„Ich glaube in der Tat, dass jeder Schachspieler ein Gemisch zweier ästhetischer Vergnügen erfährt: erstens das abstrakte Bild, verwandt mit der poetischen Idee beim Schreiben; zweitens das sinnliche Vergnügen der ideographischen Ausführung dieses Bildes auf den Schachbrettern.“
Marcel Duchamp
Hören wir vom „Spiel der Könige“, so drängen sich uns unwillkürlich Vorstellungen von vierundsechzig abwechselnd schwarzen und weißen Feldern, von „Bauern“, „Türmen“, „Springern“, „Läufern“, „Damen“ und „Königen“ ins Bewusstsein. Wir erinnern uns der genau bestimmten Zugregeln der einander gegenüberstehenden Schachfiguren und wissen um das Ziel dieses weltweit bedeutendsten Brettspiels: den gegnerischen König schachmatt zu setzen.
Das Wissen über Schach und seine Regeln ist Voraussetzung, um Schach spielen zu können. Es befähigt uns, die Figuren taktisch im Feld nach vorn zu führen, um den Gegner zu besiegen. Eine nähere Betrachtung der Figuren ist nicht notwendig. Blind-Schach mittels der Schach-Notation ist auch ohne den Gebrauch der Augen möglich. Doch welcher auf seine Strategien bedachte Schachspieler wüsste anzugeben, welche ästhetischen Möglichkeiten ein Schachspiel bietet? Welche Formen sich im Verlauf eines Spiels durch die unterschiedlichen Konstellationen der Figuren ergeben oder wie das Schachbrettmuster mit den schwarzen und weißen Figuren korreliert?
Eine Möglichkeit, Schach zu sehen, bietet die 2005 abgeschlossene Arbeit von Martin Werthmann. Das Schachbrett besteht aus 10.000 Einzelquadraten mit einer Fläche von je 5 x 5 cm und einer Höhe von 1 cm. Über 3000 acht bis dreizehn Zentimeter hohe Figuren bevölkern die 25 Quadratmeter umfassende Fläche, die sich, wenn man direkt davorsteht, nicht mehr vollständig überblicken lässt.
Die Figurenmassen führen eine Vielzahl möglicher Konstellationen unmittelbar vor Augen. Zugleich durchbrechen sie unser gewohntes, klar überschaubares Bild eines Schachspiels und schaffen Platz für das Sehen. Aufgrund der nachgeformten Figuren und der normalen Spielaufstellung bleibt der Gedanke „Schachspiel“ erhalten, wird aber durch das Kunstwerk im Anschauen erweitert und zugleich ad absurdum geführt. Schach zu spielen ist angesichts der 200 Könige und Königinnen, 400 Läufer, Springer und Türme sowie des Heers von etwa 1500 Bauern undenkbar. Schach wird hier zu mehr als dem auf 64 Felder beschränkten und auf 32 Figuren begrenzten Spiel. Die Entgrenzung rückt die ästhetische Dimension in den Vordergrund. An die Stelle der rationalen Überlegung tritt der überwältigende Sinneseindruck. Das Sehen wird nicht länger durch Regeln oder Gewinn- und Verlustgedanken beeinflusst. Vielmehr regt dieses Schachspiel die Wahrnehmung an und eröffnet die Chance, gewohnte Vorstellungen zu durchbrechen. Wie dieses konkret geschieht, soll im Folgenden aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln untersucht werden.
Verwischen der Grenzen
Blickt man von schräg oben diagonal auf das Schachbrett, so sieht man zunächst nichts weiter als eine Vielzahl schwarzer und weißer Figuren. Deren Unterschiede treten zunächst nicht hervor. Erst im Blick auf einzelne Figuren können Differenzen oder Gemeinsamkeiten festgestellt werden. Die wie inmitten eines Spiels aufgestellten Figuren dominieren gegenüber dem schwarzweißen Untergrund. Würde der Untergrund einfarbig sein, so würden sich die Figuren deutlicher davon abheben.
Die vorliegende Gestaltung führt dazu, dass sich die Grenze zwischen Figuren und Schachbrettmuster verwischt. Dessen strenge Geometrie tritt nur am äußeren Rand deutlich hervor. Folgt der Blick einer der schwarzen oder weißen Rautenlinien durch das Feld, ergibt sich ein unregelmäßiger, schlingender Eindruck und das Würfelmuster erscheint aufgehoben.
Lenkt man das Augenmerk auf die Beziehungen der Figuren, kann auffallen, dass sie ohne Spielregeln zunächst wie chaotisch zusammengestellt wirken. Bei näherem Hinschauen lassen sich dagegen mehrere, nah beieinander stehende Läuferfiguren entdecken oder zwei hintereinander stehende Türme oder eine Gruppe weißer und schwarzer Figuren. Zunächst unsichtbare Beziehungen werden bewusst und verlieren sich zugleich im erneuten Hinschauen in der Vielzahl der Verhältnisse.
Blickt man von oben auf die Figuren und ihre Unterlage, ergibt sich ein deutlich anderer Eindruck. Im Gegensatz zu der zuvor beschriebenen Perspektive tritt nun das Würfelmuster klar hervor. Zugleich kehrt sich die Dominanz der Figuren gegenüber dem Untergrund um. Sie treten hier nur noch als Akzentuierung einzelner Quadrate des Schachbretts hervor. Wird Letzteres aus dieser Perspektive betrachtet, erhalten die Augen einen ständig wechselnden Eindruck: Es treten immer wieder andere, durch leere, zusammenhängende Felder oder durch Figurenketten sich bildende Linien und Muster auf und verschwinden sogleich wieder. Darüber hinaus erzeugen die drei gegebenen Möglichkeiten leere schwarze und weiße Felder, Felder mit gleichfarbigen Figuren und Felder mit jeweils andersfarbigen Figuren eine unterschiedliche Intensität der Farbe und tragen mit zu dem veränderlichen Eindruck bei. Weitere Blickwinkel ergeben wiederum gänzlich andere Eindrücke.
An die Stelle eines zweiten Spielers tritt das Schachbrett mit seinen Figuren. Dieses gibt keine feste Blickrichtung vor. Der Betrachter ist nicht direkt involviert, nicht den Spielregeln unterworfen, nicht im Regelwerk gefangen. Die klare, anschauliche und durch Spielregeln vorgegebene Orientierung wird aufgesprengt und ein Wettstreit im traditionellen Sinne verunmöglicht. Hier müssen neue Strategien und Regeln gefunden werden für ein Schachspiel, das der gewohnten Aufstellung zuwiderläuft und den komplexen Herausforderungen unseres Jahrhunderts entspricht.
Kommentare sind geschlossen.