Hintergrund

Heimat, Hochsitz, Hitchcock

Die schwarz-weißen Pinselzeichnungen des Hamburgers Heiko Müller entführen den Betrachter in geheimnisvolle Zwischenwelten. Heimische Wildtiere und alpine Bergsteigerhelden treffen auf die Protagonisten der Alfred-Hitchcock-Klassiker.

Wenn die Rehe in die Stadt kommen und wenn seltene Frösche in den Teichen an seiner Joggingstrecke im waldnah gelegenen Vorort Großhansdorf im Norden Hamburgs quaken, fühlt sich der Maler Heiko Müller wohl. 1968 in Hamburg geboren, ist er aufgewachsen in einem Hochhaus im dicht besiedelten und von Autobahnen zerschnittenen Stadtteil Billstedt – nicht eben naturnah. Die seltenen Ausflüge in den Wald gehörten zu den Höhepunkten seiner Kindheit. Die Natur prägte ihn früh, ebenso wie die Mal- und Zeichenversuche seiner älteren Brüder, denen er bald nacheiferte. Schnell wurde ihm klar: Er wollte Künstler werden. Nach einer Ausbildung im Fachbereich Gestaltung an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW Hamburg) mit Schwerpunkt Kinderbuchillustration und ersten Erfolgen im Ausstellungsbetrieb, ließ er jedoch zunächst das Malen sein und arbeitete einige Jahre als Designer. Danach aber folgte eine Phase der Neuorientierung und Rückbesinnung auf die eigenen Stärken.

Heute ist Heiko Müller ein viel gefragter Maler und Zeichner. Bereits früh knüpfte er enge Kontakte in die USA, wo er bis heute regelmäßig an Gruppenausstellungen teilnimmt. Daneben hat er auch Galerien in Spanien und Italien. Der Hamburger Maler wird den Kunstrichtungen Lowbrow und Pop-Surrealismus zugeordnet, die in den USA eine weitaus größere Verbreitung finden als in Deutschland. Müller arbeitet seit über zehn Jahren mit der Hamburger Galerie Feinkunst Krüger zusammen, die sich sehr erfolgreich auf Künstler dieses Spektrums spezialisiert hat. Seit 2006 kuratiert er dort jedes Jahr im Dezember die Gruppenshow „Don’t Wake Daddy“, zu der er vor allem Künstler der amerikanischen Künstlergruppe mit der sehr selbstironischen Bezeichnung „Art Dorks Collective“ (etwa: Kunst-Trottel-Kollektiv) einlädt, in der auch Müller selbst seit über zehn Jahren Mitglied ist.

Heiko Müller, Dial M for Murder (2015), Acryl auf Papier, 30 x 30 cm Copyright: VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Heiko Müller
Heiko Müller, Untitled (Doe and Fawn, 2014), Mixed Media auf Papier, 30 x 30 cm Copyright: VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Heiko Müller
Heiko Müller, Untitled (b/w-study 38, 2015), Acryl auf Papier, 30 x 30 cm Copyright: VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Heiko Müller
Heiko Müller, Untitled (b/w-study 41, 2015), Acryl auf Papier, 30 x 30 cm Copyright: VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Heiko Müller

Seit 2011 entstehen regelmäßig Pinselzeichnungen. Nachdem Müller lange Zeit in komplizierter Öl-auf-Holz-Technik, mit Digitaldrucken sowie mit Buntstiften, die er extrem stark aufdrückte, gearbeitet hat, greift er heute vor allem zu feinen Pinseln und Acrylfarbe. Seine Pinselzeichnungen haben alle dasselbe Format, nämlich 30 x 30 cm in Anlehnung an die Abmessungen von Vinyl-LP-Plattencovern. Müller arbeitet nach Fotovorlagen. Diese bilden die motivische Grundlage seiner Pinselzeichnungen. Und er greift dabei auf einen großen Fundus zurück: Bilder aus dem Internet etwa von Plattformen wie Flickr, Pinterest und anderen Fotoportalen, Filmstills, also Standbilder aus Film und Fernsehen, sowie eigene Fotos, die er auf Reisen oder in der Natur macht.

Einen großen Werkkomplex bildet eine Serie von Pinselzeichnungen, die sich auf Heimatfilme beziehen. Entschlossen dreinschauende Wilderer mit Jagdgewehr, versteckt gelegene Hochsitze, ambivalent aufgeladene Bergidyllen: Für Müller haben die  motivgebenden Filme im Stil von Luis Trenker einen besonderen Reiz. Als er sie in seiner Kindheit und Jugend erstmals gesehen hat, faszinierte ihn noch ihr klares Gut-Böse-Schema. Ein Klischee, das er aus seiner heutigen Wahrnehmung heraus natürlich kritisch hinterfragt. Die Natur erscheint auf seinen Pinselzeichnungen häufig als eher brüchiges Idyll und bildet die Folie für eine melodramatische Handlung.

Eine weitere Serie, die 25 Pinselzeichnungen umfasst, nimmt Filmstills von Alfred-Hitchcock-Klassikern zum Ausgangspunkt. Eng umschlungene Protagonisten wie James Stewart und Kim Novak aus dem Kultfilm „Vertigo – Aus dem Reich der Toten“ stehen stellvertretend für ein Traumpaar, das geheimnisvollen Mächten und Gefahren ausgeliefert ist. Psychologisierende Momente wechseln sich ab mit Melodramatik und dem, was Cineasten gern als Suspense bezeichnen. Gemeint ist jene schwer zu beschreibende Atmosphäre des spannungsgeladenen In-der-Schwebe-Haltens, die jeden Moment durch ein dramatisches Ereignis gestört werden kann. Weitere Filme seines Lieblingsregisseurs, deren Motive Müller bereits in seinen Pinselzeichnungen verarbeitet hat, sind „Die Vögel“ oder „Bei Anruf Mord“. Der Hamburger Maler entführt den Betrachter hier in geheimnisvolle Zwischenwelten, die man zu kennen glaubt und dann doch wieder ganz neu erlebt.

Heiko Müller, Untitled (b/w-study 20, 2012), Acryl auf Papier, 30 x 30 cm Copyright: VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Heiko Müller
Heiko Müller, Untitled (b/w-study 24, 2012), Acryl auf Papier, 30 x 30 cm Copyright: VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Heiko Müller
Heiko Müller, Untitled (b/w-study 28, 2012), Acryl auf Papier, 30 x 30 cm Copyright: VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Heiko Müller
Heiko Müller, Untitled (b/w-study 43, 2015), Acryl auf Papier, 30 x 30 cm Copyright: VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Heiko Müller

Für Müller sind die Pinselzeichnungen weitaus mehr als nur eine Form der schnellen Vorskizze und Improvisation. Er trägt schwarze Acrylfarbe auf, nimmt sie wieder weg, fügt Weiß hinzu und so weiter. Seine Pinselzeichnungen entwickeln sich rasch in einem dynamischen Prozess. Das schnelle Arbeiten bedeutet für ihn auch ein Stück Freiheit. Die schwarz-weißen Pinselzeichnungen entstehen jeweils an einem Tag. Sie sind alle unbetitelt, aber durchnummeriert.

Als künstlerische Vorbilder nennt Heiko Müller, manchen mag das überraschen, die US-Künstler Mike Kelley und Cy Twombly. Was gefällt ihm an dem abstrakt arbeitenden Maler Twombly? „Ich mag Cy Twombly, weil ich durch ihn verstanden habe, dass man poetisch arbeiten kann, ohne kitschig zu sein“, sagt er. Während seiner Malsessions im Atelier hört Müller gern Avantgarde-Jazz oder Hörbücher mit Science-Fiction-Stories von Philip K. Dick oder Stanislaw Lem. Oder auch Pseudodokumentationen auf YouTube, gerne in englischer Sprache. „Ich mag den Flow, dann fällt mir das Malen leichter“, sagt Heiko Müller.

Die Pinselzeichnung gilt als eine der wichtigsten Techniken der Zeichenkunst. Ähnlich wie bei der Federzeichnung oder der Tuschzeichnung wird zum Auftragen des Farbmaterials ein passendes Zeichen- oder Malgerät, in diesem Fall also ein Pinsel, benötigt. Geeignete Borsten- oder Haarpinsel bestehen aus festen oder feinen Tierhaaren, heutzutage manchmal auch aus künstlichen Materialien, die zu einem Büschel geformt und von einer metallenen Zwinge zusammengehalten werden. Ein leicht führbarer, fingerfreundlicher Griff komplettiert das Ganze. Die Haare saugen die Farbe auf und geben sie wieder ab. Als Bildträger fungiert oft glattes, saugfähiges Papier. Technisch und ästhetisch gesehen bewegt sich die Pinselzeichnung zwischen dem Zeichnen und dem Malen. Je nach Pinselstärke wird eine zarte Feinlinigkeit oder eine flächige, malerische, gröbere Struktur erreicht. Dabei unterscheidet man zwischen Spitzpinseltechnik und Breitpinseltechnik. Die Pinselzeichnung bietet die Möglichkeit einer offenen, körnigen Struktur. Der Maler kann monochrom oder auch mehrfarbig arbeiten. Man versteht die Pinselzeichnung als eine Übergangserscheinung zwischen der Grafik und der Malerei. Der durchscheinende, lichte Grund wird ebenso in die Entstehung des Bildes einbezogen wie die aufgetragene, primär aus sich selbst heraus wirkende Farbe.

Historisch gesehen reicht die Pinselmalerei bis in die jungpaläolithische Felsbildkunst zurück. Pinselzeichnungen auf leichteren Bildträgern haben sich in Europa bis zum Ende des Mittelalters jedoch kaum erhalten. Dennoch geht man davon aus, dass es solche Bilderzeugnisse gegeben haben muss. Die Pinselzeichnung allgemein wurde jedoch lange Zeit zu Unrecht geringgeschätzt, da sie angeblich nur der Vorbereitung größerer Werke diente. Heute sieht das ganz anders aus: So liegt der Auktionsrekord für Pinselzeichnungen von Henri Matisse bereits bei rund 600.000 Euro. Eine gewisse Präsenz hatte die Pinselzeichnung jedoch immer in der Buchillustration.

Einen breiten Raum hingegen nimmt sie in der ostasiatischen Kunst ein. Schon vor circa 2.000 Jahren wurde in China der Pinsel gleichermaßen zum Schreiben und Zeichnen verwendet. In Europa finden sich Pinselzeichnungen von bildhafter Geschlossenheit erst seit Mitte des 15. Jahrhunderts mit dem Aufstieg der Handzeichnung zu einer selbstständigen Kunstgattung. Ab dann entstanden gültige Einzelblätter. Charakterisiert sind diese frühen Pinselzeichnungen häufig durch die Stricheltechnik des spitzen Haarpinsels. Zunächst noch bewegten die Maler sich in einer engen Farbskala, vorwiegend Schwarz und Weiß. Oft ging der Pinselfassung auch eine Silberstichzeichnung voraus. Zeichnerische Pinselvirtuosen dieser Zeit sind Albrecht Dürer sowie andere Renaissancekünstler nördlich der Alpen wie Albrecht Altdorfer oder Hans Baldung Grien. Aber auch Italiener liebten eine weiche Manier und wandten sich der Pinselzeichnung zu, so etwa Vittore Carpaccio. Seit Parmigianino und Tintoretto schätzte man an der Pinselzeichnung die skizzenhafte Haltung. In den folgenden Jahrhunderten wurde die Pinselzeichnung immer wieder mit anderen Techniken vermischt und ausgearbeitet, etwa bei Nicolas Poussin, Giovanni Battista Tiepolo, Francisco de Goya, Théodore Géricault oder Eugène Delacroix.  Auch Expressionisten wie etwa Ernst Ludwig Kirchner bedienten sich der Pinselzeichnung aufgrund ihrer Eigenschaft, holzschnittartige Kontraste zu erzielen.  Aber auch andere Künstler des 20. Jahrhunderts, von Marc Chagall über Wassily Kandinsky bis zu Alfred Kubin, nahmen die Pinselzeichnung in ihr Repertoire auf.

So befindet sich Heiko Müller heute in bester kunsthistorischer Gesellschaft, wenn er die moderne Form der Pinselzeichnung mit gegenwärtigen Motiven ausführt. Die schnelle, skizzenhafte, bisweilen psychedelisch angehauchte Form ermöglicht ihm eine kontinuierliche Produktion in einem auf Kontraste und Pointierung angelegten Malprozess. Sein Themenspektrum ergibt sich nicht zuletzt aus seiner kulturellen und autobiografischen Prägung. Heimat, Hochsitz, Hitchcock – Heiko Müller lotet ganz unterschiedliche Themen aus, ohne dabei pathetisch oder sentimental zu werden. Technisch ausgereift und inhaltlich unterfüttert, ist er permanent dabei, das alte Medium Pinselzeichnung neu und modern zu interpretieren.

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Profile

Heiko Müller, geboren am 13. Januar 1968 in Hamburg, lebt und arbeitet in seiner Heimatstadt. Er ist als freischaffender Künstler tätig sowie als professioneller Mediendesigner und Illustrator. Müllers Werke werden in Deutschland, Russland und den USA ausgestellt.

Müllers Kunst bedient sich aus Elementen der mittelalterlichen Ikonenmalerei, der Malerei niederländischer und flämischer Meister sowie der Comic-Kunst. Charakteristisch sind seine Tierporträts, die eine apokalyptische Stimmung umgibt.

Müllers bevorzugte Techniken sind Öl auf Leinwand oder Papier, Acrylmalerei und Pinselzeichnungen.

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