Cesare Marcottos „Panta-rhei“-Interpretationen
Wenn wir dem letzten Tropfen eines kürzlich vorübergezogenen Regenschauers oder dem eines tropfenden Wasserhahns oder dem einer Träne oder Farbe folgen würden, wohin würde er uns führen? Zu weiteren Tropfen, die sich zu einem Rinnsal vereinen und schließlich in einer schillernden Pfütze sammeln, oder zerstäubt er – einer unter vielen – in einem Regenbogen oder versiegt er in Erde, einem Mundwinkel oder einer Leinwand? Einem solchen Tropfen zu folgen wäre „wie reisen ohne Landkarte“ zu neuen, unbekannten und unverhofften Orten. Doch vielleicht sind gerade solche unverhoffte Orte das eigentlich Erhoffte, die Gefühle von Neugier und unbestimmter Erwartung auf der Suche nach Wegen und Stationen wecken, nicht nach einem Ziel. Denn schließlich findet man in der Beobachtung und Suche nach einem Ziel auf dem Weg bereits eine Erfüllung, wenn man sich mit dem Objekt der Beobachtung, dadurch, dass man an ihm Anteil nimmt, verbindet und versteht, dass man als Teile eines Ganzen zusammenhängt und aufeinander einwirkt.
Cesare Marcotto verfolgt solche Tropfen, Rinnsale, Flüsse und Seen aus Wasser und Farbe, die sich im Zusammenspiel der vier Elemente und menschlicher Natur ineinander verlaufen, verlieren und wieder zusammenfinden, auf ganz spezifische Weise als Maler und Autor: „Malen kann eine Möglichkeit sein, an der Natur teilzuhaben und sie mit einer Handlung zu deuten … aber es kann auch bedeuten, neues Gebiet für sich selbst zu entdecken, was sich dann konkret in der endgültigen Fassung eines Werkes zu zeigen scheint.“ Marcotto erforscht dabei nicht nur die Spuren seiner Malerei und deren Bedeutung für sich, sondern auch die Spuren von Kunst und Natur im Allgemeinen im Prozess des Schreibens selbst und nimmt den Leser mit auf eine spontane Reise durch die Natur, die Elemente, ihre Anziehungskräfte und führt uns damit ein in seine eigene mehrgestaltige Kunst.
Der Facettenreichtum, der bei dieser Reise immer wieder an die Oberfläche tritt, zeigt sich uns durch das kaleidoskopische Prisma des vielschichtigen Künstlers Cesare Marcotto: Nach erfolgreichem Abschluss des Instituto D’Arte N. Nani in seiner Geburtsstadt Verona, arbeitete er mehrere Jahre europaweit in Opernhäusern als Bildhauer und Bühnenbildner, wo er das Fiktive inszenierte. Zeitgleich war er viele Jahre auch als Höhlenforscher tätig, womit er sich einer realen Herausforderung stellte, die eine intensive körperliche Erfahrung von Licht- und Schattenverhältnissen sowie den Elementen Erde, Luft und Wasser mit sich brachte. Diese langjährigen Gegensätze von inszenierter Fiktion und realer Herausforderung, von Gefühl und Verstand, die dem Künstler immer wieder eine Auslotung abforderten, führten zu zahlreichen irisierenden Erfahrungsschichten seiner Person, die er in seinen Werken umsetzt und sich Schritt für Schritt durch diese Schichten arbeitet (…)
Dabei ist das Wissen über Marcottos bildend künstlerische Arbeitsweise für das Verständnis seines schriftlichen Werkes von wesentlicher Bedeutung. Der Schlüssel dazu liegt in der Marcotto’schen Schütttechnik, bei der Farbe schichtweise am Rande der Abstraktion immer wieder über die Leinwand nicht gemalt, sondern mit mehr oder weniger Energie geschüttet und geworfen wird. Ziel dabei ist ein scheinbar strenger Zusammenhalt der sich aus Schütten und Werfen ergebenden Teile. Sie sind für sich erkennbar, ergeben aber am Ende in sich verästelt als gegenseitige Fortsetzungen ein gemeinsames Ganzes: eine morphogenetische Einheit, die scheinbar durch ein inhärentes Licht zusammengehalten wird. Dieses Licht ermöglicht Tiefe und Räumlichkeit und trägt eine unverwechselbare Stimmung. In Marcottos Bildern gibt das Licht den Ton an. Und so wie das Licht der Ton ist, ist das Wasser die Melodie. Denn erst die Beimischung von Wasser zu Farbe erzeugt unterschiedliche miteinander spielende und kommunizierende Farbintensitäten, die einander anziehen oder abstoßen, bis alles in eine Komposition aus Farbe, Elementen und Licht aufgeht. Leitend sind bei der Werkgestaltung seine Emotionen. Sie ermöglichen am Ende die Schüttgeste, den entscheidenden Wurf, der die Verbindungen zwischen den einzelnen Teilen zueinander ermöglicht und schließlich ein Ganzes erschafft und Cesare Marcottos Sinnlichkeit ins Bild fließen lässt. (…) Damit lässt uns Cesare Marcotto an seiner Interpretation der Heraklid’schen „Panta-rhei“-Idee teilhaben. (…)
Leicht bearbeiteter Auszug aus dem Vorwort von Katharina Dück zu Cesare Marcottos Buch „DIE ZARTHEIT DES WASSERS“ mit freundlicher Genehmigung der Autorin.
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