Drei Begriffe prägen das malerische Werk der in Berlin lebenden und zurzeit in Braunschweig unterrichtenden Malerin Kerstin Drechsel ganz besonders: Raum, Alltag und Intimität. Die 1966 in Reinbek bei Hamburg geborene Künstlerin absolvierte an der Hochschule der Künste in Berlin (seit 2003 Universität der Künste) als Meisterschülerin bei dem Maler, Theater- und Opernregisseur Achim Freyer ihre Ausbildung. Womöglich wurde während dieses Studiums bei dem bühnenaffinen Maler sowie durch Kerstin Drechsels Liebe zur Filmkunst die Basis für das ausgeprägte Gespür für Raum, Architektur und Bühne in ihren Gemälden gelegt.
Kerstin Drechsel, deren Atelier sich nahe des Kottbusser Tors in Kreuzberg befindet, wird täglich Zeugin eines stark von Gentrifizierung und Gegenwehr gezeichneten Bezirks. Sie ist Mitglied der Künstlergruppe „Stadt im Regal“[1], die sich seit 1996 immer wieder dem Thema „Stadtumbau, Architektur und Wohnen“ widmet und ortsspezifisch die „gesellschaftlichen, aktuellen und städtischen Bezüge“[2] in den Blick nimmt und multimedial verarbeitet.
In ihren vorwiegend figurativen Gemälden, die Kerstin Drechsel immer in größeren Zyklen und Serien anlegt, widmet sie sich spezifischen Aspekten im Verhältnis von Mensch und Raum. Dabei bildet sie nur selten die Protagonisten ab, widmet sich ihnen aber über den „Umweg“ der unmittelbar von ihnen geprägten Wohnungen. Das heißt, die Anwesenheit der Personen wird in der Abwesenheit sichtbar mittels der von ihnen hinterlassenen Spuren.
RESERVE betitelte Drechsel eine Serie von klein-, mittel- und großformatigen Gemälden, die zwischen 2001 und 2005 entstanden. Sie zeigen Ansichten einer grenzenlos überfüllten Wohnung, in der das Mobiliar und Sanitärgegenstände wie Waschbecken ihrer eigentlichen Funktion beraubt und als Stauraum und Ablagefläche für Utensilien zweckentfremdet wurden. Die Künstlerin wählte verschiedene Perspektiven und wechselte wie in einem Film zwischen Close up, Halbtotale und Totale, um kleinste Details aufgetürmter Objekte, eine ganze Zimmerecke oder von der Tür einen Blick in den Raum hinein zu bieten. Wie mit einer Kamera erfasst Drechsel für die Betrachter aus größerer Distanz und mit Weitwinkel sowohl Ansichten und Einblicke in den Gesamtzustand der Räume und würdigt andererseits das Zusammentreffen verschiedener Gegenstände auf engstem Raum aus der Nahsicht.
In Ausstellungen hat Kerstin Drechsel diese Gemäldeserie nie wie für Kunsträume und White Cubes typisch an der Wand hängend präsentiert, sondern sie auf Ytong-Leichtbausteinen stehend und manchmal sogar in mehreren Schichten übereinander an die Wand gelehnt. Diese bewusst installative Formation der Gemälde bricht das statische Erlebnis des Kunstraums auf und verleiht dem Ensemble den Charakter eines Provisoriums, gar einer Baustelle, und unterstreicht das Prozessuale der Wohn- und Lebenssituation. Kerstin Drechsel ist von der Spannung zwischen Ordnung und Unordnung, ja von Chaos als Anzeichen eines Ergebens in ein völlig mit Dingen überfülltes Leben fasziniert. Diese Faszination überträgt sich auf die Betrachter, die mit ihren detektivischen Blicken die grenzenlose und hierarchiefreie Akkumulation an Dingen abtasten, bevor sie das Drama der überforderten Person erkennen. Um gar nicht erst den Verdacht einer Denunziation aufkommen zu lassen, legt Drechsel keine entschlüsselbaren Spuren zu der realen Person, deren überbordende Materialsammlung sie uns mit ihrer Malerei präsentiert. Dennoch liegen ihren Gemälden ganz reale Situationen zugrunde, die sie fotografisch festhält, um sie als Ausgangspunkt für ihre Bilder zu verwenden, die letztendlich von der Künstlerin erst auf der Leinwand komponiert werden und mitunter stark von den Fotovorlagen abweichen. Die Gemälde „porträtieren“ eine Person, ohne diese jedoch preiszugeben. Drechsels Bilder können in gewisser Weise als Fortsetzung des Sujets Stillleben begriffen werden. Allerdings weniger in der Funktion der klassischen Repräsentanz einer wohlhabenden Klasse über den Umweg des Interieurs, dem Arrangement von Wild, Blumen und Früchten, sondern als realistisches Porträt eines Menschen, dessen eigenwilliges Ordnungssystem leichtfertig nur als psychisches Scheitern verstanden wird. Drechsel sieht in diesem strukturierten Chaos auch einen Akt der Rebellion und Anarchie gegen ein „vorgeschriebenes“ und bürgerliches System der Ordnung aus mannigfaltigen Gründen, wie z.B. dem erlittenen Mangel der Kriegsgeneration.
Ein besonderes Charakteristikum von Kerstin Drechsels Malstil besteht in Farbgebung und -auftrag, der nie pastos ist. Im Gegenteil, Drechsel verdünnt unter anderem mit Terpentin die Ölfarben sehr stark und gibt ihnen so eine Anmutung von Transparenz und Luzidität, als ob es sich bei den Bildern um leicht verblichene Fotos handeln würde, die einen Teil ihrer farblichen Dynamik eingebüßt haben. Ein Effekt, der die Bilder trotz malerischer Prägnanz und am Realismus orientierter Figuration etwas entrückt und damit Teil eines Erinnerungsprozesses werden lässt. Vielleicht, so könnte gemutmaßt werden, ist der Titel RESERVE von dreifacher Bedeutung? Reserve als Vorrat, den die Person in ihrer Wohnung angelegt hat und aber auch als eine deutliche „Reserviertheit“ und Distanz gegenüber den herrschenden Formen von Leben und Ordnung und drittens als Reservierung eines Platzes.
Die konzeptuelle „Politik“ der Porträtierung einer Person über die unmittelbare und höchst persönliche Umgebung verfolgte Drechsel auch bei einer anderen Serie, die mit dem Titel an J.R.R. Tolkien erinnert, der besonders mit seinen gleichermaßen fantastischen wie epischen Werken „Der Hobbit“ (1937) und „Der Herr der Ringe“ (1954/1955) zu Weltruhm gelangte. Schauplatz seiner großangelegten Mythologie ist „Mittelerde“. Nach diesem von Tolkien erfundenen Kontinent, einer Art Zwischenwelt, die sich sowohl aus der Realität als auch aus der Welt der Fiktion, der Vorstellung und des Traumes speist, benannte Drechsel eine Serie von Bildern, mit denen sie Szenen aus dem Zimmer eines ungefähr 30-jährigen Bekannten malte.
Während Drechsel für MITTELERDE die Farben ebenso stark verdünnte wie auch für RESERVE, veränderte sie die Farbdynamik und tauchte manche Szenen in ein nahezu unwirkliches bläuliches Licht. Die Fluidität der Farbe hinterließ in einigen Bildern derartig deutliche Spuren, die zu einem Effekt der Abstraktion führten und die Grenzen zwischen den wenigen deutlich umrissenen Gegenständen und der lasierenden Farbe zerfließen lassen.
„Mich interessiert auf jeden Fall der Prozess. Zugleich bin ich eine gegenständliche Malerin, aber man kann heute sowieso nicht mehr von gegenständlich und ungegenständlich reden. Ich will etwas erzählen oder Zustände beschreiben.“[3]
Neben einer weiteren „Porträt“-Serie UNSER HAUS (2005), in der sich Drechsel dem Wohn- und Lebensraum einer ganzen Familie im bürgerlichen Ambiente widmete, hat sie sich in dem 2005–2008 entstandenen Zyklus ciné ebenso liebevoll wie detailliert mit der Faszination Kino befasst. Interessanterweise nähert sie sich wie in einer Kamerafahrt von außen den Kinogebäuden und -fassaden, dringt in das Foyer mit der Kasse und den Süßigkeiten ein, um schließlich im Projektions- und schlussendlich im Zuschauerraum zu landen. Ihr Blick erfasst aber nicht nur die architektonische Situation, sondern ebenso präzise die Situation des kollektiven Genusses, indem sie die intimen Gesten der Zuschauer einfängt. Diese Serie ist eine Hommage an das Kino als Institution und kollektives Ereignis, das im Abtauchen aus dem Alltag und dem Eintauchen in andere Welten in einem abgedunkelten Raum besteht. Neben der Filmkunst, die in vielen Serien Drechsels entweder als Zitat, Referenz oder Methodik Bedeutung hat, spielt ebenso Sexualität und Pornografie eine wichtige Rolle. Da sind die skulpturalen Objektkästen In Wärmeland # 2, in denen Drechsel klischeehafte und aus pornografischen Magazinen bekannte Szenen mit Puppen in Szene setzt. Die Puppen modellierte die Künstlerin aus Trickfilmknete und stattete sie mit Barbie-Accessoires aus. Für Drechsel handelt es sich um Filmsets in der Barbiewelt mit zum Teil absurden Szenen und Stellungen. Durch die fast schon karikaturhafte Dramaturgie und Figuration einerseits und eine Aneignung im lesbischen Kontext andererseits unterläuft Drechsel die massenhaften, vor allem heterosexuell geprägten, szenischen Narrative.
Mit befreundeten Frauen erarbeitete Drechsel in Fotosessions Szenen in einem Darkroom eines Schwulenclubs und nutzte die fotografischen Bilder als Vorlagen für eine sehr intime Serie, die sie unter dem Titel If you close the door 2008–2012 schuf. Dort sind schemenhaft Frauen zu sehen, Blicke werden getauscht, erotische Begegnungen bahnen sich an. Es folgen Situationen, die Frauenkörper in intimsten Positionen ineinander verschränkt, tastend, fühlend, streichelnd und leckend zeigen. Die Bilder, wiederum luzide, zart und von einer betörenden Farbigkeit, wirken fast kontrapunktisch zu den sexuell expressiven und ekstatisch aufgeladenen Szenen lesbischer Erotik. Die Intimität der Szenen stellen die Betrachter auf die Probe und evozieren das Gefühl, unberechtigterweise Zutritt zu erhalten und die Rolle eines Voyeurs einzunehmen. Dies gilt auch für die Serie POSTER_BOX Teil 1, in der Kerstin Drechsel Momente einer Lesben-Party malte ebenso wie japanische Frauen aus der Wrestler-Szene. Auch hier präsentiert Drechsel sehr intime Szenen von Frauen beim Urinieren oder Koksen mit einer unaufgeregten Selbstverständlichkeit und von ebenso berührender wie zarter Schönheit.
Mit Öl und Acryl ausschließlich auf Holztafeln hat sich Kerstin Drechsel von 2011–2015 mit dem Verhältnis von Frauen zu ihren Müttern auseinandergesetzt. Für diese Arbeit organisierte sie Treffen im Kreis von Frauen unterschiedlichen Alters, die um eine Tafel, bestehend aus aufgebockten Türblättern, saßen und sich über die komplexen Themen Mütter-Töchter-Verhältnis, Coming of Age, lesbische Liebe, Transsexualität, Identität, familiäre Gewalt und Unterdrückung austauschten. Anschließend bemalte sie die Türblätter, übertrug eindrückliche Zitate aus den Gesprächen, Bildmotive und integrierte gemalte Spuren aus Rotwein- und Brandflecken von Zigaretten als Spiel mit Trompe-l‘oeil-Malerei. Die Tischplatten werden in ihrer ursprünglichen Funktion in Ausstellungen ebenso auf Böcken präsentiert. Die Schmalseiten nutzte Drechsel, um Rückseiten von beschrifteten Videokassetten mit thematisch einschlägigen Filmen wie Kimberly Peirces legendärem Tomboy-Drama „Boy’s Don’t Cry“ von 1999 zu malen und erweiterte damit das komplexe Thema referenziell in den Bereich der Filmkunst.
[1] Tina Born, Ursula Döbereiner, Antje Dorn, Kerstin Drechsel, Friederike Feldmann, Heike Klussmann, Valeska Peschke, Birgit Schlieps, Katharina Schmidt, Markus Strieder und bis vor kurzem Daniela von Waberer.
[3] Kerstin Drechsel im Gespräch mit Oliver Koerner von Gustorf. In: Kerstin Drechsel – Mittelerde. Berlin: Vice Versa 2007, S. 49.
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