Der belgische Künstler Rinus Van de Velde konstruiert auf seinen oft wandfüllend großen Kohlezeichnungen eine fantasievolle Gegenwelt zu unserem digitalen Alltag. Im Mittelpunkt seiner bühnenbildartigen Settings steht dabei meist er selbst – in Form der unterschiedlichsten Alter Egos.
„Meine Arbeit basiert auf der Idee, dass ich selbst der Hauptdarsteller in einer fiktionalen Autobiografie bin“, sagt der 1983 in der flandrischen Universitätsstadt Leuven geborene, heute in Antwerpen lebende belgische Künstler Rinus Van de Velde.
Auf überwiegend großformatigen Kohlezeichnungen exklusiv in Schwarz-Weiß versetzt der Künstler sein fiktionales Alter Ego in narrativ aufgeladene, oft an Filmsets erinnernde Interieurs. Er lässt Protagonisten der jüngeren Kunstgeschichte auftreten, aber auch Wissenschaftler, Abenteurer, Expeditionsleiter oder wie in seiner Ausstellung „The Lost Bishop“ 2012 im Stedelijk Museum Schiedam: Schachspieler. Das als Match des Jahrhunderts in die Schachgeschichte eingegangene Duell zwischen dem Amerikaner Bobby Fisher und dem Russen Boris Spassky bannte Van de Velde auf eine 9 x 3 Meter große, frei im Raum aufgespannte Zeichnung. Nicht jedoch ohne die Vorlage zu verändern. Van de Velde selbst schlüpfte in die Rolle des Amerikaners.
Auf einer 2013 entstandenen Zeichnung wiederum treffen der Konzeptkünstler Sol LeWitt, die für ihre Scherenschnitte bekannte Kara Walker, der Bildhauer und Poet Jimmie Durham, der berserkerhafte Maler Josh Smith und als Grandseigneur der für sein kreisrundes Brillenmodell bekannte Architekt Philip Johnson in einem großen Atelierraum aufeinander. Alle sind fleißig bei der Arbeit. Im Zentrum der 180 x 300 cm messenden Leinwand steht jedoch Rinus Van de Velde selbst, sichtlich angetan von der Präsenz der von ihm bewunderten Helden.
Auf Zeichnungen wie diesen tritt Rinus Van de Velde in das Leben anderer ein und begibt sich ein ganzes Stück weit in deren Perspektive. So wie wir uns als Leser eines Romans vielleicht in die Rolle des Protagonisten hineinversetzen oder unter Umständen sogar zeitweise mit ihm verschmelzen. Da er jedoch selbst der Autor ist, behält er natürlich die Zügel in der Hand. Er kann den Fortlauf seiner Geschichten bestimmen, kann sie unerwartete Wendungen nehmen lassen oder sie abrupt beenden. Fast so wie ein Drehbuchautor oder Filmregisseur.
Van de Velde schlüpft dabei in die unterschiedlichsten Rollen. Wiederholt hat er sich bereits legendäre Figuren der Kunstgeschichte, insbesondere Vertreter der Avantgarden des 20. Jahrhunderts, zum Vorbild genommen. Zum Beispiel die Maler Ellsworth Kelly oder Franz Kline. Ebenso gern oder vielleicht sogar noch lieber mimt er aber auch den Part von längst vergessenen Helden, Außenseitern oder spleenigen Eigenbrötlern. So hat er sich als verhinderten Tennisstar, aber auch als Hypochonder im gestreiften Schlafanzug gezeichnet. Er selbst sagt, er erfülle sich dadurch einerseits Wünsche, andererseits aber beruhige er auch seine Ängste. So werden Träume, Tagträume, geheime Projektionen oder Utopien zu Zeichnungen. Angesichts der oft kinoleinwandgroßen Formate kann das jedoch nicht mit derselben Beiläufigkeit geschehen wie etwa auf einem gewöhnlichen Skizzenblock. Rinus Van de Veldes Arbeitsweise erfordert einiges an Vorbereitung.
Zeichnen ist sein täglich Brot
„Früher habe ich eine Zeichnung pro Tag gemacht, aber das ist schon eine ganze Weile nicht mehr so. Im Lauf der Zeit ist das Zeichnen an sich zu bloß noch einem Aspekt meiner Arbeit geworden. Zugegebenermaßen ist es natürlich nach wie vor der wichtigste und der finale Schritt, aber drum herum passiert ebenfalls eine ganze Menge“, so Van de Velde. Was er damit andeutet, ist der enorme Arbeitsaufwand, der vor den eigentlichen Akt des Zeichnens tritt. Das Entwerfen und Konstruieren der Bühnenbilder, vorbereitendes Fotografieren, Recherchetätigkeiten, die Auswahl der anderen Protagonisten, das Lichtdesign usw. nehmen viel Zeit in Anspruch. Der Aufwand, den Van de Velde betreibt, gleicht dabei fast dem einer kleinen Film- oder Theaterproduktion.
Während er zu Beginn seiner Karriere auf sein umfangreiches Archiv mit sogenanntem Found-Footage-Material, also Vorlagen aus Fotografien, Büchern, Magazinen oder dem Internet, zurückgegriffen hat, baut er die bühnenbildartigen Settings, in welchen seine aktuellen Zeichnungen spielen, heute 1:1 in seinem Studio auf. „Das Problem mit den gefundenen Bildern bestand darin, dass ich mich von dem Sehvergnügen, welches einem alte Fotografien bereiten, habe aufsaugen lassen und daher immer wieder bei denselben Fotografen hängengeblieben bin. Ich wollte aber nicht, dass sich in meinem Werk alles nur um die Aneignung dieser Ästhetik dreht, aus diesem Grund habe ich dann damit angefangen, meine eigenen Bilder zu erfinden – auch um nicht in die Nostalgiefalle zu tappen.“
Das ist ein extrem aufwändiger Prozess, in welchem er es sich nicht gerade einfach macht. Er transportiert nicht etwa reale Fundstücke ins Studio, um diese dann zu fotografieren und im nächsten Schritt zu zeichnen. Die meisten seiner Requisiten baut er selbst. Benötigt er etwa, wie jetzt für seine gerade zu Ende gegangene Ausstellung „Donogoo Tonka“ im S.M.A.K. in Gent ein Auto oder ein kleines Fischerboot, so werden diese aus Holz, Pappe, Plastikfolie, Kunststoff, Metall, Textilien und diversen anderen Materialien nachgebaut.
Ein Billardtisch, eine abgebrochene ionische Säule, ein Bartresen, ein wandfüllendes Zettelkastenarchiv, Sitzmöbel aller Art und Größe, Tische, Schränke, Dschungelpflanzen, eine gigantische, alles verschlingende Flutwelle: All das kommt auf Van de Veldes jetzt in Gent präsentierten Zeichnungen vor – und wurde zuvor im Studio gebaut.
In der letzten Zeit, so auch in Gent, ist Rinus Van de Velde teilweise dazu übergegangen, die Bühnenbilder in seine Ausstellungen zu integrieren. Diese betrachtet er aber nicht so sehr als autonome Skulpturen oder künstlerische Endprodukte sondern eher als Überbleibsel eines Prozesses. Er erlaubt dem Betrachter so einen Blick hinter die Kulissen und unterstreicht damit aber auch die Konstruiertheit seiner Werke. In der Genter Ausstellung waren jetzt neun großformatige Zeichnungen zu sehen, die sich auf die filmisch aufgeladene Erzählung „Donogoo Tonka ou Les miracles de la science“ aus dem Jahr 1920 des französischen Schriftstellers Jules Romains beziehen. Alles dreht sich um eine brasilianische Fantasiestadt. Ebenso ausgestellt waren vier bühnenbildartige Settings, die Van de Velde während des Zeichnens benutzt hatte.
Gefragt, ob er sich aus Narzissmus oder Eitelkeit zum Objekt seiner Zeichnungen macht, antwortet Rinus Van de Velde eher pragmatisch: „Nein, es ist einfach, weil ich mir selbst ja immer zur Verfügung stehe. Darum bin ich auch so interessiert an jemandem wie Cindy Sherman, der es ja auch gelingt, ein Werk rund um ihre eigene Person zu entwickeln. Aber es gibt auch noch ganz praktische Gründe. In meiner Arbeit geht es eigentlich gar nicht so sehr um mich selbst.“
Es gibt diesen einen Moment, der eine ganze Geschichte suggeriert.
Heute arbeitet Rinus Van de Velde mit Bühnenbildnern und einem professionellen Fotografen zusammen. Ist das gewünschte Setting fertig, müssen dann alle Protagonisten, meist sind das die Freunde des Künstlers, eine stille Pose einnehmen wie auf einem Tableau vivant. Auf der Basis des dann entstehenden Fotos entsteht dann die Zeichnung. Van de Velde: „Es gibt diesen einen Moment, der eine ganze Geschichte suggeriert. Die Bildunterschrift gleicht den Texttafeln in einem Stummfilm. Zuerst sieht man die Szene und dann den Zwischentitel mit den Erläuterungen zu dem, was da gerade zu sehen ist.“ Sprache und Bild ergänzen sich also bei Rinus Van de Velde zu einem komplexen Ganzen. Die Texte wirken dabei oft wie Briefe, Augenzeugenberichte oder Tagebuchnotizen. Sie fungieren jedoch nicht als unmittelbare Kommentare zur zeichnerischen Darstellung. Oft transportieren sie eigene fiktionale Erzählungen. Fiktion trifft also auf Fiktion. Und der Betrachter steht vor der Entscheidung, ob er sich nur die Bilder anschaut oder sich auch auf das Lesen der Texte einlässt. Van de Velde macht da keinerlei Vorschriften. Wie stark man sich von seinen Geschichten absorbieren lassen möchte, das bleibt jedem selbst überlassen.
Mit seiner Alter-Ego-Strategie stellt Rinus Van de Velde essentielle Fragen nach dem Selbstbild des Künstlers in der heutigen Zeit, er stellt der Vielzahl von inszenierten und unechten Bildern im digitalen Zeitalter (Stichworte: Selfie, Verkleidungspraxen wie Cosplay) eine oft überlebensgroße gezeichnete Realität gegenüber, deren Konstruiertheit er gleichzeitig offenlegt. So schafft er sich und uns sein eigenes Universum: Einmalig, unverfälscht und visuell überwältigend.
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