Zum aktuellen Werk von Michal Schmidt
Wie ein rotierendes Sägeblatt frisst sich die Distelblüte in das mit Kissen reichlich bedeckte Sofa. Zahlreiche Exemplare dieser Blume, die im Verhältnis zur Umgebung überdimensioniert erscheinen, besiedeln das Gemälde „Polster“ (2020) des Erfurter Künstlers Michal Schmidt und breiten sich ungehindert über der Oberfläche aus. Während die Pflanze in dieser Umgebung scheinbar ideale Voraussetzungen für ihr Dasein findet, offenbart sich um sie herum ein Bild der Zerstörung und Trostlosigkeit.
In einer der Häuserwände, die das Sofa umgeben und dieses somit in einen urbanen Kontext setzen, klafft ein riesiges Loch, welches den Blick auf den dahinter liegenden Raum freigibt. Eine nähere Ortsbestimmung ist nicht möglich – nicht einmal eine klare Abgrenzung eines Außen und Innen ist erkennbar. Eine postapokalyptische Stimmung spricht aus diesem Gemälde, in dem keinerlei menschliches Leben auszumachen ist – nur die Häuser und das Sofa bilden Relikte eines vom Menschen besiedelten Biotops. Als einziger lebender Organismus ist hier die Distel sichtbar. Sie erobert sich einen Raum zurück, in dem die Natur lediglich noch als dekoratives Überbleibsel auf einem Kissen vorgekommen ist.
Trotz seiner Abwesenheit ist der Mensch Eckpfeiler der künstlerischen Auseinandersetzung von Michal Schmidt. Insbesondere die Fragen nach menschlichen Verhaltensweisen, der Dualität von Gut und Böse, deren Ursprung und ihrer Verankerung in unserer Gesellschaft interessieren ihn. Dies versucht er in seinen Werken, von der einfachen Zeichnung über das Gemälde bis hin zur raumgreifenden Installation, zu ergründen. Dafür bedient er sich tagesaktueller Nachrichten, Versatzstücken aus der (Kunst-) Geschichte, der Mythologie, Bilder aus den verschiedenen Medien aber auch dem eigenen unmittelbaren Erleben. Vor allem in frühen Installationen greift Schmidt auf seine Ausbildung als Steinbildhauer zurück, etwa wenn in der Arbeit „eidos“ (2009–2010) mit Buchstaben behauene Pflastersteine zum Einsatz kommen, die vom Publikum zu immer neuen Wörtern zusammengesetzt werden können und sich so schließlich von der Idee zu einer Geschichte auswachsen können. Das Zusammensetzen und Kombinieren ist ein wiederkehrendes Moment in Schmidts künstlerischem Schaffen. Bevorzugt in seinen Gemälden setzt er das Mittel des Samplings ein, wodurch auf der Oberfläche mehrere Metaebenen entstehen. Die Überlagerung verschiedener, scheinbar unzusammenhängender Bildelemente schafft ungewöhnliche Verbindungen und damit neue Bedeutungshorizonte, wie in dem Gemälde „Restituta III“ (2016), in der aufblasbare Badetiere als Bindeglied fungieren zwischen der Ebene der Migranten, die sich in ihrer Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa auf eine waghalsige und möglicherweise tödliche Reise begeben, und der Ebene der vergnügungssüchtigen „Ersten Welt“, die dieser humanitären Katastrophe zu oft mit einer Mischung aus ignoranter Arroganz und Naivität begegnet.
Auch in dem Gemälde „Polster III“ (2021) lässt sich das Mittel der Verschränkung beobachten, in der die Dramatik und das Gefühl der Endzeitstimmung im Vergleich zu dem eingangs erwähnten Bild „Polster“ noch gesteigert werden: Im Hintergrund frisst sich ein loderndes Feuer durch eine Baumgruppe und wächst sich im rechten Rand zu einem überdimensionalen Blumengebilde aus. Nicht nur die Bäume, auch die unter ihm befindlichen, nackten und nur spärlich mit Tüchern bedeckten, menschlichen Körper drohen dem Feuer anheim zu fallen. Wieder ist es der Mensch, der dem Treiben schutzlos ausgeliefert scheint, während die Blume erneut als wild wucherndes Menetekel auftritt, das den Menschen da trifft, wo er sich sicher wähnt.
Seit Beginn des Jahres 2020 lässt sich in den Werken von Michal Schmidt eine gesteigerte Aufmerksamkeit an dem Motiv der Blume und deren Überwindung als bloßes Interieur-Accessoire in Kissen und Polstermöbeln beobachten. So kommt diese Entwicklung einer Evolution nahe, welche die Pflanze in dessen Bildern vollzieht. Zunächst noch gebändigt in Form floraler Ornamentik entwickelt die Blume – zunächst verschiedene Arten, später lässt sich eine Vorliebe für die Distel ausmachen – eine zunehmende Emanzipierung, erobert mehr und mehr Raum und wird so zum Sinnbild für eine Natur, die sich das zurückholt, was ihr im Laufe der letzten Jahrhunderte sukzessive genommen wurde. Jedoch ist die Blume selbst nicht dasjenige Objekt, das die Zerstörung des Lebensraumes hervorruft. Sie macht lediglich Schieflagen und aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen sichtbar und fungiert damit als Indikator, indem sie zutage fördert, was zumeist unter der Oberfläche verborgen bleibt: die Angst des Menschen vor der Veränderung.
Schmidt wählt hier ganz bewusst die Blume als Symbol aus, die ihr Dasein als dekoratives Element nicht nur als Zimmerpflanze fristet, sondern auch diverse Wohnaccessoires ziert und damit zur Erhöhung des Wohlfühlfaktors beitragen soll. Mehr noch: Sie wird damit beauftragt, die eigenen vier Wände in eine Art Paradies, also einen Garten Eden, zu verwandeln und so einen ideellen Rückzugsort als Gegenpol zur immer schneller und komplizierter werdenden Gegenwart zu schaffen. Derartige Zuschreibungen, die sich im Laufe der Zeit um die Blume gebildet haben, sind Michal Schmidt durchaus bewusst, wenn er sie in seinen Arbeiten einsetzt und ihre passive Existenz beendet, indem er sie scheinbar unkontrolliert wuchern lässt. Während die Blume den Ort okkupiert, der dem Rückzug des Menschen zugedacht war, dringt sie in seinen Schutzraum ein und sägt an dessen Bedürfnis nach Sicherheit. Michal Schmidt kehrt also ihre Funktion um und versieht sie mit einer neuen Bedeutung. Das Wuchern, Sich-Ausbreiten und Verdrängen wird zum Symbol des Unkontrollierbaren — der Anarchie. Michal Schmidt entlarvt den Gedanken einer stabilen, krisensicheren Gesellschaft als Illusion und zeigt, dass der Grat zwischen vermeintlicher Zivilisation und Chaos doch nur ein schmaler ist, der durch eine kleine Irritation ins Schwanken geraten kann. Dies wird auch in dem Gemälde „Balance“ (2020) sichtbar: Der Mensch, der mit einem Bein auf dem Fundament unserer Gegenwart in Form eines seriell produzierten Gartenstuhls, der unzählige Gärten, Balkone und Terrassen bevölkert, steht, erlebt sein Dasein als prekäre Situation. So nähert sich nicht nur die Distel mit ihren bedrohlichen Blütenblättern, die wie spitze Pfeile in alle Richtungen auskragen, von unten dem Knäuel aus menschlichen Körperteilen, sondern gleichzeitig droht die als anmutig und romantisch verklärte Rose dieses von oben zu verschlingen.
In verschiedenen Bildern zeigt der Künstler, dass die als sicher geglaubten Naturgesetze sich als ebenso fragil erweisen wie die dünne Schicht der gesellschaftlichen Ordnung, wenn erst einmal der eigene Wohlstand und die lieb gewonnenen Gewohnheiten drohen, abhandenzukommen. Schmidt verdeutlicht das, indem er seinem Bildpersonal die Möglichkeit zur Bestimmung seiner Koordinaten nimmt. Wiederholt schafft er Umgebungen, die sich keinem Ort oder Raum zuschreiben lassen. Es gibt keinerlei Gewissheiten, wie oben oder unten, drinnen oder draußen, hell oder dunkel. Schließlich klammert sich der Mensch an das, was er kennt und mit Sicherheit assoziiert, sei es ein Kissen wie bei „Pillow Fight (2020) oder ein Baum in „Festhalten“ (2020). Um jedoch seine Figuren nicht in ein völliges Chaos abgleiten zu lassen, baut Michal Schmidt mancherorts eine Art Gerüst ein, an dem sich das Auge festhalten kann — ein Liniengefüge, welches dem Bild eine gewisse Stabilität verleiht, teilweise unauffällig durch eine senkrechte Baumstruktur („Polster III“) oder offensichtlich durch Linien, die quer über das Bild verlaufen. Hier mag das 1998 an der Fachhochschule Erfurt begonnene Architekturstudium Spuren hinterlassen haben, welche ihn seine fragilen Gedankengebäude auf der Leinwand mit einer gewissen Statik versehen lassen. Jedoch ist dies nicht selten der einzige Halt, der auch dem Publikum von Seiten des Künstlers zugestanden wird. Denn neben den verschiedenen Ebenen, die es zu durchdringen gilt, verwehrt Schmidt häufig auch einen direkten Blick auf den Bildinhalt. Vieles ist nur angedeutet, nicht vollständig ausgearbeitet und verschwindet schemenhaft im Hintergrund. So ergibt sich ein formaler Kontrast zwischen detailliert ausformulierten Bestandteilen und Angedeutetem, der die Kompositionen unfertig erscheinen lässt und ihnen damit ein weiteres irritierendes Moment hinzufügt. Das Unbehagen, das hierbei hervorgerufen wird, kreiert letztlich eine Stimmung, die als bedrohlich wahrgenommen wird. Eine Steigerung erfährt dieses Gefühl durch die Farbwahl: Kräftige, grelle Töne setzen sich deutlich von einem überwiegend dunklen Hintergrund ab und lenken so die Aufmerksamkeit auf bestimmte Bildelemente. In frühen Werken beherrschen noch Grautöne in verschiedenen Abstufungen die Leinwand, aus denen lediglich vereinzelt Neon- und Signaltöne hervorstechen. Im Laufe der Jahre haben sich letztere immer mehr über der Oberfläche ausgebreitet, während der Hintergrund zunehmend dunkler geworden ist. Nicht nur erlangen diese Bilder dadurch ein Mehr an Tiefe, sondern darüber hinaus auch eine Anmutung des Ungewissen. Während also die hellen Farben mittels ihrer Signalwirkung auf eine Gefahr hinweisen, erahnt das Publikum, dass es womöglich zu spät sein könnte, denn das Unheil lauert in der Dunkelheit. Selbst wenn Schmidt Werke schafft, in denen farbkräftige Töne dominieren, gibt es stets einen dunklen Fleck, wie etwa in dem Gemälde „Lilith“ (2020), in dem sich das Knäuel aus Blumen, Blättern, Schlange und Mensch aus dem oben links befindlichen Hintergrund nach vorn rechts schiebt. Das Gemenge scheint wie ausgespien aus einem Loch, in dem das Verderben zu Hause ist.
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