Interview

Wagnis Form
Ein Gespräch mit Tony Cragg

Seine Skulpturen vereinen Dynamik, Sinnlichkeit und Präzision: Über mehr als vier Jahrzehnte entwickelte sich das künstlerische Schaffen von Tony Cragg mit einem enormen Spektrum von Formen und Materialien. Das Von der Heydt-Museum Wuppertal widmet ihm derzeit eine große Retrospektive: Die Ausstellung „Tony Cragg – Parts of the World“ präsentiert einen wahren Virtuosen der Form und gewährt einen Überblick über das Gesamtwerk eines der bedeutendsten Bildhauer unserer Zeit.

Geboren 1949 in Liverpool, arbeitete Tony Cragg zunächst als Labortechniker in der Chemieindustrie, bevor er u.a. am Royal College of Art in London ein Kunststudium absolvierte. Seit den späten 1970er-Jahren lebt und arbeitet der Künstler in Wuppertal, wo er 2006 den Skulpturenpark Waldfrieden eröffnete. Er war Professor an der Universität der Künste Berlin und an der Kunstakademie Düsseldorf, der er 2009 bis 2013 auch als Rektor vorstand. Zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen würdigen sein Werk, so etwa der Turner Prize, der Praemium Imperiale, Ernennungen zum Chevalier des Arts et des Lettres und zum Commander of the British Empire. Tony Cragg stellte weltweit in zahlreichen bedeutenden Museen aus und nahm mehrfach an der documenta und der Biennale in Venedig teil.

Tony Cragg, Foto: Mart Engelen
Tony Cragg, Foto: Mart Engelen

 

In der Wuppertaler Ausstellung gibt Cragg auf allen drei Etagen des Hauses mit 120 Skulpturen und 150 Zeichnungen, Fotografien und Druckgrafiken einen fundierten Einblick in sein Schaffen von der Studienzeit bis hin zu aktuellen Werken, die teils noch nie ausgestellt wurden. In den Themenräumen zeigt sich eine künstlerische Entwicklung, in der die Materialvielfalt (u. a. Plastik, Glas, Holz, Bronze, Gips, Edelstahl) eine besondere Rolle spielt. Ein weiteres Thema sind die Werkgruppen, die die Beziehung von natürlichen und künstlichen Formen und Strukturen untersuchen, so etwa die frühen Wandarbeiten, Stapelarbeiten, Vessels and Cells, Early Forms und Rational Beings. Parallel zur Ausstellung sind große Außenskulpturen des Künstlers im Skulpturenpark Waldfrieden zu sehen. Anlässlich der Retrospektive sprach Sabine Burbaum-Machert mit Tony Cragg.

boesner: Lieber Herr Cragg, „Parts of the World“ ist Ihre große Retrospektive im Von der Heydt-Museum betitelt. Auf allen Etagen des Museums sind Werke von Ihrer Studienzeit am Royal College of Art in London bis hin zu aktuellen Werken zu sehen: Skulpturen, Druckgrafiken und Zeichnungen zeigen eine künstlerische Entwicklung über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren. Ist der Titel der Ausstellung „Parts of the World“ gleichsam programmatisch für ihr Werk?

„Die Bildhauerei zeigt, was das Material kann.“

Tony Cragg: Das würde ich nicht sagen. Man sucht häufig nach dem Titel für eine Ausstellung, und daher freue ich mich, diesen Titel gefunden zu haben: Er bezieht sich auf meine letzten Arbeiten, die „Parts of the World“ heißen. „Parts“ bezeichnen dabei Teile eines unbestimmten Ganzen. Der Titel ist auch ein wenig poetisch gedacht, angelehnt an ein Gedicht von Robert Lowell, der die Bestandteile der Welt wunderschön beschreibt. Skulpturen sind natürlich dabei eine sehr seltene Kategorie – man sieht nicht überall auf der Welt Skulpturen. An einem ganz normalen Tag stellen die Menschen Unmengen ganz normaler Dinge her – von den Mahlzeiten über Maschinen bis hin zu Chemikalien etc. – aber sie stellen an einem Tag nur sehr wenige Skulpturen her. Und trotzdem gehört die Bildhauerei zur Welt. Sie ist ein sehr wichtiges Element, weil sie nicht zu utilitären Zwecken hergestellt wird und einen ganz anderen Hintergrund hat: Die Bildhauerei zeigt, was das Material kann, wenn ihm keine bestimmte Funktion zugewiesen wird. Und damit wird eine neue Sprache ermöglicht, werden neue Ideen freigesetzt – und im Grunde genommen auch neue Freiheiten.

boesner: „Eine Skulptur zu machen ist ein Erlebnis, es ist ein bisschen wie Bergsteigen – man weiß nie, was vor einem liegt“ sagten Sie vor einigen Jahren in einem Interview. Ihre raumgreifenden Skulpturen erfordern sorgfältige Vorbereitung – von planenden Skizzen über die Auseinandersetzung mit dem Material bis hin zur technisch herausfordernden Umsetzung. Am Anfang steht das Konzept – doch welche Rolle spielen Zufälle und Veränderungen, die sich im Prozess für das Werk ergeben?

Cragg: Im Grunde genommen ist es doch so: Wenn man das, was man im Kopf hat, einfach nur ausführen würde, dann wäre die Bildhauerei doch eine sehr langweilige Sache, die ihren Reiz schnell verliert. Es wäre ein bisschen wie in der Geschichte der Bildhauerei: Man hat ein reales Modell vor sich, das man kopiert. Ich finde es nicht so spannend, Dinge zu kopieren – mich interessiert nicht das, was bereits existiert, sondern vielmehr das, was noch nicht existiert. Man muss die Freiheit haben, im Arbeitsprozess zu ändern, zu improvisieren – es ist eine wesentliche Vorstellung von Schöpfung und Kreation, dass man ganz neue Wege geht. Jede neue Arbeit ist ein neues Abenteuer: Man beginnt mit bestimmten Vorhaben, aber man weiß nicht, wo man am Ende hinkommt – und das ist das Abenteuer.

boesner: Jede einzelne Ihrer Skulpturen ist auch das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Material – ob Plastikmüll oder zufällig Gefundenes wie in den 1970er-Jahren, ob Holz, Bronze, Edelstahl, Kunststoff oder Glas. Welche besondere Bedeutung hat das Material und auch das Experiment mit dem Material in Ihrem Schaffen?

Cragg: Material hat eine wesentliche Bedeutung für uns alle: Wir bestehen aus Material und alles, was wir kennen, ist aus Material. Wenn man so will, haben im extremen Fall auch Sprache, Emotionen und Gedanken eine Materialbasis, obwohl dies manchmal so komplex ist, dass man es nicht direkt nachvollziehen kann. Das Material ist also sehr wichtig, es bringt eine ganze Bandbreite an Ausdrucksmöglichkeiten und Potenzial mit, das man als Bildhauer versucht, auszuleben. Es ist wie mit den Instrumenten in einem Orchester: Jedes einzelne hat seine individuellen Ausdrucksmöglichkeiten. Als Künstler experimentieren wir nicht im wissenschaftlichen Sinn, also kontrollierend und analysierend, sondern wir müssen uns vielmehr von einer bestimmten Methodik freimachen, um etwas Neues zu kreieren. Künstlerisches Schaffen ist sehr häufig eine Kombination: Man bringt zwei zuvor nicht verwendete Möglichkeiten zusammen.

boesner: Vibrierend, kurvig nach außen drängend, gebogen oder zusammengepresst – von den Formen Ihrer Skulpturen geht eine ungewöhnliche Energie aus, sie scheinen ein Eigenleben zu führen. Die Entstehung und die Vielfalt von Formen, ihre Ursache und Wirkung bekommen in Ihrem Werk besondere Bedeutung, vor allem die Strukturen unter den sichtbaren Oberflächen. Übersetzen Sie imaginäre Strukturen in Form, und welche Rolle spielt die Natur?

„Wir können sehen, was das Material zu leisten imstande ist […].“

Cragg: Die Natur hat im Vergleich zu uns viele Vorteile: Sie hatte Millionen von Jahren zur Verfügung, um die Dinge auf sehr ursprüngliche Weise zu erschaffen, zu kreieren. Wenn man Tiere, Pflanzen, Mineralien oder biologische Strukturen betrachtet, kommen ganz phantastische Dinge zum Vorschein. Doch diese Zeit haben wir natürlich nicht – im Gegenteil. Wir nutzen Material – und im Grunde ist es ein Wunder, dass wir überhaupt Material nutzen – und das ist unsere Strategie zum Überleben mithilfe von Werkzeugen, Schutzvorrichtungen etc. Aber alles, was wir tun, ist so gesteuert, dass das Resultat funktioniert – und gerade dieser Funktionalismus, vor allem industrieller Funktionalismus, ist eine wirkliche Zensur an der Form: Er reduziert die Formen in schlichte, runde, flache, in einfache geometrische Teile, weil sie leicht zu produzieren sind. Die Dinge, die wir herstellen, sind sozusagen ein Abdruck der industriellen Systeme – schlicht und wenig aufregend. Die Bildhauerei ist das absolute Gegenteil davon: Sie muss nicht funktionieren, sie hat keine wirtschaftlichen Ziele – und deswegen kann man Formen wagen. Wir können sehen, was das Material zu leisten imstande ist, wenn es nicht wie ein Sklave funktionieren muss oder dem Utilitarismus unterworfen ist. Das ist die Arbeit eines Bildhauers. Andererseits ist es jedoch so: Wenn man ein Stück Ton vor sich oder einen Bleistift in der Hand hat, sind die Möglichkeiten grenzenlos: Aus einem 10-kg-Block Ton können Millionen von Formen hergestellt werden. Die Arbeit der Künstler, der Bildhauer, ist es herauszufinden und zu entscheiden, wo es Verdichtungen von Assoziationen gibt, wo etwas signifikant zusammenkommt.

boesner: Bereits in den 1970er-Jahren haben Sie in Frankreich mit der künstlerischen Lehre begonnen, später führte Ihr Weg Sie an die Kunstakademie Düsseldorf und an die Hochschule der Künste in Berlin. Von 2009 bis 2013 waren Sie Rektor der Kunstakademie Düsseldorf. Welchen Raum sollte eine Kunstakademie den Studierenden bieten, und welche Botschaft möchten Sie jungen Künstlern mit auf den Weg geben?

Tony Cragg: Das ist eine schwierige Frage. Ich finde, dass die Kunstakademien heute – solange sie frei bleiben können von politischen Interventionen – zu den schönsten und aufregendsten Orten gehören, an denen man seine Zeit verbringen kann. In der Vergangenheit war das anders: Im 19. Jahrhundert waren die Akademien sehr präskriptiv und schrieben vor, wie die Dinge funktionieren sollten. Heute ist das nicht mehr der Fall: Der junge Künstler hat Zeit (und ein wenig Betreuung), um seinen ganz eigenen Weg zu gehen. Ich finde es großartig, wenn man das ausnutzt. Das Problem ist, dass es heute ganz andere Einschränkungen gibt: Heutzutage wird sehr viel über die Medien vermittelt – über Tendenzen, über das, was erfolgreich und angesagt ist. Und das ist dann auch eine Einschränkung für junge Studenten. Es ist sehr wichtig, dass die Studenten sich nicht so sehr an die Kunstgeschichte anlehnen oder am aktuellen Geschehen in Museen oder Galerien orientieren, sondern sie sollten sich vielmehr für irgendetwas wirklich interessieren – egal, was es ist: Das kann Botanik sein oder Zoologie, es können die Sterne sein oder komplizierte Zahlen oder menschliche Beziehungen. Das sollten sie bearbeiten, um es in ihrer Arbeit umzusetzen. Wenn man das macht – und den allgemeinen medialen Informationen nicht zu viel Beachtung schenkt – dann kommt man fast automatisch auf einen originalen, eigenen Weg.

boesner: Herr Cragg, herzlichen Dank für dieses Gespräch!

 

Auf einen Blick:
Ausstellung: Tony Cragg – Parts of the World. Retrospektive
Ort: Von der Heydt-Museum Wuppertal, Turmhof 8, 42103 Wuppertal
Zeit: bis 14. August 2016
Internet: www.tonycragg-ausstellung.de, www.von-der-heydt-museum.de

Skulpturenpark Waldfrieden
Ort: Hirschstraße 12, 42285 Wuppertal
Internet: www.skulpturenpark-waldfrieden.de

Katalog zur Ausstellung:
51SeAR8XTVLAnthony Cragg – Parts of the World
Gerhard Finckh & The Cragg Foundation (Hrsg.), mit Essays von Germano Celant, Lynn Cooke, Peter Schjedahl, Thomas McEvilley, Hardcover, 26,5 x 33 cm, 472 Seiten, 547 Farbabb., Verlag der Buchhandlung Walther König, ISBN 9783863359201

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Profile

Gegründet 1902 als Städtisches Museum Elberfeld, wurde die Institution 1961 umbenannt in Von der Heydt-Museum – eine Reverenz an die Wuppertaler Bankiersfamilie, die das Museum in vielfältiger Weise gefördert hat. Die Sammlung des Museums umfasst Kunst vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Impressionismus, Expressionismus und die 1920er-Jahre bilden die Schwerpunkte. Zum Bestand gehören rund 2 200 Gemälde, 500 Skulpturen und 30 000 grafische Blätter. Seit 2020 ist Roland Mönig Direktor des Museums, das sich im Zentrum von Wuppertal-Elberfeld befindet.

Mit dem Skulpturenpark Waldfrieden hat Tony Cragg ein Ausstellungszentrum für zeitgenössische Skulptur geschaffen. Innerhalb des weitläufigen Parkgeländes werden bedeutende Werke der Bildhauerei als Teil einer umfangreichen Skulpturensammlung sowie in Wechselausstellungen präsentiert.

Website des Skulpturenparks Waldfrieden ›

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