Kolumne

Vom Kuss
der Muse

Ich habe Freunde und Kollegen befragt, mit Künstlern gesprochen und nach Literatur gesucht. Habe kaum einen Hinweis in Nachschlagewerken gefunden und noch weniger Darstellungen im Bild. Manchmal ist es leider so, wenn man ein Thema lange in seinem Kopf bewegt … Eigentlich wollte ich nur wissen: Wie ist das eigentlich mit dem Kuss der Muse? Mit der Inspiration, die Dichter, Denker und Künstler überfällt, mit dieser wunderbaren Metapher für den kreativen Funken, der so vieles in Bewegung setzt?

Warum küsst die Muse überhaupt – sie könnte schließlich auch einen sanften Hauch senden oder zart übers Haar streicheln, die Hand führen oder in die richtige Richtung schubsen. Und wenn es schon ein Kuss sein soll, ergibt sich doch die Frage: Wie ist er denn, dieser Musenkuss? Ein Kuss kann zärtlich sein, gehaucht nur oder sinnlich, ein liebevoller Schmatzer oder ein zartes Busserl, aber auch ungebeten, gestohlen sogar. Einem inspirierten Tipp folgend stieß ich schließlich auf Paul Cézanne und seinen „Traum des Poeten“, auch „Kuss der Muse“ genannt, aufbewahrt im Pariser Musée d’Orsay: Der am Schreibtisch schlummernde Dichter im Schlafrock, barfuß in Pantoffeln und nächtlicher Dachkammer, zart auf die Stirn geküsst von einer blassen Dame mit Engelsflügeln … Doch ursprünglich finden sich bei den klassischen Musen keine Flügel. Sie sind neun an der Zahl, Töchter des Zeus und der Mnemosyne und die Schutzgöttinnen der Künste. Jede hat ihr eigenes Aufgabengebiet: Klio, zuständig für die Geschichtsschreibung (und zu erkennen an ihren Schreibwerkzeugen). Das Theaterspiel mit seinen Masken teilen sich Melpomene für die Tragödie und Thalia für die Komödie. Terpsichore mit ihrer Leier ist für Tanz und Chorlyrik verantwortlich, Euterpe für die Lyrik, Erato für die Liebesdichtung und Polyhymnia für den Gesang. Bei den nächsten beiden wird es eher wissenschaftlich: Urania mit der Himmelskugel steht für die Astronomie, Kalliope mit Tafel und Griffel für Dichtung, Philosophie und Wissenschaft. Sehen kann man sie als antikisch gewandete Damen unter anderem in Raffaels Fresko des „Parnass“ in der Stanza della Segnatura im Vatikan: Gemeinsam mit Apollo und vielen Dichtern bevölkern sie den Ort, der in der Mythologie als ihre Heimat gilt und überhaupt als Inbegriff der Kunst. Doch auch hier: Kein Kuss, nirgendwo … Und wo bleiben die bildenden Künste? Keine eigene Muse? Oder – das wäre wohl am treffendsten – vielleicht alle irgendwie zugleich? Gotthold Ephraim Lessing mahnte jedoch: „Die Musen verlangen Einsamkeit, und nichts verjagt sie eher als der Tumult.“ Und Schiller schrieb seufzend in einem Brief an Goethe: „Die Musen saugen einen aus.“ Man kann ihn verstehen … Wenn Sie mir also bei meiner Suche auf die Sprünge helfen möchten – in Sachen Musenkuss lerne ich gern dazu.

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Profile

Mitglied der boesner-Redaktion, verantwortliche Redakteurin von KUNST & material. Studium der Kunstgeschichte, Romanistik und Neugermanistik in Bochum und Siena. Mehrjähriger Forschungsaufenthalt an der Bibliotheca Hertziana in Rom; 1998 Promotion an der Ruhr-Universität Bochum.

Tätigkeiten als wissenschaftliche Mitarbeiterin, Lehrbeauftragte, Übersetzerin, Autorin und Redakteurin.

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