Birgit Nass interpretiert Kalligrafie individuell.
Noch ein kurzer Moment des Sich-Sammelns, in dem sie ihr Vorhaben vor dem geistigen Auge vergegenwärtigt, dann greift Birgit Nass entschlossen zu einem grünen Acrylmarker mit breitem Kopf und setzt konzentriert eine schmale Linie auf das jungfräuliche Weiß der Dibondplatte, die vor ihr auf dem Arbeitstisch liegt, hält inne, um das Werkzeug in die richtige Position zu bringen, und schließt mit einer schwungvollen Bewegung einen breitflächigen Bogen an. Bald schon entsteht so ein mäandernder Wechsel von Strichen und Kurven, von Fein und Fett, aus dem sich schließlich ein Buchstabe formt – ein gebrochenes B.
Das soeben geschriebene Zeichen akzentuiert Birgit Nass im lichtdurchfluteten Wintergarten ihres Ateliers zusätzlich mit einem Kalligrafie-Marker. Wo die blauen Linien mit der noch feuchten Acrylfarbe in Berührung kommen, lösen sie sich an den Rändern auf und verlaufen wie Aquarellfarben. Die Umsetzung einer historischen Handschrift mit modernen Schreibwerkzeugen ist bezeichnend für den kalligrafischen Ansatz der Künstlerin, die nach einer Symbiose zwischen der perfekten Form, wie sie die traditionelle westliche Kalligrafie fordert, und einem individuellen Strich strebt, der sich aus dem inneren Ausdruckswillen der Künstlerin ergibt. Um das zu erreichen, probiert Birgit Nass gerne Utensilien aus, die traditionell nicht mit dem Schönen Schreiben verbunden werden.
In ihren Arbeitsräumen in Brietlingen bei Lüneburg trifft der Blick überall auf ordentlich für den Einsatz bereitgestellte Materialien: Tuschen, Acryl-, Airbrush- und Gouachefarben, Zieh- und Plakatfedern, Schreibfedern aus speziellen Metallen, verschiedene Faserschreiber, Marker, diverse Pinsel, Federkiele, Steine, Muscheln, verwitterte Hölzer, alte Drucklettern und handgeschöpfte Papiere. „Im Grunde kann man mit allem schreiben, was man in Tinte oder Farbe tauchen kann und auf allem, worauf Tinte oder Farbe hält.“
Die Ergebnisse ihrer Experimente sind in den Wohn- und Arbeitsräumen von Birgit Nass allgegenwärtig. Schrift findet man hier auf Stuhllehnen und gläsernen Behältern, beschriebene Kugeln und kalligrafierte Kuben treffen auf ungewöhnliche Umsetzungen, etwa auf eine aus Draht in Keilrahmen geformte Arbeit oder auf Reisetagebücher in alten Zirkelkästen – Buchbindearbeiten, zu denen die Schriftkünstlerin, die die Grundlagen ihrer kalligrafischen Ausbildung an der von Martin Andersch gegründeten Schule für Schrift in Hamburg erlernt hat, ebenfalls eine große Affinität verspürt.
Im Mittelpunkt ihres Schaffens aber stehen Kalligrafien und Schriftcollagen auf Leinwand. Auch wenn Birgit Nass gerne auf Papier und insbesondere auf handgeschöpftem arbeitet, lotet sie mit ihrer Hilfe die Grenzen zwischen Malerei und Schrift aus. „Ich arbeite so gerne auf Leinwand, weil ich die unterschiedlichen Oberflächen mag und eine gewisse Dimensionalität. Gestaltungsebenen, die beim Collagieren entstehen, indem man Papiere übereinander klebt. Sie bietet mir den gestalterischen Spielraum, Handschriften und Varianten mit freien Formen zu verbinden.“
Bevor die Kalligrafin die Buchstaben aufbringt, wird der textile Untergrund vorbereitet, wird bemalt, mit Papieren und Textfragmenten beklebt oder erhält durch Spachtelmasse Struktur. Birgit Nass kennt die Effekte, die sie mit ihren Schreibmitteln auf dem jeweiligen Material erzielen kann, und nutzt sie, um im Zusammenspiel mit der Schrift Spannung und Dynamik, Widerspruch und Harmonie zu erzeugen. Welche Schriftform sie wählt und wie sie ihr künstlerisch Ausdruck verleiht, hängt ganz von den Bildern und Gefühlen ab, die sie mit einem Wort oder einem (lyrischen) Zitat assoziiert.
„Ich schreibe Texte und Worte, die mich berühren, die geschrieben werden müssen, die Bild werden sollen, damit sie noch sichtbarer werden“, begründet die Schriftkünstlerin ihre Auswahl. Die kalligrafische Umsetzung fällt daher mal konstruiert aus, dann wieder frei, mal wirkt sie sachlich kühl, dann wieder romantisch verspielt, mal tritt sie autoritär in den Vordergrund, dann wieder nimmt sie sich schüchtern zurück. „Je mehr ich dabei auf spannungsreiche Linien achte und je mehr Emotionen ich einfließen lasse, desto unleserlicher wird meine eigene kalligrafische Handschrift. Wenn man sie nicht mehr lesen kann, muss man sie fühlen. Das ist teilweise mit abstrakter Kunst vergleichbar.“
Faserstift trifft Transfergold: Schritt für Schritt zum Materialmix
Die „Kunst des Schönen Schreibens“ bietet Birgit Nass die Gelegenheit, Texten immer wieder neu zu begegnen. Den Schreibgrund versteht sie als Bühne, auf der sie die Buchstaben wie Schauspieler energiegeladen oder melancholisch, vorwitzig oder verschlossen in Szene setzt. Wenn dabei hin und wieder ein Farbtropfen an unerwarteter Stelle auf ein perfektes Schriftbild fällt, nennt Birgit Nass das einen „happy accident“, den sie als Akzent in die Arbeit einbaut. „’Ich suche nicht, ich finde. ’ Dieses Picasso-Zitat begleitet mich seit nunmehr fast 20 Jahren, aber erst langsam begreife ich das spielerische Loslassen, das damit verbunden ist.“
„Dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hinhalten.“
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