Die Kunst der Evelina Velkaite entzieht sich einer eindeutigen Lesbarkeit. Landschaft oder Abstraktion? So oder so festigt die Litauerin zunehmend ihre Position in der Kunst. Den Grundstein für die Karriere legte der Freilichtmaler Jankus.
Mit der aus Litauen stammenden Evelina Velkaite treffen wir auf eine junge Frau, die noch am Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn steht und doch bereits durch ihre Ernsthaftigkeit und Konsequenz auf dem Weg ist, sich eine eigenständige Position in der zeitgenössischen Malerei zu erarbeiten. Ihre lichten und dabei farbintensiven Bilder verweigern sich konsequent eindeutiger Lesbarkeit, sie deuten Landschaftliches, Architektonisches, Räumlichkeit an, um dem Betrachter gleich wieder die Gewissheiten zu entziehen über das, was er auf der Bildfläche sieht.
Manchmal ist ihr Ausgangspunkt ein fotografisches Bild, gern ein Pressefoto, das Unfälle, Katastrophen, Chaos und Zerstörung zeigt, welches dann im malerischen Prozess immer weiter reduziert und abstrahiert wird, bis nur noch die räumliche Konstellation, das Raster von Flächen und Farben, stehen bleibt. Gestische Akzentuierungen, eingebaute Fragmente von alltäglichen Gegenständen und schriftliche Einträge lassen ambivalente Bildwelten entstehen, in denen das Ungeplante, Intuitive und vom Zufall bestimmte eine wichtige Rolle spielen. Die Malerin konstruiert und dekonstruiert ihre Bildwirklichkeiten in einem ständigen Prozess von Überlagern, Verdecken, von Freilegen und Aufdecken. Spontaneität und Reflexion halten sich in ihren Bildern in einer sensiblen Balance, Malerei und Zeichnung erscheinen in einer ausgewogenen und spannenden Synthese. Offenheit und Raum für assoziatives Begreifen charakterisieren Velkaites malerische Vorgehensweise ebenso, wie sie die Erwartung der Künstlerin an den Betrachter bestimmen. Der malerische Prozess ist wesentlich einer der Reduktion, des Wegnehmens, Übermalens, der Vereinfachung.
Velkaite hat mit ihrer frischen und gleichzeitig reflektierten Malerei bereits am Beginn ihrer künstlerischen Laufbahn großen Zuspruch erfahren. Nach Studien an der Folkwang Universität der Künste und an der Freien Akademie der bildenden Künste in Essen sie hat kürzlich ein Masterstudium an der Hochschule für Gestaltung in Basel beendet.
Velkaites Bilder vermitteln oft den Eindruck, als seien es gemalte Landschaften, direkte Übersetzungen von etwas in der Realität Gesehenem. Auch wenn dieser Eindruck der Komplexität ihrer aktuellen malerischen Konstruktionen nicht gerecht wird, so ist doch die Landschaft selbst und das Erlebnis von Landschaft ein zentrales Element ihrer Kunst. Ein Blick auf ihre frühe künstlerische Entwicklung und Prägung vermag Aufschluss zu geben über die Bedeutung des Themas der Landschaft in ihrer Malerei.
Evelina Velkaite wird 1982 in Klaipeda, der drittgrößten Stadt Litauens, geboren. Ihre Kindheit verbringt sie in der Hauptstadt Vilnius, doch prägende Erlebnisse und Bilder hinterlassen die alljährlich auf dem Land in Westlitauen verbrachten Sommerferien in der Nähe von Priekule, einem malerischen, am Ufer des Flusses Minija gelegenen Städtchen. Vierzehnjährig übersiedelt Evelina dann nach Priekule, von dort ist es nicht weit bis zur Kurischen Nehrung und bis zur Ostsee. Das Erlebnis der Landschaft Westlitauens, der Žemaitija – Memelland – trägt vielleicht unbewusst bei zur späteren Entscheidung, eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen, bei. In Priekule erhält sie Zeichenunterricht von dem bekannten litauischen Landschaftsmaler Linas Julijonas Jankus. Jankus, ein Freilichtmaler, der in seinen stimmungsvollen, spätimpressionistischen Gemälden die Wald- und Flusslandschaft seiner unmittelbaren Umgebung in immer neuen Ansichten und Perspektiven festhält, vermittelt der jungen Evelina vor allem die Grundlagen des Zeichnens. Sein Wohnatelier, der Geruch der Farben, die zahllosen Gemälde an den Wänden oder aufgestapelt in den Ecken des Ateliers, das Physische, Handwerkliche der Malerei – das sind Eindrücke, die der Malerin bis heute präsent geblieben sind. Einen Sommer lang besucht sie Jankus fast täglich, sitzt stundenlang zeichnend auf dem Dachboden, nimmt schließlich seine Korrekturen entgegen. Später geht sie selbst mit Zeichenblock oder Staffelei in die Natur, ganz in der Tradition der Freilichtmaler, die auch heute noch in der litauischen Kunst eine ernstzunehmende Rolle innehaben.
Mit sechzehn dann der Besuch des Eduardas Balsys Kunstgymnasiums in Klaipeda. Auch nach der Übersiedlung nach Deutschland, wo sie zuerst Kommunikationsdesign, bald darauf freie Malerei studiert, sind es Landschaftsbilder und Stilleben, mit denen Velkaite sich vorrangig beschäftigt. Sie sucht auch hier anfangs nach landschaftlichen Motiven, tiefen Horizonten und unendlich wirkenden Weiten. Landschaftsmotive vom Niederrhein, aus dem fahrenden Auto fotografiert, sind Anregungen für erste malerische Umsetzungen nach ihrem Wechsel ins Ruhrgebiet.
„Sich ins Gedächtnis rufen: Ein Bild ist – bevor es ein Schlachtpferd, eine nackte Frau oder irgendeine Anekdote darstellt – vor allen Dingen eine plane Fläche, bedeckt mit Farben in einer bestimmten Ordnung“: Wenn man vor die luftig gemalten und offenbar klar strukturierten Malereien von Evelina Velkaite tritt, dann sollte man sich den gerade zitierten Gedanken des französischen symbolistischen Malers und Graphikers Maurice Denis, bereits im Jahr 1890 niedergeschrieben, wirklich noch einmal ins Gedächtnis rufen. Denis selbst ahnt damals kaum die Konsequenz seiner Äußerung, die doch nichts weniger ist als eine Absage an die Gewissheit, dass ein Gemälde Wirklichkeit schildert, dass ein gemaltes Bild ein Abbild der Wirklichkeit ist.
Schon zwei Jahrzehnte später – um 1910 – werden Künstler wie Piet Mondrian, Wassily Kandinsky, František Kupka oder auch die erst vor kurzem wiederentdeckte Malerin Hilma af Klint die Malerei von ihrer imitativen Funktion radikal befreien und die abstrakte Kunst ins Leben rufen. Der Bruch für das Selbstverständnis der Malerei durch die vor mehr als einhundert Jahren entwickelte Abstraktion ist einschneidend und beschäftigt auch heute noch die aktuelle Kunst, obschon diese sich durch die rasante Entwicklung unserer Technologie gläubigen Informationsgesellschaft längst an die Unsicherheiten virtueller Realitäten gewöhnt hat.
Auch Velkaites Malerei stellt die Frage nach der Wirklichkeit des Dargestellten, sie bietet dem Betrachter in ihren Bildern Seh- und Sinnangebote, die sich bei genauerem Hinsehen gleich wieder aufzulösen scheinen. Ihr 2011 gemaltes Bild „Wunderschön“ – ausnahmsweise hat die Künstlerin hier einen Titel vergeben – scheint einen Innenraum zu zeigen. Kubische Körper, lineare Einschreibungen und Konturierungen, Collageelemente, sie geben erst einmal die entsprechenden Hinweise. Doch überall lösen die ineinander verlaufende Malerei und die wie schwebend eingebrachten Farbschleier die gerade erst gewonnene Sicherheit wieder auf. Was ist vorn, was in der Mitte und was hinten im Raum des Bildes? Auch die eingeklebten Papiere und Etiketten oder der übermalte, aber gerade noch lesbare Schriftzug „Bitte stehen lassen“ helfen nicht, um der Ambivalenz der Seherfahrung zu entkommen. Das Gefühl, sich des Gesehenen niemals wirklich sicher sein und den eigenen Augen nicht wirklich trauen zu können, ist das Resultat einer intensiven, von Intuition wie von Reflexion, von Zufall und planerischer Konstruktion gleichermaßen bestimmten künstlerischen Vorgehensweise. Der erste Bildentwurf unterliegt einem Prozess der beständigen Reduzierung, bei dem die am Anfang noch sichtbaren gegenständlichen Elemente fortschreitend eliminiert werden – durch Übermalung, Verfremdung, Veränderung, gestische wie skripturale Eingriffe und Akzentuierungen. Komplizierte Einzelformen verwandelt die Künstlerin in stark vereinfachte Kompositionselemente, die sich auf den ersten Blick als homogene Farbflächen, auf den zweiten Blick allerdings als aus vielfachen Übermalungen entstandene und in vielen Nuancen schimmernde Farbkörper erweisen. Der Prozess der Bildwerdung ist in ihnen eher zu spüren oder zu ahnen, als man ihn wirklich festmachen könnte. Nach dieser meist großflächigen Beruhigung trägt Evelina Velkaite durch zeichenhafte und zeichnerische Einschreibungen, durch malerisch-gestische Akzente, wieder zu einer Beunruhigung und Infragestellung des gerade erst hergestellten „Friedens“ auf der Bildfläche bei. Sie versucht diese beiden Pole in einer harmonischen und gleichzeitig dynamischen Balance zu halten, Beruhigung und Störung als die zwei konträren Teile eines Ganzen zu akzeptieren.
Ohne Titel, 2014, zweiteilig, je 110x95 cm, Öl, Lack auf Leinwand
Foto: Ferdinand Ulrich
Ohne Titel, 2014, zweiteilig, je 110x95 cm, Öl, Lack auf Leinwand
Foto: Ferdinand Ulrich
Die meisten ihrer Bilder haben ihren Ausgangspunkt in Fotografien, in selbst aufgenommenen Fotos, auf in Katalogen und Zeitungen gefundenen Abbildungen, und besonders in den Reportagefotos der Rubrik „Bilder der Woche“ einer viel gelesenen Illustrierten. Mal ist es die Aufnahme einer Installation eines Künstlers mit Alltagsgegenständen, die wie bei „Wunderschön“ das Interesse der Malerin erweckt, mal sind es Fotos von menschenleeren Industriebrachen, urbanen Architekturen oder auch Naturlandschaften – sehr oft allerdings ziehen die „Bilder der Woche“ mit ihren verheerenden Natur- oder Unfallkatastrophen, ihren Bildberichten von den Kriegs- und Kampfplätzen der Welt den Blick Velkaites auf sich. Was haben die zerschossenen Häuserfassaden im irakischen Homs, die verstreuten Wrackteile einer Flugzeugkatastrophe oder die zusammen geschobenen Schiffs- und Häuserrelikte eines Tsunami gemeinsam außer, dass sie tausendfaches Leid, Sterben und Vernichtung dokumentieren?
Velkaite nimmt diese Bilder zuerst einmal als visuelles Angebot, dessen Strukturen, Proportionen, Muster und Raster sie aufgreift, um sie im Malprozess allmählich bis zur Unkenntlichkeit wieder verschwinden zu lassen, bis der Bildanlass nicht mehr erschließbar ist. Die Fotos der Katastrophen spiegeln für sie eine nicht mehr vom Menschen beherrschbare Ordnung, eine irrationale, den menschlichen Verstand sprengende Systematik, eine visuelle Gestalt an den Grenzen des Verstehbaren. Hier setzt die Künstlerin ein, überlagert, verdeckt, transformiert Dunkles und Düsteres in eine leuchtende, aber auch trügerische Helle, macht unsichtbar, ungreifbar. Doch das emotionale Element, das Berührtsein, verschwindet nicht ganz, mag sich demjenigen, der um die Bildvorlagen weiß, vielleicht erschließen in der oft trügerisch schönen Farbigkeit, in den manchmal heftigen gestischen Einträgen oder im nachträglich eingebrachten zeichnerischen Linienspiel, in dem Gegenständliches silhouettenhaft auftauchen kann. Velkaite verweigert aber auch hier Eindeutigkeiten, sie bietet Raum für Assoziationen und Projektionen, ohne jemals ins Erzählerische, Anekdotenhafte und Benennbare abzugleiten.
Das Ereignisbild, als Spezialgenre des Historienbildes einstmals in der Gattungshierarchie der europäischen Malereitradition ganz oben stehend, kehrt bei ihr nicht durch die Hintertür zurück. Sie verfolgt ihren künstlerischen Weg konsequent weiter, der sie von der Darstellung der Landschaft zu einem freien, assoziativen Spiel mit Farben, Formen, Linien und Perspektiven geführt hat. Ein Drahtseilakt über unbekanntem Terrain, dem die Künstlerin in jüngster Zeit eine neue Richtung zu geben scheint, indem sie ihr malerisches Feld um gänzlich abstrakte, zum Teil geometrische Formen aufgreifende Kompositionen erweitert.
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