Yury Kharchenko
Art is a ritualistic binding of the perpetual motion machine that is nature.
The first artist was a tribal priest casting a spell,
fixing nature’s daemonic energy in a moment
of perceptual stillness. … Fixation is at the heart of art,
fixation as stasis and fixation as obsession.
… Art is spellbinding. Contemplation is a magic act.
Camille Paglia, Sexual Personae
Der 1986 in Moskau geborene Maler Yury Kharchenko ist eine singuläre Erscheinung in der heutigen Kunstwelt. Er ist Absolvent der Kunstakademie Düsseldorf, die er bereits im Alter von 22 Jahren verließ, um dann zwei Jahre intensiver Auseinandersetzung mit Philosophie und Geistesgeschichte (am Theologischen Seminar der Freien Universität Berlin) folgen zu lassen, in denen er sich mit den Theorien der französischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, besonders mit Derrida, beschäftigte. Vertieft durch die Aufnahme eines Master- und PhD.-Studiengangs in Literatur und Philosophie an der Universität Potsdam 2011 erfolgte diese intensive Arbeit an geisteswissenschaftlichen Themen parallel zu seiner ungemein produktiven Arbeit an der Malerei, und sie flankierte außerdem Kharchenkos Streben nach dem Verständnis seiner kulturellen und sozialen Identität als Jude.
Diese für ihn sehr persönliche und teils bedrückende Erfahrung verarbeitete er unter anderem in seinem Grynszpan-Zyklus, in dem er seine entfernte Verwandtschaft zu dem jungen Herschel Grynszpan reflektierte, der 1938 nach seinem Attentat auf den deutschen NS-Diplomaten vom Rath 1938 in Paris verhaftet, ins KZ verschleppt und ermordet wurde. Yury Kharchenko hat selbst Erfahrungen mit dem heutigen Antisemitismus machen müssen und entwickelte sich nicht zuletzt deshalb zu einem engagierten Maler, dessen Werke in formaler wie in intellektueller Hinsicht auf große Traditionen gründen und in völlig eigenständiger Weise die Schnittstelle zwischen abstrakter Formfindung und politischer Stellungnahme besetzen.
Von Beginn an interessierte Kharchenko sich für die spirituelle Dimension der Kunst und arbeitete in einem Bereich zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Die formalen Möglichkeiten der Malerei setzt er mit großer Variabilität ein, Farbe erscheint in seinen Bildern als pastose Materie ebenso wie als durchscheinende, mit Lösungsmitteln stark verdünnte Lasur, die er in vielen Schichten über die Leinwand fließen lässt. Farbe erscheint leuchtend bunt, aber auch in komplexen Mischungen und naturhaften Tönungen. In einigen Bildern setzt er Schrift ein, die je nach Erfordernissen von kalligrafischer Leichtigkeit bis hin zum aggressiven Stil von Graffiti reicht.
Die Gemälde Kharchenkos sind aufrüttelnd und emotional anrührend. Seine Schlüsselthemen sind das Haus als abstrakt-poetisches Zeichen für die Herausbildung von Orientierung und Identität und der Mensch, der in einer Vielzahl von Porträts in Erscheinung tritt, die vom Imaginären bis zum Realen reicht und Dämonen wie Idealfiguren und Vorbilder zeigt. Neben Selbst- und Familienbildnissen, Porträts von Freunden und Förderern arbeitet er an einem großen Pantheon historischer Gestalten, die für die Geschichte europäischer Kultur von Bedeutung sind. Sie reichen von katholischen Klerikern der Renaissance, Martin Luther, dem protestantischen Antisemiten, über Fjodor Dostojewski, Albert Einstein, Sigmund Freud, Alfred Flechtheim und Herwarth Walden bis hin zu Jorge Luis Borges, Mark Rothko, Barnett Newman, Paul Celan, Bob Dylan, Joan Baez und Amy Winehouse. Dazu kommen bedeutende Komponisten der Klassik wie Wolfgang Amadeus Mozart, Tommaso Albinoni, Antonio Vivaldi und andere.
Seine oft sehr großformatigen Gemälde sind zeitgemäßer Ausdruck vielfach unterdrückter Gefühle von Liebe, Sexualität und Gewalt, ins Bild gesetzt mit einer poetischen, bisweilen melancholischen Formensprache, die sich fußend auf Mark Rothko und Barnett Newman in die große Tradition des westlichen Humanismus einschreibt. Die Malerei von Yury Kharchenko ist bedingungslos individuell und lässt sich in kein stilistisches Korsett zwängen, auch wenn sie durchaus aktuelle Bezugspunkte etwa zur Malerei eines Peter Doig aufweist. Das macht diese existenzielle Kunst aktuell und zeitlos zugleich. Sie bedeutet in unserer von digitalen Bildern scheinbar überschwemmten Kultur ein eminent kraftvolles Statement für die Originalität und Relevanz eines Mediums, das schon oft totgesagt wurde, aber seit der Frühzeit menschlicher Kultur nie aufgehört hat, zu faszinieren. Der Wirklichkeit der Bilder von Yury Kharchenko muss sich der Betrachter stellen, er kann nicht ausweichen. Gegen die Flüchtigkeit und Falschheit der virtuellen Welt beharren sie zu Recht auf der existenziellen Wahrheit der wirklichen Welt, mit den Worten Gerhard Richters als die höchste Form der Hoffnung.
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