Ein narrativer Realist erzählt.
Interview mit dem Künstler Cyrus Overbeck.
Christian-Friedrich Vahl: Du hast neue, hoch expressive und narrative Arbeiten mit den Medien Ölmalerei, Holzschnitt, Spraying, Bronze und Radierung hergestellt. Du hast uns eben erklärt, dass Du eine Gehirnoperation überlebt hast. Dass Du froh bist zu leben und vor allem als Künstler zu leben. Wie meinst Du das?
Cyrus Overbeck: Mein künstlerischer Weg in den letzten 35 Jahren hat mir immer schon viel Mut abverlangt: im Vorwärtsschreiten wie im gelegentlichen Innehalten. Ganz wach, ernst, aufmerksam, lebendig und verspielt zugleich musste ich meinen Weg finden, immer weitergehen. Durch Phasen von Glück, Einsamkeit, Euphorie und Niedergeschlagenheit hindurch. Seit meiner Gehirnoperation kann ich gelegentliche Verstimmungen nicht mehr ernst nehmen. Ich spüre, wie viel ich noch erzählen muss, dass meine Zeit begrenzt ist, und bin viel disziplinierter geworden.
Nach der konkreten Erfahrung der Endlichkeit bemerke ich, dass ich mit einer vermehrten Wachsamkeit auf allen Stufen und Stadien meiner künstlerischen Abläufe reagiere.
Vahl: Wie muß ich mir das konkret vorstellen?
Overbeck: Nach der konkreten Erfahrung der Endlichkeit bemerke ich, dass ich mit einer vermehrten Wachsamkeit auf allen Stufen und Stadien meiner künstlerischen Abläufe reagiere. Als Künstler habe ich ja keine Fremdkontrolle über mein Tun: Nur die eigene Achtsamkeit, der Respekt vor dem Erzählten, setzt meine Maßstäbe für die ständige Weiterentwicklung meiner Kunst.
Vahl: Ist der Drang zur Weiterentwicklung mit Rastlosigkeit verbunden?
Overbeck: Nein! Rastlosigkeit als dauernder Zustand oder als bewegende Kraft bringt nur Unheil! Ich brauche eher die Abgeschiedenheit und Ruhe eines Klosters, um ein starker Erzähler zu sein.
Vahl: Du verwendest zur Selbstcharakterisierung Deiner Kunst seit etwa 30 Jahren den Begriff „narrativer Realismus“. Was bedeutet das?
Overbeck: Als narrativer Realist kann ich erzählend für viele Werte eintreten. Über allen Werten steht für mich etwas, an dem es in unserer Gesellschaft immer mehr mangelt: die Glaubwürdigkeit. Es geht mir bei der Glaubwürdigkeit um die Übereinstimmung von Wort und Werk, von Haltung und Handlung. In der Mitte der achtziger Jahre ist ein Buch des Medienwissenschaftlers Neil Postman erschienen, das von den Intellektuellen und Kulturkritikern begeistert aufgegriffen worden ist. Postman vertrat – in grober Vereinfachung – die These, daß die Kultur des Fernsehens mit ihren punktuellen und keine Linien mehr verfolgenden Erzählweisen aufgehört hat, zu erzählen und dass wir uns – inmitten dieser Desinformationskultur – gleichsam zu Tode amüsieren. Dieser These habe ich schon vor 30 Jahren energisch widersprochen.
In der bildenden Gegenwartskunst bin ich wohl einer der letzten Geschichtenerzähler
Vahl: Wie ist Deine Sichtweise dazu?
Overbeck: Ich habe dem seinerzeit – so wie auch heute – entgegengesetzt, dass in unseren Kulturen so lange erzählt werden wird, wie es Erzähler gibt. Und dass jedes Medium zur Erzählung tauge. In der Literatur hat Dos Passos in „Manhattan Transfer“ eine nichtlineare Erzählweise verwendet. Diese Zerstückelung der Wirklichkeitserfahrung änderte nichts am narrativen Charakter seiner Literatur. In der bildenden Gegenwartskunst bin ich wohl einer der letzten Geschichtenerzähler: Meine Holzschnitte, meine Bronzen, meine Arbeiten in Öl, meine Radierungen sprechen mit dem Betrachter. Sie erzählen von meiner Sehnsucht nach Liebe, Frieden und Geborgenheit. Sie berichten über meine Erfahrungen mit Verzweiflung, Tod und verzweifelten Menschen. Sie erzählen von meinen Versuchen, das Grauen von Flucht, totalitären Staaten, Unterdrückung und Völkermord anzusprechen. Sie drücken meine Sorge angesichts der Entdemokratisierung europäischer Gesellschaften aus. Und sie erzählen auch von Religion. In jede meiner Arbeiten sind die großartigen Verflechtungen der Weltreligionen eingewoben, in denen ich selbst Kind, Jugendlicher, Pädagoge und Künstler geworden bin: der Katholizismus, der Protestantismus, das Judentum und das muslimische Weltverständnis. In genau diesem Sinne bin ich anlässlich der Aufnahme in die European Academy of Sciences and Arts, Salzburg, gewürdigt worden.
Vahl: Ist jede Deiner Arbeiten auch jeweils Ausdruck Deiner aktuellen Erkenntnissituation?
Overbeck: Nein, natürlich nicht. Als Künstler muss (und darf) ich nicht alles sagen, was ich weiß und sehe.
Vahl: Werden Deine Arbeiten verstanden?
Overbeck: Natürlich. Es gibt ja nichts zu verstehen, die Arbeiten sollen wirken. Wenn ich aufhören würde zu glauben, dass meine Arbeiten wirken, würde ich wieder Lehrer werden. Aber als Lehrer habe ich die Erfahrung gemacht, dass Worte, Argumentationsketten, Analysen für die Schüler das eine sind. Aber ein Wink von mir, ein ernster Gesichtsausdruck, ein Pinselstrich vom mir als Lehrer dem Schüler auf das Blatt gemalt, haben Wirkungen, die durch keine Satzmenge abgebildet werden können. Das ist die Sprache meiner Arbeiten. Lakonisch und hochwirksam. Manchmal explosiv.
Vahl: Und welche Rolle spielt die Person des Künstlers? Deine Rolle?
Alle Menschen, die meine Arbeiten sehen, möchte ich einspannen für ein kultiviertes Zusammenleben, das von Frieden, Respekt und Liebe beherrscht wird
Overbeck: Meinen Sammlern rate ich, mich zu vergessen und meine Arbeiten anzuschauen. Wenn sie das Gespräch mit mir suchen, merken sie schnell, dass sie nicht das finden, was sie suchen. Dann geht der Blick wieder hin zur Kunst. Denn nicht die Götter verändern unsere Welt. Sondern Architekten, Städtebauer, Schiffbauer, Kulturschaffende, wache Menschen: das ist meine Zielgruppe. Alle Menschen, die meine Arbeiten sehen, möchte ich einspannen für ein kultiviertes Zusammenleben, das von Frieden, Respekt und Liebe beherrscht wird.
Vahl: Da klingt viel ethisches Pathos hinein. Sind Deine Arbeiten Ausdruck eines rationalen Prozesses, der eine Botschaft vermitteln will?
Overbeck: Nein, eher nicht. Als Künstler spüre ich, dass ich selbst in nachdenklichen Momenten sagen muss, dass mein Handeln nie vollständig unter rationaler Kontrolle ist. Ich folge wohl am Ende des Tages immer einer bestimmten Neigung, sodass mir meine künstlerischen Schritte nicht wie eine rationale Wahlentscheidung vorkommen, sondern einfach wie ein Schritt auf dem Weg zur Wahrheit, die ich erzählend einzukreisen versuche.
Vahl: Du bist in öffentlichen Sammlungen und Museen präsent. Gibt es während des Schaffensprozesses Momente, in denen Du öffentliche Sammlungen im Blickpunkt hast?
Overbeck: Nein. Ein Realist ahmt ja nichts nach. Viele Dinge, die wir heute als Kunst in Museen anschauen, waren einmal für etwas ganz anderes gemacht. Dazu gedacht, etwas zu dekorieren, zu erbauen, jemanden zu warnen oder zu unterweisen: Sie waren Teil der gelebten Wirklichkeit, sie waren oft Teil und Transporteuer einer Weltanschauung. Meine Kunst ist genauso wirklich und so neu und so unvorhersehbar, wie ein Rotkehlchen auf dem Tannenzweig oder die Blume am Waldrand oder wie eine Weltanschauung.
Vahl: Das heißt, Du hast kein bevorzugtes Thema, sondern dein Thema ist vor allem Dein Rezipient?
Overbeck: Genau! Unsere Geschichte zeigt, dass grausame Kriege, Epidemien, Erdbeben, Überschwemmungen, Hungersnöte weder im Christentum noch im Islam den Glauben an einen gerechten und mildtätigen Schöpfergott beseitigen können. Auf der Ebene der Weltanschauung kann die Kunst nicht argumentieren. Aber die Kunst kann sich einmischen und in einem allerersten Schritt dem Betrachter das Gefühl geben, dass er seiner Wahrnehmung trauen kann, dass er wichtig ist und dass es richtig ist, was er wahrnimmt, auch wenn alle anderen anderes wahrnehmen. Das ist ein Anfang. Ich bin überzeugt, dass in meinem Leben die Auswirkungen von Träumen die von Bedrohungsszenarien und Gewaltausübung übertreffen.
Vahl: Die Kunstkritiker heben bei Dir die klare Bildsprache hervor. Stimmst Du da zu?
Overbeck: Was die Kritiker sagen, lese ich, aber es beeinflußt mich nicht. Klarheit ist für mich das Ergebnis einer gewissen Routine, einer Gewohnheit, nicht einer besonderen Einsicht. Meine Erzählweise soll eher Löcher in die Routine bohren, wie in einen Schweizer Käse.
Vahl: Was ist die Wirklichkeit für einen narrativen Realisten?
Overbeck: Wirklich ist für mich das, was eine Schlüsselrolle in unserem Leben spielt, das, mit dem wir uns identifizieren. Ich sage deshalb, dass ganz unterschiedliche Vorgänge wirklich sind: Flöhe, Visionen, Erfahrungen, Träume und religiöse Fantasien liegen für mich auf der gleichen Wirklichkeitsebene wie meine Gehirnoperation.
Vahl: Bist Du erfolgreich?
Overbeck: Erfolgreich? Ich weiß nicht, ob unsere Kultur insgesamt erfolgreich ist: Sie ist vielleicht erfolgreich, weil sie das körperliche und geistige Wohlbefinden ihrer Mitglieder steigert. Vielleicht gibt es bessere Erfolgsbegriffe. Ich weiß nicht, ob ich erfolgreich bin. Ich bin erfolgreich beim Verändern. Ohne Begegnungen kann es kein Verstehen geben. Begegnungen verändern die betroffenen Menschen. Diejenigen, die sich nicht ändern wollen oder die Angst davor haben, andere zu ändern, werden sich früher oder später in einer künstlichen Welt wiederfinden. Indem ich durch Kunst verändere, halte ich die Menschen mit meinen Erzählungen erfolgreich in der Realität fest. In diesem Sinn bin ich erfolgreich.
Ich bin Künstler, ich erzähle, was ich sehe und erlebe. In Holz, in Bronze, auf Öl, auf Leinwand, Metall und auf Stein
Vahl: Du hast Dich der Kunstmarkt-Infrastruktur bisher weitgehend entzogen. Warum?
Overbeck: Ich kann diese ganzen zuckersüßen philosophischen Phrasen zur Kunst nicht mehr hören. Auch unsere Intellektuellen und Politiker folgen offenkundiger als Künstler (die es wohl dürften) ihrer Eitelkeit, sie streben ja nur nach Macht. Ich bin Künstler, ich erzähle, was ich sehe und erlebe. In Holz, in Bronze, auf Öl, auf Leinwand, Metall und auf Stein. Ich bin seit vielen Jahren auf dem Kunstmarkt, ohne eine Marketingorganisation im Hintergrund oder einen großen Galeristen. Mein einziges Kapital ist, dass ich glaubwürdig bin und dass ich etwas zu erzählen habe. Und dass ich mich getraue. Weil ich in einer offenen Gesellschaft arbeiten darf. Ich darf jeden Tag aufs Neue Cyrus Overbeck sein. Mehr will ich nicht.
Das Interview führte Christian-Friedrich Vahl.
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