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Die stille Macht der Schönheit

„Schönheit rettet die Welt!“ - wenn das kein Versprechen ist! Ein Versprechen, das wir gerne hören. Denn der ungebremste Konsum von Gütern und Daten hat zur Vermüllung von Umwelt, Handeln und Denken geführt. Doch unser „Buch des Monats“ ist mehr als ein Versprechen. Es ist eine Denkschule, die alles beinhaltet, was ein gutes Buch ausmacht: Es ist so schön gestaltet, dass man es gern zur Hand nimmt, es vermittelt unangestrengt die Ideengeschichte der Schönheit und leitet daraus neue Impulse für eigenes Denken und Handeln im ästhetischen Sinne ab. In unserem Interview mit Jan Teunen erfahren Sie mehr über seine Gedanken zur Wirkkraft der Schönheit. Sind Sie bereit für Schönes?

Schönheit berührt und bewegt die Menschen, stimmt Geist und Seele positiv und kann mitunter ungeahnte Kräfte freisetzen. In der Schönheit liegt die Kraft zu tiefgreifenden Transformationen begründet – davon sind Jan Teunen und Christoph Quarch überzeugt. Dies betonen Kurator und Autor eindrücklich in ihrem schön gestalteten Buch, das jetzt im Dreizeichen-Verlag erschienen ist: „Schönheit rettet die Welt“ will seinen Leser*innen die Augen öffnen, um die Schönheit wieder zum Leben erwecken. Das Buch selbst zeichnet sich durch lebendige Gestaltung mit abwechslungsreicher Typografie und vielen hochwertigen Abbildungen aus und wird im Zusammenspiel von Material, Veredelung und Bindung zu einem besonderen Objekt.

Rainer Maria Rilke stellte in seinen Duineser Elegien eine poetische Hypothese auf: Es sei das Schicksal der Welt, unsichtbar zu werden. Dieser Prozess findet nach Christoph Quarch im Inneren des modernen Menschen statt: „Er verlernt es, die lebendige Welt zu gewahren. Er ertaubt für den Anspruch des Seins. Er erblindet für die Schönheit der Natur, die Schönheit der Mitmenschen, die Schönheit in den schönen Dingen.“ Genau hier liege das Problem, denn: „Schönheit ist eine verantwortungsvolle Antwort auf die Krisen der Gegenwart. Sie wird die Welt schonend in die Zukunft führen.“ Spielerisch und nicht belehrend möchte das Buch in seinen Texten teils ungesehene, auch ungeahnte Schönheiten aufs Neue beschwören, illustriert mit zahlreichen, sorgsam ausgewählten Abbildungen und ergänzt mit Zitaten aus berufenem Munde – von den Denkern der Antike über Humanisten und Philosophen bis hin zu zeitgenössischen Unternehmern.

Auf diese Weise soll Fjodor Dostojewskis Idee „Schönheit rettet die Welt“, die dem Buch seinen Titel gab, beileibe kein leeres Versprechen bleiben. „Schönheit nährt nicht nur die Menschenseele. Schönheit ist nicht nur Grund zur Freude“, so Christoph Quarch. „Schönheit wirkt noch mehr. Wo wir zulassen, dass sie in unsere Seele scheint, kann es uns geschehen, dass wir durch sie verwandelt werden.“ Und so widmet sich das Buch nach seinen einleitenden Betrachtungen ausführlich den Erscheinungsformen der Schönheit – in 30 üppig bebilderten Essays, die sich von der Schönheit des Anfangs über diejenige der Welt, ihrer Facetten und ihrer Lebewesen bis hin zur Schönheit des Abschlusses erstrecken. Zwei Gastbeiträge aus der Feder von Michele de Lucchi und Hajo Eickhoff beschäftigen sich im Anschluss mit der Schönheit der Architektur und der Schönheit der Möbel, denn: „Wer an die rettende Kraft der Schönheit glaubt und den Sinn für die Schönheit seiner Zeitgenossen stärken möchte, tut gut daran, im Nahraum zu beginnen.“





Für boesner hat Sabine Burbaum-Machert mit Kurator Jan Teunen über das neue Buch von Christoph Quarch gesprochen.

K+M: Lieber Herr Professor Teunen, wie rettet Schönheit die Welt?

J.T.: Die genaue Antwort auf diese Frage wird auf den ersten beiden Seiten unseres Buches gegeben. „Schönheit rettet die Welt.“ Fjodor Dostojewskis viel zitiertes Wort ist kein leeres Versprechen. Es ist eine Verheißung, die der in Not geratenen Menschheit des 21. Jahrhunderts in Erinnerung zu rufen lohnt: Weder avancierte Technologien noch wissenschaftliche Erkenntnisse, weder wirtschaftliches Wachstum noch politische Intervention, weder religiöse Gebote noch moralische Appelle werden die Welt retten – sondern die stille, unscheinbare Macht der Schönheit. Ihr allein eignet die Kraft zu einer tiefgreifenden Transformation. Sie ist es, die Menschen berührt und bewegt. Schönheit wirkt. Sie vermag Begeisterung zu wecken. Sie stimmt Menschen positiv. Sie setzt ihre besten Kräfte frei.

K+M: Bekanntlich liegt die Schönheit auch im Auge des Betrachters – die Auffassung von Schönheit scheint demnach sehr individuell. Wie lässt sich demgegenüber Ihre Definition von Schönheit fassen? Und: Wo verläuft für Sie die Trennlinie zwischen dem Schönen und dem Hässlichen?

J.T.: Es war der englische Philosoph David Hume, der 1777 in seinem Essay „Of the Standards of Taste“ die Idee, dass Schönheit im Auge des Betrachters liegt, populär gemacht hat. Dreizehn Jahre später sprach Immanuel Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft“ von „interesseloses Wohlgefallen“. Christoph Quarch schreibt dazu: „Was diesen Zustand kennzeichnet, hat Kant als Gefühl der Freiheit beschrieben. Wer Schönheit erlebt, so argumentiert er, ist frei davon, mit demjenigen, was ihm begegnet, irgendetwas anfangen zu müssen: Weder muss er verstehen, worum es sich handelt oder wozu es gut ist, noch muss er seinen Warenwert ermessen oder seine Nützlichkeit errechnen. Nein, er darf „ganz Auge“ sein und sich dem reinen Wahrnehmen anheimgeben. Das, was ihn in Wohlgefallen schwelgen lässt, geht ihn nichts an. Deshalb fühlt das Subjekt sich angesichts seiner frei und unbeschwert. Es ist ganz bei sich, die Schönheit spielt allein in seinem Auge.
Damit ist der Grundstein gelegt zu einem ästhetischen Weltgewahren, das sich fortan aus der Welt zurückzieht und Schönheit nur noch als Konstrukt des wahrnehmenden Subjekts kennt. Sie ist nichts, was den Menschen angeht oder einen Anspruch an ihn stellt. Sie ist nichts, was sich ermessen und in Szene setzen ließe. Das, was sich ermessen und in Szene setzen lässt, ist nicht die Schönheit, sondern das interesselose Wohlgefallen bzw. das Gefühl der Freiheit, das es im Subjekt erzeugt.“
So viel zur subjektiven Schönheit und zu subjektiven Hässlichkeit. Natürlich existiert auch die objektive Schönheit, um die ist es uns in unserem Buch zu tun. In seinen „Fünf Meditationen über die Schönheit“ schreibt Francois Cheng: „Die objektive Schönheit existiert, doch solange sie nicht gesehen wird, ist sie vergeblich“. Wo die Trennlinie zwischen der objektiven Schönheit und die objektive Hässlichkeit verläuft, ist schwer zu sagen. Beide haben mit Emotionen zu tun und die waren bereits da, bevor die Sprache sich entwickelt hat. Wahrscheinlich haben wir noch nicht genügend Wörter, um die Phänomene „schön“ und „hässlich“ genau zu beschreiben und die Trennlinie zu benennen.

K+M: Was verstellt Ihres Erachtens den Blick auf die Schönheit und ihre tief gehende Wahrnehmung? Um mit Rilke zu sprechen: Warum werden die Schönheiten der Welt für uns Zeitgenossen zunehmend unsichtbar?

J.T.: Christoph Quarch hat es wunderbar beschrieben: „Der Mensch der Gegenwart ist Konsument. Das ist die Rolle, die ihm eine globale Ökonomie zuweist, die Wertschöpfung durch Wachstum generiert. Als Konsument verhält er sich zu allem, was ihm in der Welt begegnet, entweder als Nutzer oder als Verbraucher. Menschen, Dinge, Dienstleistungen oder Daten: Alles ist ihm eine Ware, die er sich zu eigen oder auch zunutze machen kann, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, seine Wünsche zu erfüllen oder seinen Interessen zu genügen. Das, was ihm begegnet, wird als Gegenstand von ihm gebraucht oder verbraucht. Er geht damit um, aber es geht ihn nichts an. Und dies umso weniger, als er im Zeitalter des Konsumismus fortwährend mit neuen Waren überflutet wird; ganz gleich, ob es sich um materielle Güter oder um immaterielle Daten handelt. Um den Strom des Brauchbaren und Nutzbaren nicht abreißen zu lassen, stellt eine konsumgetriebene Wirtschaft fortwährend neue Produkte bereit, die es ob ihrer bloßen Menge und ob der Geschwindigkeit ihres Erscheinens unmöglich machen, eine Beziehung zu ihnen aufzubauen. Sie kommen und gehen, werden gebraucht oder verbraucht – sie ziehen am Konsum vorbei, doch sie sprechen ihn nicht an.
Der Konsument der Gegenwart gewahrt nicht mehr, was ihm begegnet. Er nimmt es an, ein oder auf, aber er nimmt es nicht wahr. Er geht damit um, aber es geht ihn nichts an. Es wird ihm gleichgültig, er billigt ihm keine Würde zu, sondern allenfalls einen Wert. Seine Wertschätzung aber bemisst sich nur noch nach dem Nutzwert, den er selber festlegt – oder nach dem Warenwert, den der Markt ihm zuweist. So entzieht sich ihm die Welt. Sie spricht ihn nicht mehr an. Das Leben des modernen Konsumenten ist ein anspruchsloses Leben. Nichts mehr ist ihm ansprechend. Nichts mehr ist ihm schön.
All das macht uns Menschen blind für Schönheit. Sie entzieht sich unseren Augen. Unsere Augen werden müde, und den Menschen mit den müden Augen kommt die Welt abhanden, deren Schönheit sie zu neuem Leben wecken könnte.“

K+M: Der Schönheit in diesem Sinne wohnt die Kraft zur Transformation inne – in welchen Erscheinungsformen ist sie erfahrbar?

J.T.: Im Kosmos, in den Sternen, in unserer Mutter Erde, in der Natur, in den Mitmenschen, in der Liebe, in der Gemeinschaft, in den Ritualen und, und, und. In unserem Buch gehen wir auf 33 von 1.000 Phänomenen ein, in denen Schönheit manifest wird.

K+M: Welche Konsequenzen ergeben sich idealerweise aus Ihrem Konzept – sei es für die Gesellschaft im Allgemeinen, sei es für das Individuum?

J.T.: Die erklärte Absicht unseres Buches ist es, viele Augen für die Schönheit wieder zu öffnen. Letztendlich, damit die Kinder und die noch nicht Geborenen irgendwann eine lebenswerte Welt von uns erben.

K+M: Herzlichen Dank für dieses Interview, Herr Professor Teunen!





Von der Schönheit und anderen Werten



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