Aquarell, Ölmalerei, Zeichnung, Keramik, Bronze, Fotografie. Leiko Ikemura nutzt die Entfaltungsmöglichkeit und Grenzen all dieser Medien, um „im Sinne unserer Ursprünglichkeit“ die Frage zu thematisieren, „woher wir kommen und wie wir in der Wirklichkeit und Gegenwart ankommen können“. Trotz der unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten der Materien, kommt in den Umsetzungen die innere Haltung der Künstlerin zum Ausdruck, die sie selbst als „Suche“ bezeichnet.
Als eine der wenigen Frauen trat Leiko Ikemura in den frühen 1980er-Jahren mit Acrylbildern und Zeichnungen im von Männern dominierten Umfeld der „Jungen Wilden“ in Erscheinung. „Damals schon“, sagt sie, „habe ich mich eher am Rand der Szene bewegt.“ Denn das Bewusstsein für das Kunstmachen war groß. Man reflektierte den Zeitgeist in der Kunst. Für sie hingegen stand das persönliche Erleben vor allem anderen.
Die frühen Acrylbilder der Künstlerin zeichnen sich durch stürzende Perspektiven und Szenen in bühnenartigen Räumen aus. Sie wurden später von mit flüssiger Farbe und breiten Pinseln ausgeführten Motiven abgelöst. Die Zeichnungen jener Tage muten kindlich an, es ging um „Wurf“, den Gedanken, Gefühle möglichst unmittelbar durch Linien zu Papier zu bringen. „In jener Zeit wurde das Narrative wiederentdeckt und vertieft, aber ich bin damit in meiner künstlerischen Entwicklung irgendwann an eine Grenze gestoßen.“
In der Krise zog sich Ikemura Ende der Achtzigerjahre aus dem Kunstbetrieb zurück und setzte sich in der Einsamkeit der Schweizer Berge intensiv mit dem auseinander, was in der Natur vor sich geht. „Wenn man einmal einen Moment der absolut existenziellen Bodenlosigkeit in seinem Leben erfahren hat, stellt man fest, dass dies eine andere Art der Wahrnehmung befördern kann. Sich einer Situation so bedingungslos auszusetzen, schärft die Empfindungskraft. Das hat auch den Weg bestimmt, den ich für mich gegangen bin.“
Sprache und Bilder
Auf einen solchen existenziellen Moment ist auch Ikemuras Entscheidung zurückzuführen, sich der bildenden Kunst zuzuwenden. „Bereits als Kind wollte ich entweder schreiben oder malen. Das lag sehr nah beieinander. In Spanien wandte ich mich in den 1970er-Jahren der bildenden Kunst zu. Ich war zum Sprachstudium dorthin gegangen, und obwohl ich die Sprache schnell gelernt habe, fand ich mich zunächst in einem für mich sprachlosen Raum wieder. Das hat mich sehr geprägt. Je tiefer ich die Feinheiten der nicht gesagten Teile der Sprache zu durchdringen versuchte, umso klarer wurde mir, dass die Sprache zu sehr mit Begrifflichkeiten zu tun hat und das wirkliche Sehen verhindert. Wir sind stark konditioniert durch Sprache und durch Kultur – wenn man davon einmal ablässt, dann tritt das wirklich Wesentliche hervor.“
Leiko Ikemura stellt ihre Arbeiten regelmäßig in einen Sprachkontext. Das können eigene Texte sein (Alpenindianer, 1989–1990) oder solche anderer Autoren (Matsuo Basho: Einhundertelf Haiku, 1985; John Yau/Leiko Ikemura: Andalusia 2006), in jedem Fall legt sie Wert darauf, dass ihre Arbeiten nicht als Textillustrationen verstanden werden, sondern eine zusätzliche Wahrnehmungsebene eröffnen.
Die Sprache trennt, das ist das Problem, sagt Ikemura. „Für mich befindet sich alles in einem ständigen Übergang. Tag und Nacht, Himmel und Erde, Leben und Tod – diese dualisierenden Trennungen sehe ich nicht. Sie existieren für mich nicht. Den Horizont zum Beispiel gibt es so nicht; diese Linie findet eher in unserem Kopf statt. Begriffe limitieren und legitimieren.“
Doch auch unser Sehen ist begrenzt und von Gewohnheiten geprägt. Das Auge verschließt sich in gewisser Weise. Daher ist auch die Bildsprache eingeschränkt – eröffnet aber zusätzliche Möglichkeiten. In ihren Arbeiten stellt Ikemura den Horizont, das „Nie-Zusammenkommen von Himmel und Erde, das ewige Annähern zweier Elemente“ durch ein changierendes Farbband dar. Es erlaubt Verortung, indem es den durch Farbflächen charakterisierten Bildraum strukturiert, der sich den perspektivischen Regeln und Sehgewohnheiten entzieht. Zeitweilig ist der Horizont selbst Thema der Bilder. Aus der Überlagerung von Farbschichten entsteht ein sphärischer Farbraum.
Spiritualität, Wesenhaftigkeit und Transzendenz
„Wendungen und Paradigmenwechsel haben dazu geführt, dass sich meine Ausdrucksweise verlagert hat, aber inhaltlich Kontinuität zeigt. Es gab schon immer introspektive Aspekte in meiner Arbeit. Ich hatte versucht, das Mythologische mit dem Alltag zu verbinden“, stellt die Künstlerin rückblickend fest. Der Aufenthalt in der Schweiz führte allerdings zu einer entscheidenden Wende. „Ich wollte dem Spirituellen Ausdruck verleihen. Spiritualität ist dabei nicht religiös und auch nicht im esoterischen Sinne zu verstehen, sondern sie bezeichnet etwas wirklich Ursprüngliches. Ein menschliches Urbedürfnis, das jedem Menschen innewohnt, ohne dass es zu einer Ideologie wird.“
Als Folge dieser Überlegungen vollzog sich auch in Ikemuras Arbeiten ein Wandel. Indem sie die Naturalisierung auf die Wesensebene übertrug und die Elemente ebenbürtig nebeneinanderstellte, entwickelten sie sich von der Linie hin zur Fläche, vom Zeichnerischen zum Malerischen. Die Arbeiten geben keine Erzählung vor. „Ich bin zwar nicht gegen die Erzählung, aber sie beeinträchtigt die Konzen-
triertheit eines Bildes, einer puren Wahrnehmung.“
Für Ikemura sind Menschen, Tiere, Pflanzen – alle Elemente der Natur – in ihrer Wesenhaftigkeit miteinander verwandt. Sie versteht sie als vollkommen unhierarchisch, nichts ist besser oder schlechter. Die Gleichrangigkeit aller Geschöpfe, ihre Verwandtschaft, das Miteinander der Kreaturen ist ein durchgängiges Motiv, ein immanentes Thema. „Genau dieses Verbindende möchte ich humorvoll sich gestalten lassen.“
Entsprechend fügen sich in Ikemuras Werken Pflanzen, Tiere, Frauen, Mädchen, Licht- und Hybridwesen oder Doppelfiguren als Elemente in einen Kosmos aus Licht, Farbe, Landschaft und Wasser ein. Auf diese Gestaltungsmittel greift die Künstlerin immer wieder zurück und verändert sie in unterschiedlichen Konstellationen und Farbklängen, um den inneren Bildern Ausdruck zu verleihen, die „meine Hände geschehen lassen“. Abstrakt und konkret zugleich entstehen aus diesen reduzierten und nicht eindeutig voneinander abgetrennten Elementen atmosphärische Bildwelten, die raum- und zeitlos sind. Sie zeigen materialisierte Augenblicke eines nach innen gekehrten Seinszustands und verzichten auf die große Geste. Durch die Uneindeutigkeit und Offenheit im Verweben von Bild, Gedanke und Materie entsteht eine Bewegung, die den Moment des kontinuierlichen Übergangs von Sichformen und Sichauflösen spürbar werden lässt.
Ikemuras Bildtitel sind beschreibend, lassen an Studien denken, verweisen auf Zustände: „Fallendes Mädchen“, „Stehende in Schwarz“, „Liegende in Rot“. „Liegende sind ein Thema, das mir sehr nahe ist.“ Über längere Zeit hat die Künstlerin mit diesem Motiv gearbeitet, denn im Liegen sieht sie eine ursprüngliche Daseinsform. So kommen wir zur Welt und so sterben wir auch. Die Horizontalität markiert unseren Lebensbeginn und unser Lebensende, sie impliziert als Schlafposition aber auch einen Zwischenzustand unseres täglichen Lebens.
Nahezu alle Figuren im Werk der Künstlerin scheinen zu schweben. Fast immer sind sie im Anschnitt zu sehen, meistens fehlen ihnen die Füße, die sie im Bildraum verankern. Dadurch wirken sie wie zufällig in das Bild gedriftet, wie flüchtige Erscheinungen. Auch das Schweben ist ein Zwischenzustand, allerdings einer, den es real eigentlich nicht gibt, der vielmehr in unserer Vorstellung existiert.
Besonders deutlich kommt Ikemuras Vorstellung von der Gleichrangigkeit aller Geschöpfe im gleichwertigen Nebeneinanderstellen von Menschen und Tieren zum Ausdruck, am offensichtlichsten in ihren bizarr anmutenden Hybridwesen, wie etwa den Katzenmädchen oder den Vogelbuddhas. Daneben arbeitet sie auch mit Doppelfiguren. Sie verweisen auf Duplizität, darauf, dass jedes Wesen ein zweites sucht. Diese Duplizität ist in „einem“ bereits enthalten, „Eins“ impliziert „Zwei“. Der Schatten spiegelt die eigene Multiplizität. „Wenn zwei Figuren auftauchen, entsteht sofort eine Story, aber die Verschiebung von ‚Eins’ zu ‚Zwei’ ist noch offen. Die Duplizität hat etwas Elementares.“ Und sie offenbart Allgegenwart, „Allgegenwart in dem Sinne, dass an sich jede Materie transzendierbar ist. An diesen Punkt zu kommen, ohne Wertungen, das regt mich als Basis zu meiner künstlerischen Arbeit an, und es ist meine zentrale Haltung, immer wieder diese sich verflüchtigenden Momente einzufangen oder an diesen Punkt zu gelangen, um eine neue Wendung geschehen zu lassen. Dann gewinnt die Arbeit selbst die Überhand und wächst über den gedanklichen Ursprung hinaus. Ein bestimmter konzeptioneller Gedanke ist nur die eine Seite, die andere Seite findet in dem naturähnlichen Vorgang statt, der während des Arbeitsprozesses geschieht. Im gegenseitigen Wechselspiel bekommt die Arbeit irgendwann ein Eigenleben. Das bietet der weiteren Schöpfung enorme Möglichkeiten. Es ist für mich keine Frage der Quantität, sondern eine Frage der Wandlungsfähigkeit, nicht stehen zu bleiben, keinem rigiden Konzept zu folgen.“
Materie
Ikemuras Haltung kommt auch in der Wahl von Medien und Materialien beziehungsweise der Materie zum Ausdruck. Sie arbeitet in den Bereichen Zeichnung, Aquarell, Öl, Keramik, Bronze und Fotografie, doch in welchem Medium ein Gedanke umgesetzt wird, entwickelt sich häufig erst während des Schaffensprozesses. „Manche Dinge haben drei oder vier Bereiche. Das eröffnet Auswege. Sobald sie sich in einem Bereich verflüchtigt haben, besteht die Möglichkeit, sie in einem anderen weiterzuverfolgen. Wenn ich beispielsweise in der Zeichnung experimentiere, entsteht auch eine Verbindung zur Malerei. Während des Malens gibt es wiederum eine Rückwirkung auf die Zeichnung. Ähnliches passiert auch mit der Fotografie, die mich schon seit Langem begleitet und die ich nicht nur für das Studium der Formen nutze, sondern auch für das von Licht und Schatten; besonders für das der Schatten. Durch Schatten entstehen Daseinsformen, die mich wieder zu der Malerei zurückführen können.“
Jedes Medium hat an sich seine eigene Entfaltungsmöglichkeit bzw. Grenze. „Die Zeichnungen sind wie ein Scharnier“, sagt Ikemura. „Sie sind das unmittelbarste Ausdrucksmittel. Die Linien sind wie das Skelett der Gedanken, die durch die Hände in Schwingungen übertragen werden.“ Das Aquarell, bei dem die Künstlerin mit sehr wässrigen Lösungen arbeitet, nutzt sie, um neue Formen zu ertasten. Das Flüssige daran ist die Basis aller festen Form. Auch die Ölfarben trägt sie sehr dünn und lasierend auf den fast immer ungrundierten Malgrund auf. So gehen Malmittel und Bildträger eine untrennbare Verbindung ein; sie werden eins. Leinwand, Nessel oder Jute wird in das Bild integriert, wird bildimmanente Materie. Die Farbe ist aufgebrochen und porös. Sie verbirgt den Malgrund nicht, sondern ist offen und durchlässig. Ein materieller Zwischenzustand.
Seit den 1990er-Jahren arbeitet Leiko Ikemura auch keramisch. „Meine Skulpturen verstehe ich nicht im bildhauerischen Sinne. Mich interessiert neben der Materialität auch, wie die Farbe mit dem Objekt eins wird. Ich trage die Farben nicht direkt auf die Skulptur auf, sondern sie werden mit dem Trägermaterial gebrannt. Diese Verschmelzung von Materie und Farbe ist für mein Schaffen sehr relevant. Material- und Herstellungsprozess gehen Hand in Hand, und gleichzeitig ist auch das Malerische impliziert.“ Der Reiz der keramischen Arbeiten entsteht aus der erdigen Schwere des Terrakotta, deshalb thematisiert Ikemura den Hohlkörper. Es gibt immer Öffnungen und damit eine Leichtigkeit, die nicht durch die Materie bedingt ist, sondern sich aus der Widersprüchlichkeit ergibt. Damit das Material als Masse erkennbar ist, braucht es den Hohlkörper. „Diese Spannung von Masse und Leere möchte ich visualisieren. Eine kopflose Figur ist nicht verletzt. Es hat auch nichts mit Aggressivität zu tun, sondern es ist die Leere, welche die Fülle ausmacht. Wenn Figuren unvollständig gestaltet sind, verweist die Abwesenheit sehr deutlich auf die Gegenwart. Dieser Widerspruch interessiert mich – Massivität, die durch den Hohlkörper erreicht wird und gleichzeitig von Fragilität und Schwere geprägt ist. Das ist das Prinzip des Gefäßes. Es nimmt einerseits etwas auf und behauptet sich auf der anderen Seite als Ding an sich.“
Leidensdruck und Anerkennung
Leiko Ikemura hat ihren künstlerischen Weg konsequent verfolgt und weiterentwickelt. Ihre kontinuierliche Entwicklung erklärt die Künstlerin, die seit ihrer Berufung 1991 an die Universität der Künste in Berlin und Köln lebt und arbeitet, so: „Leidensdruck und Anerkennung müssen in einer Balance stehen. Das Leiden entsteht unter anderem dadurch, dass der Künstler mit dem, was er macht, auf sich alleine zurückgeworfen ist. Wenn man das nicht durchsteht, dann ist es keine Tätigkeit, die man verfolgen sollte. Insofern glaube ich, ist es falsch, die schnelle Anerkennung zu suchen. Natürlich möchte ich, dass meine Arbeiten wahrgenommen werden, aber weil sie die Menschen bewegen und nicht, weil ich mich einem Trend unterwerfe. Lediglich die innere Stimme sollte einem sagen, dass trotz aller Fragen und Zweifel etwas ab einem bestimmten Punkt Substanz hat. Dabei geht es nicht um Richtigsein. Irgendwann kommt im Leben eines Künstlers der Zeitpunkt, wo man sagt: ‚Ja, jetzt bin ich auf einem Weg, der mich geistig und emotional stark bewegt.’ Es gibt kein Kalkül, wie man etwas machen kann, sondern man sollte eins mit der Sache sein. Ich habe solche Momente immer wieder erfahren, und diese Erfahrung hat gegenüber dem Zweifel, der immer da ist, überwogen.“
Auszeichnungen
2001 Deutscher Kritikerpreis für Bildende Kunst, Verband der deutschen Kritiker
e. V., Deutschland
2008 August Macke Preis des Hochsauerlandkreises
2014 Cologne-Fine-Art-Preis
Ausstellungen
2015 Sparda Kunstpreis NRW der Stiftung Kunst, Kultur und Soziales der Sparda-Bank West, Recklinghausen
Aktuelle und kommende Ausstellungen
15. Juli 2017 bis 8. Oktober 2017
Ikemura & Nolde, Kunstmuseum Ahrenshoop, Ostseebad Ahrenshoop
4. November 2017 bis 25. Februar 2018
Leiko Ikemura. Märchenwald, Deutsches Keramikmuseum Hetjens, Düsseldorf
10. September 2017 bis 21. Oktober 2017
Leiko Ikemura, ShugoArts Tokio
7. Oktober 2017 bis 4. März 2018
Wetterbericht. Über Wetterkultur und Klimawissenschaft, Bundeskunsthalle Bonn, Deutschland
Künstlerbücher
2012
Leiko Ikemura. Transfiguration, Distanz Verlag, Berlin 2012
2010
Leiko Ikemura. Asuka 飛鳥“, Verlag Wilfried Dickhoff 2010
2009
Matsuo Bashô, Hundertundelf Haiku, mit Zeichnungen von Leiko Ikemura, hrsg. Von Marie-Luise Flammersfeld, Ammann Verlag, August 2009
2008
Ich sah uns dort in der Ferne gehen, Elisabeth Plessen. Gedichte. Leiko Ikemura. Aquarelle, Radius-Verlag Stuttgart 2008
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