Brigitte Waldach, gekürt mit dem Marta-Preis der Wemhöner-Stiftung, verbreitet in Herford Schimmer & Glanz.
Das Lob kam aus berufenem Munde: Als Brigitte Waldach 2019 im Osnabrücker Felix-Nussbaum-Haus ihre Ausstellung „Existenz“ zeigte, geriet Daniel Libeskind ins Schwärmen. Der international renommierte Architekt, der das Gebäude entworfen hat, schrieb im Katalog: „Brigitte Waldach has created a stunning, original and highly specific work that brings Felix Nussbaum’s spirit to an unexpected rebirth in a museum dedicated to him.“ Die Installation der 1966 geborenen Berliner Künstlerin kreiste um das tragische Schicksal des jüdischen Malers Felix Nussbaum, der 1944 von den Nazis im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet wurde. Ein bedrückendes, ein existenzielles Thema, das Waldach souverän meisterte. Aus Fäden, die durch den Raum gespannt waren, aus Schrift- und Soundelementen, mit Zitaten aus Briefen des Künstlers und dem Davidstern hatte sie in Osnabrück ein eindringliches Netzwerk gewoben – formal reduziert, reich an inhaltlichen Bezügen.
Es sind profunde Arbeiten wie diese, die der ehemaligen Meisterschülerin von Georg Baselitz den Marta-Preis der Wemhöner Stiftung 2020 eingetragen haben. Die begleitende Ausstellung im Marta Herford, betitelt „Schimmer & Glanz“, konzentriert sich auf drei Werkgruppen, die dem Schauen und Denken reichlich Material bieten. Der Bach-Zyklus „Die Goldberg-Variationen“ (2019) sowie die neue Zeichnungsserie „Schweigen“, von der eine Arbeit in die Sammlung des Marta-Museums übergeht, werden ergänzt durch die ortsspezifische Installation „Schimmer und Glanz“.
Zwar haben sowohl Sehen als auch Lesen mit visueller Wahrnehmung zu tun. Doch unterscheiden sie sich darin, dass das Sehen sämtliche Lichtreize eines bestimmten Feldes gleichzeitig ins Visier nimmt, während man beim Lesen von Wortgruppe zu Wortgruppe springt. Erfasst der Leser in einem linearen Prozess sprachlich formulierte Gedanken, so ist die Verarbeitung optischer Eindrücke in einem vorsprachlichen Bereich angesiedelt. So verhält es sich normalerweise. Anders dagegen die Lesart des Betrachters, der vor einer Arbeit von Brigitte Waldach steht. Hier gehen bildliche und schriftliche Zeichen nicht nur eine Allianz ein. Vielmehr verschmelzen sie zu einer Art Metasprache, die sowohl an den Schaulustigen als auch an den Wissbegierigen appelliert.
Was heißt das konkret? Halten wir uns an Waldachs „Goldberg-Variationen“, die in der Präsentation des Marta Herford breiten Raum einnehmen. Johann Sebastian Bachs „Clavier Übung bestehend in einer Aria mit verschiedenen Veraenderungen“, komponiert 1742, gilt als kardinales Werk der Musikgeschichte. Doch was Einfallsreichtum und kompositionelle Konsequenz angeht, stehen die 30 großen Grafitzeichnungen Bachs „Dreißig Veränderungen über eine Aria“ in nichts nach. Dessen Gliederung der Komposition in Dreier-Gruppen greift die Künstlerin auf, indem sie ihren Zyklus als Folge von Triptychen anlegt und drei Persönlichkeiten in den Vordergrund rückt: Bach selbst, Glenn Gould, jenen Pianisten also, dessen Einspielung der „Goldberg-Variationen“ Kultstatus genießt, und Thomas Bernhard – der österreichische Schriftsteller hat 1983 drei Konzertpianisten (Gould darunter) zu den Helden seines Romans „Der Untergeher“ gemacht und dabei Form und Zahlenordnungen der „Goldberg-Variationen“ aufgegriffen.
Die Gouachen binden Musiknoten, Zitate der drei Protagonisten und „herkömmliche“ Bildelemente in eine stimmige Komposition ein, deren samtiges Schwarz allein durch Bleistiftauftrag erzielt wurde. Diese große Nachtmusik, frei nach Bach, nötigt nicht zuletzt als Fleißarbeit Respekt ab. Damit nicht genug: Drei der Triptychen nehmen mit topografischen Details Bezug auf die Geburtsorte von Bach, Bernhard und Gould, nämlich Eisenach, Salzburg und Toronto. Mehr noch: Die Konstellation des Sternenhimmels auf diesen drei Blättern hat Waldach sorgfältig rekonstruiert – sie entspricht exakt jener stellaren Gemengelage, wie sie bei der Geburt der Goldberg-Protagonisten anzutreffen war. Ferner kehrt das Dreier-Prinzip wieder bei Grundrissen von Kirchen, die in Eisenach, Salzburg und Toronto stehen. Schließlich macht es sich bei den Porträts der drei Referenzfiguren geltend, strukturiert verschiedene andere Variationen und gipfelt im Motiv eines kosmischen Wurmloches – in vielen Science-Fiction-Romanen ein probates Instrument, um Reisen im Weltraum zu beschleunigen. Bei Waldach ist es ein fulminanter Schlussakkord, der unsere Vorstellung von Raum und Zeit aushebelt, bevor mit der letzten „Aria“, ein All-over von abstrahierten Noten, der Vorhang fällt.
Brigitte Waldachs „Goldberg-Variationen“ könnten zu dem Schluss verführen, diese Künstlerin lasse sich bei ihren Raumzeichnungen und Installationen ausschließlich von den überzeitlichen Kronjuwelen der Kunst- und Kulturgeschichte inspirieren. Ein Irrtum. Dass ihre Werke gleichermaßen in Politik und Gesellschaft der Gegenwart und der jüngeren Zeitgeschichte verankert sind, beweisen vielleicht am nachdrücklichsten die Arbeiten zum Thema „Deutscher Herbst“. Den Terror der Roten Armee Fraktion (RAF), 1977 gipfelnd in der Entführung und Ermordung Hanns Martin Schleyers, der Kaperung des Lufthansa-Flugzeugs Landshut und den Selbstmorden von inhaftierten RAF-Mitgliedern, verarbeitete Waldach in einer Serie von Zeichnungen mit rotem Pigmentstift. Ein aufwühlendes Thema, nach wie vor, ein Stoff, der zu drastischen bildnerischen Statements reizt. Reißerisches jedoch wird man in Brigitte Waldachs Umgang mit diesem kontroversen Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte nicht finden. Kammermusik statt Orchesterfurioso, so könnte man den Tenor überschreiben.
Auch hier geben dichte Textwolken mit Schlüsselpassagen aus RAF-Schriften einen subtilen Kommentar zu den dargestellten Figuren und der minimalistischen Hintergrund-Szenerie. Angeregt durch Margarethe von Trottas Film „Die bleierne Zeit“ (1981), rückt Waldach Gudrun Ensslin und deren Schwester, die Journalistin und Frauenrechtlerin Christiane, in den Mittelpunkt. Die an ihre Schwester gerichteten Briefe der in Stuttgart-Stammheim einsitzenden RAF-Mitbegründerin lieferten den textlichen Rohstoff, der in den Zeichnungen als Gedankenblase oder verbindendes Band zwischen den Schwestern dient. Großartig das Triptychon „Die Welle – Moby Dick“: Hier verknüpft Waldach den Selbstmord der vier RAF-Terroristen mit Herman Melvilles Roman „Moby Dick“ – im Zentrum der hasserfüllte, fanatische Kapitän Ahab, der einen weißen Pottwal jagt, bis zum letzten Atemzug. Aus Melvilles Buch entlehnten die Gefangenen in Stuttgart-Stammheim ihre Decknamen. Andreas Baader, der unbestrittene Anführer, nannte sich „Ahab“, Holger Meins „Starbuck“, Jan-Carl Raspe „Zimmermann“ und Gudrun Ensslin „Smutje“. Leblos dahintreibend in einer Text-Sintflut, gespeist durch Moby-Dick-Zitate sowie Selbstaussagen und Zeitzeugenberichte, zitiert das Bild zugleich Katsushika Hokusais berühmten Farbholzschnitt „Die große Welle vor Kanagawa“.
Passagen aus Briefen der RAF-Mitglieder spielen auch eine Rolle in der Werkgruppe „History Now“, einer Serie von neun Zeichnungen, die 2016 entstand. In dieser Geschichtsbetrachtung setzt sich Waldach zugleich mit dem Phänomen „Schwarmintelligenz“ auseinander. Ausgangspunkt ist die digitale Enzyklopädie Wikipedia, deren Artikel jedermann schreiben, ergänzen oder korrigieren kann. Was nach einvernehmlichem kollektivem Schaffen klingt, artet in der Praxis nicht selten aus in erbitterten Scharmützeln zwischen den Wikipedianern – dann nämlich, wenn es um kontroverse Personen oder Themen geht und jede Änderung oder Löschung sogleich auf den Widerstand der Urheber des Artikels trifft. Hier setzt die Künstlerin an und überführt die Meinungsverschiedenheiten, wie sie bei den Artikeln zu Jesus Christus, Adolf Hitler, Hannah Arendt oder den RAF-Mitgliedern zutage treten, in eine intelligente zeichnerische Form. Auch hier sind die schemenhaften Figuren eingebettet in Textschwaden: Auszüge der verschiedenen Wikipedia-Versionen ergänzte die Künstlerin durch ihr eigenes Wissen über die Dargestellten.
Das Verfahren erinnert an die antiken und mittelalterlichen Palimpseste. Bei diesen Manuskriptseiten wird der ursprüngliche Text abgekratzt oder durch Waschen gereinigt, um Platz zu machen für Neues. War damals der Grund Mangel an Schreibmaterial, so zeugen die Wikipedia-Palimpseste vom Krieg der Worte, der immer größere Bereiche des Internet erfasst. Geschichtsschreibung, auch das lehrt Brigitte Waldachs Werkgruppe „History Now“, ist oft eher Patchwork als Schilderung aus einem Guss. Und auf dem Weg zur historischen Wahrheit lauern etliche Sackgassen.
Auf einen Blick
Ausstellung
Brigitte Waldach: Schimmer und Glanz. Marta-Preis der Wemhöner Stiftung 2020
Ort: Marta Herford, Museum für Kunst, Architektur, Design, Goebenstraße 2–10, 32052 Herford
Dauer: voraussichtlich bis Ende März 2021
Internet: marta-herford.de
Öffnungszeiten
Aufgrund des aktuellen Erlasses des Landes NRW bleibt das Museum Marta Herford mindestens bis zum 31. Januar 2021 geschlossen. Alle Veranstaltungen entfallen in diesem Zeitraum!
Dienstag bis Donnerstag: 11–18 Uhr
Freitag: 11–20 Uhr
Samstag, Sonntag und Feiertage: 11–18 Uhr
Montag geschlossen
Katalog
Der Katalog „Brigitte Waldach: Schimmer und Glanz“ erscheint im Januar 2021
Brigitte Waldach. Schimmer und Glanz.
Marta Herford (Hrsg.), Beiträge von Roland Nachtigäller, Brigitte Waldach und Heiner Wemhöner, dt./engl., 120 Seiten, 80 Abbildungen, 22 x 28 cm ISBN 9783775748520
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