Interview

SOS Brutalismus – Rettet die Betonmonster

Langsam erreichen sie ein kritisches Alter, die hassgeliebten Bauten aus der Zeit des Brutalismus. Oft zu Unrecht als „Betonmonster“ geschmäht, stehen viele der skulpturalen, wuchtigen Gebäude aus Sichtbeton am Scheideweg zwischen Abriss, Neuentdeckung und Denkmalwürdigkeit. Höchste Zeit für eine Rettungsaktion, befand das Deutsche Architekturmuseum Frankfurt (DAM) und rief im vergangenen Jahr gemeinsam mit der Wüstenrot-Stiftung und dem Online-Architekturmagazin uncube die Kampagne „SOS Brutalism“ ins Leben.

Der Titel „SOS Brutalismus“ formuliert einen Hilferuf, denn die brutalistische Architektur ist weltweit von Abriss und Umgestaltung bedroht. Das Projekt startete im Oktober 2015 mit einer Online-Rettungskampagne. Die Webseite www.SOSBrutalism.org versammelt mittlerweile weltweit mehr als 900 Bauten, die sich dem Brutalismus zuordnen lassen oder als Vorläufer gelten können. Sie sind nach dem Vorbild eines Artenschutzprojekts in verschiedene Gefährdungsstufen gegliedert: Die „rote Liste“ versammelt derzeit 92 Bauten, die unmittelbar von Zerstörung bedroht sind. Als blau gelten alle „geretteten“, also frisch sanierten oder unter Denkmalschutz stehenden Bauten. Die grau markierten Gebäude sind weitgehend im Originalzustand erhalten, aber nicht in eine Denkmalliste eingetragen. Die schwarzen Bauten sind bereits abgerissen. Das Ziel der Webseite besteht allerdings nicht nur darin, ein Inventar anzulegen. #SOSBrutalism wird als Hashtag verwendet, um über Facebook, Twitter, Tumblr und Instagram mit anderen Initiativen Kontakt aufzunehmen, die sich ebenfalls der Erforschung und dem Erhalt brutalistischer Bauten widmen. Für eine für 2017 geplante Ausstellung werden so regionale Schwerpunkte des Brutalismus definiert. Hierzu zählen unter anderem Israel, Japan, Südamerika, selbstverständlich Großbritannien, die USA, aber auch viele westdeutsche Kirchenbauten. Von über 900 Gebäuden auf der Webseite reduziert sich die Auswahl auf ca. 120 Bauten im Katalog, die jeweils mit historischen, aber auch aktuellen Fotos porträtiert werden, um ihren Erhaltungszustand zu dokumentieren. Auf diese Weise wird ein weltweiter Kanon der brutalistischen Bauten geformt und zur Diskussion gestellt. Felix Torkar, Kuratorischer Assistent des DAM, skizziert im Interview die Hintergründe des Projektes und gibt interessante Einblicke.

boesner: Brutalismus hatte lange Zeit keinen besonders guten Ruf. In den sozialen Medien erlebt er gerade eine Renaissance. Mit Ihrem Projekt „SOS Brutalismus“ haben Sie eine Online-Rettungskampagne für brutalistische Bauten gestartet. Warum sind die Gebäude aus Ihrer Sicht schützens- und erhaltenswert?

Dabei ist der Brutalismus so ideen- und formenreich wie nur wenige andere Architekturen des 20. Jahrhunderts.

Felix Torkar: Viele Architekturstile durchlaufen Zyklen der Anerkennung, Ablehnung und Wiederentdeckung. So wurde beispielsweise zur Zeit des Brutalismus allerorten Gründerzeitarchitektur entstuckt oder abgerissen, die heute ganz bewahrt, behutsam renoviert und geschätzt werden würde. Heute stößt der Brutalismus auf starke Ablehnung. Wir entdecken viele spannende Projekte in „Die 10 hässlichsten Gebäude von xyz“-Artikeln. Die Bauten werden häufig vernachlässigt oder abgerissen. Dabei ist der Brutalismus so ideen- und formenreich wie nur wenige andere Architekturen des 20. Jahrhunderts. Unser Projekt soll einen Teil dazu beitragen, diese Wahrnehmung zu verändern.

boesner: Oft als „Betonmonster“ geschmäht, waren brutalistische Bauten nicht selten progressive baukünstlerische Statements, solide ausgeführt und funktionell durchdacht. Andere waren Teil des technokratischen
„Bauwirtschaftsfunktionalismus“. Machen Sie hier Unterschiede hinsichtlich der Erhaltenswürdigkeit?

Torkar: Wir wollen nicht behaupten, dass jedes der über 900 bislang gesammelten Projekte eine Perle der Baukunst ist. Es gibt ganz sicher auch Vertreter, die völlig zu Recht kritisiert werden. Gerade im Sozialwohnungsbau gibt es Bauwerke, die als gescheitert angesehen werden müssen. Dabei muss man jedoch genau hinsehen. Es gibt viele Beispiele, bei denen die ursprünglichen Pläne nach der ersten Bauphase über den Haufen geworfen wurden und essenzielle Teile nie realisiert wurden. Auch die Instandhaltung konnte häufig nicht wie geplant durchgehalten werden. Nichtsdestotrotz gibt es natürlich wie überall auch im Brutalismus mehr und weniger gelungene Vertreter.

Sachio Otani: Kyoto International Conference Center, Kyoto, Japan, 1959–1966 Foto: Blondinrikard Fröberg, CC BY 2.0
Herwig Udo Graf: Kulturzentrum Mattersburg, Mattersburg, Österreich, 1972–1976 Foto: Johann Gallis
Rinaldo Oliveri: La Pyramide, Abidjan, Elfenbeinküste, 1968–1973 Foto: Ben Robson
John Andrews: Andrews Building, Scarborough College (heute University of Toronto), Toronto, Kanada, 1963–1964 Foto: Nathan Bishop, CC BY-NC-ND 2.0
Alfred Neumann / Zvi Hecker / Eldar Sharon: Rathaus, Bat Yam, Israel, 1960–1963 Foto: Eldar Sharon

Der Brutalismus entstand als eine Art Antibewegung gegen die entmaterialisierten Glas- und Stahlkästen des International Style.

boesner: Was war das ursprüngliche Ziel der Beton gewordenen Utopien?

Torkar: Der Brutalismus entstand als eine Art Antibewegung gegen die entmaterialisierten Glas- und Stahlkästen des International Style. Zunächst ging es stark darum, Baumaterialien ehrlich zur Schau zu stellen. Keine verputzten Wände, keine abgehängten Decken, dafür viel As-Found-Ästhetik. Der Sichtbeton (oder manchmal auch Backstein) sollte die Strukturen offen zeigen und später auch zunehmend überhöhen und zelebrieren. Zudem setzten sich die Architekten als Gegenreaktion zum immer mehr als unmenschlich kritisierten International Style wieder stärker mit den menschlichen Bedürfnissen auseinander, was zu kleinteiligeren, variantenreicheren, komplexeren Lösungen führte. Ironischerweise werden dem Brutalismus heute oft unmenschliche Maßstäbe und Benutzungsfeindlichkeit vorgeworfen, also genau die Probleme, mit denen sich die damaligen Gestaltungsansätze ganz dezidiert auseinandersetzten.

boesner: Wo liegen die entscheidenden Unterschiede im Vergleich zu einer Architektur im Sinne Le Corbusiers?

Torkar: Corbusier war sicherlich ein wichtiger Vorläufer. Viele seiner Schüler wurden zu wichtigen Vertretern des Brutalismus, der Begriff des „Béton Brut“ entstand im Zusammenhang mit seiner „Unité d’Habitation“ und „La Tourette“ begründete einen ganzen Bautypus, der Dutzende Male aufgegriffen wurde. In Corbusiers später Auseinandersetzung mit Sichtbeton steckt jedoch häufig auch ein starkes Kunstwollen, das sich eher selten im Brutalismus wiederfindet. Auch wenn Architekten mit selbstbewusster Rhetorik zu ungewöhnlich skulpturalen Lösungen kommen, werden diese doch häufig betont funktional begründet.

boesner: Welchen Anteil hat das Material, der béton brut, an der skulpturalen Ästhetik der Gebäude?

Torkar: Das Material und seine Sichtigkeit spielt eine ganz entscheidende Rolle. Besonders prägnant ist der bewusst rau geschalte Ortbeton, der den oft riesigen, monolithischen Flächen durch die Abdrücke der Holzverschalung beim Gussprozess eine lebhafte Struktur verleiht. Dort geht es wieder darum, die rohe Oberfläche, die Bauprozesse sichtbar zu machen. Paul Rudolph, einer der wichtigsten amerikanischen Vertreter, ließ aber auch riesige geriffelte Betonfassaden von Hand mit dem Stockhammer bearbeiten, um eine charakteristische Struktur zu erhalten. Die vielen Möglichkeiten, die Betonoberflächen bieten, wurden voll ausgenutzt.

boesner: Viele der Bauwerke auf Ihrer Inventarliste stehen am Scheideweg zwischen Abriss, Neuentdeckung und Denkmalwürdigkeit. Ihr Rettungsprojekt verzeichnet bereits erste Rettungserfolge. Welche sind das?

Torkar: Wir versuchen, laufende Rettungskampagnen für einzelne Bauwerke ausfindig zu machen und zu unterstützen. Leider verlaufen die Entscheidungsprozesse oft zäh. Aktuell sieht es gut bei zwei Initiativen zu Bauten von Marcel Breuer aus, der Zentralbibliothek in Atlanta und einem Bürogebäude in Reston. Das ist aber ehrlicherweise den exzellenten Rettungsinitiativen dort und nicht uns zuzuschreiben.

boesner: Gibt es ein Gebäude, dem Sie den Erhalt ganz besonders wünschen?

Torkar: Das Kulturzentrum Mattersburg und die Initiative zu dessen Erhaltung sind uns besonders ans Herz gewachsen, auch wenn es dort gerade eher schlecht aussieht und damit zu rechnen ist, dass nach dem aktuell geplanten Umbau nicht mehr viel von der ursprünglichen Bausubstanz übrig bleiben wird. Das Gebäude ist ein wichtiger und innovativer Beitrag zum Betonbrutalismus in Österreich.

Kaum ein Architekt hat sich selbst je als Brutalist bezeichnet, viele wehrten sich sogar heftig gegen das Label.

boesner: Das Ziel von „SOS Brutalismus“ ist eine Ausstellung und ein begleitender Katalog mit einem weltweiten Überblick zur brutalistischen Architektur zwischen 1953 und 1979. Die Ausstellung soll ab Oktober 2017 im DAM in Frankfurt am Main zu sehen sein. Neben Strategien der Denkmalerhaltung soll im Vorfeld auch die Frage, wie der Brutalismus definiert werden kann, behandelt werden. Wo liegen die Schwierigkeiten dieser Definition?

Torkar: Auch wenn der Begriff bereits in den 1950er-Jahren geprägt worden ist, handelt es sich doch um eine hauptsächlich von außen beschreibende, architekturtheoretische Stilbezeichnung. Kaum ein Architekt hat sich selbst je als Brutalist bezeichnet, viele wehrten sich sogar heftig gegen das Label. Somit sahen sich die für uns als brutalistisch geltenden Architekten also selbst nicht als Teil einer Bewegung. Das führt dazu, dass man das Feld zwar grob umreißen kann, viele Grenz- und Ausnahmefälle aber gleichzeitig keine wasserdichte Definition zulassen. Dort wollen wir ansetzen und eine griffigere Verortung finden, als dies bislang geschehen ist.

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Das Projekt „SOS Brutalismus“ ist eine gemeinsame Initiative des Deutschen Architekturmuseums Frankfurt (DAM) und der Wüstenrot Stiftung, unterstützt von uncube. Es nimmt die Spur wieder auf, die mit dem großen internationalen Brutalismuskongress der Wüstenrot Stiftung und des Karlsruher Instituts für Technologie im Jahr 2012 eingeschlagen wurde. Das Ziel ist eine Ausstellung und ein begleitender Katalog mit einem weltweiten Überblick zur brutalistischen Architektur zwischen 1953 und 1979. Die Ausstellung soll ab Oktober 2017 im DAM in Frankfurt am Main zu sehen sein.

Website SOS Brutalismus ›

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