke Rahn, Foto: Wibke Rahn

Auch wenn die Orte rein fiktiv sind, stehen ihre Bilder repräsentativ für Stereotype. Nicht ohne Grund regen die Objekte von Wibke Rahn unmittelbar Assoziationen in uns an. Eine Baracke, Unterkünfte von Geflüchteten, Hochhaussiedlungen in den Megacities des globalen Südens. Verfall. Ein dystopischer Ausblick. Es sind Landschaften, die wir überall auf der Welt verorten könnten. Sie haben keine klare Zuordnung zu einer bestimmten Stadt, ihnen fehlt die Identität. Die Installationen wecken Bilder, die wir medial vermittelt bekommen, von Orten, die wir nie gesehen haben und uns dennoch vertraut erscheinen. Dabei sind sie selbst nur durch das digitale Medium entstanden. Rahn referiert hiermit auf die Macht von Bildern, die im digitalen Zeitalter ungehindert zirkulieren. Immer wieder steht die Frage im Raum, ob man den Bildern trauen kann. Sind sie echt oder doch nur Fiktion? Allzu oft nur wird die Fiktion von der Realität eingeholt. So rücken die auf Trümmern stehenden Gebäude von Rahn im Kontext des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine erschreckend nahe an die Realität. Auch die Werke aus der Reihe „Behausung“ von 2012 wurden im Zuge der großen Fluchtbewegungen aus Syrien mit Bildern aus den Camps im Mittelmeerraum als Symbolbilder für Heimatlosigkeit in unseren Köpfen verfestigt.

Aus der Reihe „Cages“, 2015, Holz, Metall, variable Maße VG Bild-Kunst, Bonn 2023 / Foto: Wibke Rahn

Aus der Reihe „Cages“, 2015, Holz, Metall, variable Maße
VG Bild-Kunst, Bonn 2023 / Foto: Wibke Rahn

Dank dieser Bilder schafft es Rahn, auf subtile Art und Weise daran zu erinnern, dass die Räume, die uns umgeben, einen wichtigen Anteil daran haben, wie wir uns begegnen. Sie bestimmen, wer Zugang hat und wem welcher Platz zugewiesen wird. Rahns Werke sensibilisieren den Blick für unsere Umwelt und regen dazu an, genauer zu beobachten, wie die Orte unseres alltäglichen Lebens gestaltet sind. Wo und wann begegnen mir Nicht-Orte? Wie viel Anteil haben sie an meinem Leben? Wie bewege ich mich in ihnen? Wo fühle ich mich geborgen? Im Umkehrschluss ermöglichen diese Reflexionen auch mehr Einfühlungsvermögen für Menschen, denen solche Orte des Schutzes und der Geborgenheit verschlossen bleiben. So gesehen bewegt uns Rahn auch zu mehr Solidarität. Und davon können wir in unserer Welt nie genug haben.

Heterotopia, Detail, 2011, mixed media, 120 x 135 x 65 cm VG Bild-Kunst, Bonn 2023 / Wibke Rahn, Foto: Wibke Rahn
Heterotopia, Detail, 2011, mixed media, 120 x 135 x 65 cm VG Bild-Kunst, Bonn 2023 / Wibke Rahn, Foto: Wibke Rahn
Vanishing Point, Installation auf dem Dach des Museums der Bildenden Künste Leipzig, 2020, variable Maße VG Bild-Kunst, Bonn 2023/ Wibke Rahn, Foto: Wibke Rahn
Vanishing Point, Installation auf dem Dach des Museums der Bildenden Künste Leipzig, 2020, variable Maße VG Bild-Kunst, Bonn 2023/ Wibke Rahn, Foto: Wibke Rahn
Heterotopia, Detail, 2011, mixed media, 120 x 135 x 65 cm VG Bild-Kunst, Bonn 2023 / Wibke Rahn, Foto: Wibke Rahn
Heterotopia, Detail, 2011, mixed media, 120 x 135 x 65 cm VG Bild-Kunst, Bonn 2023 / Wibke Rahn, Foto: Wibke Rahn
Vanishing Point, Installation auf dem Dach des Museums der Bildenden Künste Leipzig, 2020, variable Maße VG Bild-Kunst, Bonn 2023/ Wibke Rahn, Foto: Wibke Rahn
Vanishing Point, Installation auf dem Dach des Museums der Bildenden Künste Leipzig, 2020, variable Maße VG Bild-Kunst, Bonn 2023/ Wibke Rahn, Foto: Wibke Rahn
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Profile

Wibke Rahn, geboren 1977 in Leonberg, studierte von 1996 bis 2004 Medizin mit Promotion in Kiel, Greifswald, Cleveland (USA) und Granada (Spanien) sowie in den Jahren 2004 bis 2009 Bildende Kunst an der Burg Giebichenstein in Halle (Fachbereich Glas-Objekt-Bild-Raum). Von 2001 bis 2003 studierte sie zudem Kunstpädagogik an der Universität Greifswald. Seit 2004 lebt und arbeitet Wibke Rahn in Leipzig. Ausstellungsbeteiligungen im In- und Ausland, u.a. Museum der Bildenden Künste Leipzig (solo), Leipziger Jahresausstellung, Ostrale Dresden, Brühler Kunstverein (solo), galerie hamburger kunstprojekt (solo), Forum Kunst Rottweil, Fundación Bilbao Arte, Spanien.

Foto: Karl Wilhelm Boll

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