Der Berliner Maler Sebastian Heiner
Sebastian Heiner ist zur figürlichen Malerei zurückgekehrt, ob vorübergehend oder dauerhaft, muss sich erst noch zeigen. In seinem neuesten Statement bezeichnet er das Figürliche als Zwischenstadium und Übergang zur Abstraktion. Dennoch ist gerade seit 2018 eine beachtliche Serie mittelformatiger und wandfüllender Gemälde entstanden, auf denen Figuren geometrisch gegliederte Bildflächen beherrschen. Sie marschieren aufeinander zu, fallen übereinander, zeigen sich in herrschaftlichen Posen oder recken verzweifelt die Arme empor. Auf Heiners Webseite bilden diese Gemälde unter dem Label „Figurativ“ eine eigene Werkgruppe.
Seit Beginn des Jahrtausends hat der Künstler vorwiegend abstrakt gemalt. Unter dem Eindruck von Reisen nach Megacities in Ost- und Südostasien – 2001 nach Tokyo – und mehrmonatigen, teilweise wiederkehrenden Aufenthalten – 2004 bis 2008 in Beijing, 2010/11 in Shanghai, 2012/13 in Bangkok und 2017 erneut in Shanghai, wo er jeweils eigene Ateliers unterhielt und anschließend umfangreiche Werkkataloge herausgab – entwickelte er eine neue Art des Action Painting. Mit pastos verwendeten, direkt aus der Tube gequetschten Farben legte er auf seinen Leinwänden unter hohem körperlichem Einsatz mit breitem Spachtel, aber auch mit Hand und Arm und gefundenen Werkzeugen wie Pappresten, Besen und Fliegenklatschen breite Farbströme und Strukturen an, die sich in rhythmischen Schwingungen oder explosionsartig zu den Bildrändern hin ausbreiten. Erst im Nachhinein fand der Maler für diese aktionistisch, aber mit hoher Sensibilität und Intellektualität vorgetragenen Farb-Universen Titel, die auf Erlebnisse und Erfahrungen aus dem lärmenden und aufreibenden Alltag der jeweiligen Metropolen hindeuten. In Mal-Perfomances über den Industriedächern von Shanghai und an Verkehrsinseln in Bangkok versuchte er den Eindruck des Zivilisations-Chaos zu steigern. Als Resultat entstanden überraschend ästhetische und ausbalancierte Ölbilder in vom Unterbewusstsein gesteuerter, aber malerisch präziser und künstlerisch perfekter Komposition.
Seit 2007 traten in Heiners Farbvisionen, Ausdruck für das Durcheinander größenwahnsinnig gewordener Zivilisationen, in Bildern aus Beijing und Shanghai menschliche Gestalten hervor, die nur durch Köpfe und Gliedmaßen erkennbar sind. Zurück in Berlin entstanden dann Gemälde, in denen Hohepriester mit üppigen Gewändern und breiten Hüten, kubistische, langgezogene Traumfiguren mit deklamierend erhobenen Armen, mit merkwürdigen Geräten beschäftigt sind oder mit Robotern agieren. Bei einer Performance im Museum Fluxus+ in Potsdam, das einige seiner Bilder besitzt, legte Heiner im Juni 2009 auf vier Leinwänden Umrisszeichnungen aus solchen Figuren als Kompositionsgerüste an, um sie dann vollständig mit einem Action Painting aus abstrakten Farbstrukturen zu übermalen. Sind solche figürlichen Kompositionen also latent, aber meist gedanklich hinter den abstrakten Bildern vorhanden? Ziel seiner Malerei sei es, so Heiner im obigen Film, sich vom Figürlichen zu befreien und in eine Abstraktion einzutreten, in der das Gestische und das Emotionale im Zentrum stehen.
In seiner frühen Zeit, seit seinem Studium als Meisterschüler von Klaus Fußmann an der Hochschule der Künste in Berlin, das er 1991 abschloss, malte Heiner tatsächlich durchgehend figürlich: langgezogene menschliche Gestalten mit großen Händen, Stiefeln und kleinen Köpfen, die sich mit ausladenden Gesten in Zeiträumen zwischen Mythologie und Gegenwart bewegen und miteinander kommunizieren. Aber auch diese Figuren zerstörte der Maler einige Jahre später durch Kratzer und harte Pinselschwünge, bis sie hinter zeichenhafter und tachistischer Malerei in informellen Farbräumen verschwanden.
Während seines letzten Aufenthalts in Shanghai entstand 2017 wieder eine umfangreiche Serie jener Action-Painting-Gemälde, in denen er durch das Bewerfen der Leinwand mit Farbe und dem gestischen Verteilen der Farbströme neue Farbenergien aufbricht, für die der Moloch Großstadt die Inspiration bildet und die dennoch in der Regel kontemplativ in der Zurückgezogenheit des Ateliers entstehen. Genau dort begann der Maler dann, mit dünnen schwarzen Umrissen Figuren in sein Skizzenbuch zu zeichnen, die er anschließend mit Aquarellfarbe kolorierte und übermalte. Es sind roboterartige Wesen mit strahlendem Kopfschmuck und geometrischen Gewändern, die sich zu Fuß, mit grotesken Fahrzeugen oder Fluggeräten durch aufgetürmte Stadtlandschaften bewegen. Dazu schrieb er begleitende Prosatexte, kurze Traumsequenzen, in denen der Ich-Erzähler in fremde Länder, unbekannte Welten und Gesellschaften einer fernen Zukunft reist, in denen Roboter die Herrschaft übernommen und die Menschen zu Insekten degradiert haben.
Dies sind auch Reisen in die ungewissen Gegenden seiner Malerei. „Mein Planet ist einzigartig und kostbar“, schreibt Heiner: „Die Erforschung einer fremden Welt ist ein Experiment, das Zeit und Geduld beansprucht.“ Wer den Künstler vor Beginn einer Mal-Performance vor der weißen Leinwand oder beim Zeichnen vor der weißen Seite seines Skizzenbuchs beobachtet hat, kennt diesen Moment der Konzentration und der Kontemplation: „Ein Bild ist ein fremdes, unberührtes Land.“
Seit 2018 entstand auf Grundlage dieser Skizzen in Berlin die eingangs erwähnte Serie von Gemälden, auf denen Figuren mit mosaikartig gemusterten Kleidern, bunten Kimonos oder folkloristischen Kostümen die Bildfläche beherrschen. Roboter, die durch Antennen und Fühler gesteuert werden, Spieße und Werkzeuge vor sich hertragen, beherrschen die Welt der Menschen, eine technisch determinierte Dystopie, wie sie Fritz Lang in seinem Film „Metropolis“ oder George Orwell in dem Roman „1984“ beschrieben haben. Die kristallin gezackten Grundrisse dieser neuen Welt erinnern an den Eispalast von Jack Frost, den Little Nemo, der kleine Held aus Winsor McCays gleichnamiger Comicserie, auf seinen Traumreisen erforschte. Heiners wandfüllendes Hauptwerk von 2019 trägt den Titel „Beyond Paradise“, „Jenseits des Paradieses“.
Beiden seit Shanghai entstandenen Werkgruppen, den abstrakten Action Paintings und den figürlichen Bildern, hat Heiner einen Werkkatalog unter dem gemeinsamen Titel „Moloch City“ gewidmet, der auch fotografische Aufnahmen des Berliner Fotografen Michael Wruck vom Alltag in Shanghai enthält. Beide Bilderserien sind zwei Seiten einer Medaille: Die abstrakten Gemälde stehen für das lärmende Chaos der Megacities, die figürlichen zeigen die Vision einer künftigen, von mechanischen Wesen gesteuerten Welt, die die Herrschaft über die menschliche Zivilisation übernommen haben.
Wenn dieser Bericht erscheint, ist Sebastian Heiner bereits auf dem Sprung in ein neues Land. Eine Einladung, in Südkorea eine Performance zu zeigen, wird er zu einem einmonatigen Aufenthalt nutzen. Anschließend erwartet ihn wieder sein Berliner Atelier im Stadtteil Weißensee, wo er sich seit knapp zwanzig Jahren eine hohe Halle in einem denkmalgeschützten Gewerbehof mit dem Maler Jörn Grothkopp teilt.
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