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Hintergrund

Papier ist nur der Anfang: Anett Frontzek

Ein Blick auf das Werk von Anett Frontzek wird zeigen, wie und mit welchen Ergebnissen die Künstlerin ihren Zugriff auf die Welt gestaltet. Anett Frontzek erhielt in Kassel eine solide akademische Ausbildung, lebt heute in Dortmund und hat seit Beginn ihrer Tätigkeit als freie Künstlerin eine umfangreiche Reisetätigkeit entwickelt.

Etwa mit dem Beginn des neuen Jahrtausends verlagerte sie den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit von einer plastisch formenden zu der gründlichen Rechercheurin, die sie heute ist. Damit ist zugleich das zentrale Werkzeug der Künstlerin angesprochen: Bevor überhaupt ein Werk entsteht, recherchiert Frontzek umfangreich. Wenn sie sich mit geografischen Karten beschäftigt, so ergründet sie zunächst die sich im Zweidimensionalen manifestierenden Projektionsmodelle. Wir werden sehen (und diese Aufzählung ist unvollständig), dass sich die Künstlerin mit Meeresströmungen, wirtschaftlichen Verflechtungen im Containerhandel und der Seegeschichte des Ostseeraums befasst. Frontzek arbeitet in vielen künstlerischen Disziplinen, in Grafik, Relief und Installation, in Archiv- und Spurensicherung, in Skulptur und Kunst am Bau.

Ein großes Thema in Frontzeks Werk sind Bearbeitungen von Karten auf Papier. Dieses Material, zumeist außer Dienst gestellte Papiere aus der Welt der Grafik, sind Beute für das Skalpell der Künstlerin. Mit den Mitteln des Schnitts, der Zeichnung und der Collage schafft sie neue Arbeiten aus dem alten Material und stößt damit die Tür auf für eine neue Wahrnehmung. Im Gegensatz zur Onlinewelt, in der Karten als eine Abfolge von Layern aus Geografie, Einkaufsmöglichkeiten, Verkehrslage, Topografie und vielem mehr bestehen, sind in den von Frontzek bearbeiteten Karten einige wenige dieser Layer zusammengefasst, um bestimmte Erkenntnisse zu ermöglichen. Ihre Serie Ein immaterieller Vorschlag auf Weiß zu wandeln (seit 2010) reduziert die Schweiz auf ein Netz aus Skirouten, die sich zu einem neuen Papierrelief erheben, das seinen Bezug zu den ursprünglichen Schweizer Bergen nur erahnen lässt und ihn maßstäblich ohnehin verlassen hat.

Ein immaterieller Vorschlag auf Weiß zu wandeln. 33 Papierschnitte aus Schweizer Skitourenkarten. Je 60 x 80 cm. Gesamtgröße 480 x 710 cm, Preisträgerausstellung Kunstpreis DEW21 2015, Dortmunder U, 6. Etage. VG Bild-Kunst, Bonn 2025 / Anett Frontzek Fotos: links Jürgen Spiler, rechts Anett Frontzek

Ein immaterieller Vorschlag auf Weiß zu wandeln. 33 Papierschnitte aus Schweizer Skitourenkarten. Je 60 x 80 cm. Gesamtgröße 480 x 710 cm, Preisträgerausstellung Kunstpreis DEW21 2015, Dortmunder U, 6. Etage
VG Bild-Kunst, Bonn 2025 / Anett Frontzek, Fotos: links Jürgen Spiler, rechts Anett Frontzek

Als Collage benutzt sie wiederum die ausgeschnittenen Teile der Alpenkarten zu einer Serie mit dem Titel faked mountains (2011–2012). Dabei werden die Bergschatten aus den Karten genutzt, um die Vogelperspektive umzudeuten und fortlaufende Seitenansichten von Bergen zu konstruieren. In Ausstellungssituationen nutzt sie für diese Serie eine Aufhängung flacher Zylinder, in die sich Betrachtende hineinbegeben können, sie umgibt ein Panorama ohne Anfang und Ende. Das abgeschaltete Funknavigationsnetz in der Ostsee wird von Frontzek zu einer löchrigen Netzstruktur, die man als Kommentar zum historischen Verfall der russischen Hegemonie im Ostseeraum lesen kann. Die Serie unter dem Titel Ostseeklang (2014) spürt einer vergangenen Welt nach, als aus der DDR heraus noch die russische Vorherrschaft unterstützt wurde, bevor die satellitengestützte Navigation weltumspannend an die Stelle der Arbeit mit Lineal und Winkelmesser auf Karten trat.

Rixhöft bis Memel, D144, M 1:200.000, Kleine Berichtigungen: 1995, 11.VIII., Papierschnitt, 77 x 102 cm, 2014 VG Bild-Kunst, Bonn 2025 / Anett Frontzek Foto: Anett Frontzek

Rixhöft bis Memel, D144, M 1:200.000, Kleine Berichtigungen: 1995, 11.VIII., Papierschnitt, 77 x 102 cm, 2014
VG Bild-Kunst, Bonn 2025 / Anett Frontzek, Foto: Anett Frontzek

Gedruckte Landkarten sind mittlerweile als aussterbende Spezies anzusehen, da sich die Kartografie zusehends in eine Echtzeitsimulation verwandelt hat. Moderne Bildverfahren leisten diesen Aspekt der historischen Beglaubigung nicht mehr, aus dem Dokument ist eine aus Daten immer neu gewonnene Repräsentation geworden, die immer nur in ihrer je eigenen Gegenwart existiert. Aus einem überzeitlichen Zeugnis wird ein zeitloses Ereignis. Frontzek betont die historische Funktion der Karten als Zustandsbeschreibungen, die vergleichend gelesen werden können. Das Sezieren mit dem Skalpell, mit dem die Künstlerin sich ihrem Kartenmaterial nähert, beschwört die Historie, arbeitet die in Karten aufgehobenen Schichtungen heraus und betreibt so auf ganz eigene künstlerische Weise Rekultivierung von Landschaft.

Als die KunstVereineRuhr im Rahmen der Emscherkunst ein Containerdorf für ein Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm entwarfen, präsentierte Frontzek dort eine Arbeit unter dem Titel Ein dunkler Reisender auf den Tiefen der Nacht (2013). Die Konzeption des Containers als Grundmaterial regte die gründliche Recherche der Künstlerin an. Aus der vielfach wiederverwendbaren Schachtel mit dem Einheitsmaß wurde für sie ein Reisemobil für Neozoen: Die transportierten Waren wanderten ebenso auf den Schiffen um die Welt wie die Lebewesen, die sich an den Wänden der Container oder in den Schiffsbäuchen befanden. Überwiegend Einzeller und Kieselalgen traten so ihren Weg um die Welt an, auch an neue Orte, wo diese Lebensformen als Neozoen quasi migrantisch beobachtet werden konnten. Aus diesen Überlegungen heraus schuf Frontzek einen durch eine Lichtschleuse begehbaren Container, der auf transparenten Folien fluoreszierende Einzeller und Tiefseekreaturen als geschnittene Schablonen in den Weg hängte. Die Vorlagen für die Kreaturen waren aus älteren Kompendien entnommen, die mit dem Mittel der wissenschaftlichen Illustration gearbeitet hatten. Besuchende konnten sich so in einer fluoreszierend erhellte Unterwasserwelt mit einer zusehends internationalisierten Fauna wähnen. Wegen der Entrückung in die absolute Dunkelheit war auch dies ein immersives Erlebnis, das sich aus Recherche speiste und als Mittel Installation, Zeichnung, Folienschnitt und Kunstlicht vereinte.

Ein dunkler Reisender auf den Tiefen der Nacht, Detail der Installation, Gesamtgröße variabel, Objektgrößen 15 x 15 cm bis 40 x 65 cm, phosphoreszierendes Material auf transparentem Trägermaterial. VG Bild-Kunst, Bonn 2025 / Anett Frontzek Foto: Anett Frontzek

Ein dunkler Reisender auf den Tiefen der Nacht, Detail der Installation, Gesamtgröße variabel, Objektgrößen 15 x 15 cm bis 40 x 65 cm, phosphoreszierendes Material auf transparentem Trägermaterial.
VG Bild-Kunst, Bonn 2025 / Anett Frontzek, Foto: Anett Frontzek

Nach der Sprengung der berühmten Hörder Fackel (2004) in Dortmund lag das Phönixgelände brach, das Stahlwerk war demontiert und verkauft. Die Planung sah dort einen neu zu schaffenden See vor, der 2010 schlussendlich geflutet wurde. Mit einer genau geplanten Bepflanzung und einer wegen der Wasserreinhaltung eingeschränkten Nutzung entstand ein künstliches Paradies, das nicht etwa von der Emscher gespeist, sondern von ihr umflossen wurde. Umstanden von überwiegend weißen quader- oder würfelförmigen Bauten ist dies ein neuer Attraktionspunkt für die südlichen Stadtteile, aber auch darüber hinaus geworden. Aber nicht nur für Menschen, sondern auch für Tiere: Hier setzte Anett Frontzek mit ihrer Recherche an, als sie gebeten wurde, für die Ausstellung „Arche Noah“ eine Arbeit zum Thema beizutragen, Wie Phoenix aus der Asche, … (2014). Die Künstlerin beschäftigte sich nun mit den Neozoen an den Ufern des Phönixsees, den Kanada- und Nilgänsen. Diese hatten an dem künstlichen See ein für sie geeignetes Biotop gefunden, das ihnen eine ungehemmte Ausbreitung (auch ihrer Exkremente) ermöglichte. Diese Neubürgerpopulation kollidierte jedoch mit der menschlichen Bevölkerung, die hier Freizeit verbringen wollte. Die Gegenstrategien reichten von Ignoranz über Vergrämung bis hin zur Ausrottung durch Bejagung. Die gesamte Bandbreite dieses Prozesses inklusive seiner Vorgeschichte wurde von der Künstlerin in einer umfangreichen Installation transformiert. Diese bestand aus thematisch angelegten Karteikästen mit dem gesamten zugänglichen Material aus Presse und anderen Veröffentlichungen sowie Dokumentation der Tierwelt und Darstellung der Verbreitung und Ausbreitung bestimmter Populationen. Teilweise wurde dies durch große Tierzeichnungen und farbige Schemata an den Wänden ergänzt. Das Archiv war begehbar und konnte von den Besuchern benutzt werde, die so gleichsam tief in die Flora und Fauna unter menschlichem Einfluss eintauchen konnten.

Wie Phoenix aus der Asche, …, Tisch, 8 Karteikästen mit 80 Karteikarten, Wandzeichnung, Klebefolie 360 x 690 cm, Ausstellungansicht GREEN CITY, Ludwiggalerie Schloss Oberhausen 2015 VG Bild-Kunst, Bonn 2025 / Anett Frontzek, Foto: Anett Frontzek

Wie Phoenix aus der Asche, …, Tisch, 8 Karteikästen mit 80 Karteikarten, Wandzeichnung, Klebefolie 360 x 690 cm, Ausstellungansicht GREEN CITY, Ludwiggalerie Schloss Oberhausen 2015
VG Bild-Kunst, Bonn 2025 / Anett Frontzek, Foto: Anett Frontzek

Das Interesse an der gebauten, geformten Umwelt führt bei Frontzek auch zu einer engagierten Tätigkeit im Bereich der Kunst am Bau. Für das Bildungszentrum der Industrie und Handelskammer in Köln erkundete sie zunächst die Lehrinhalte im geplanten Bau, aber auch die Vorbildung der zukünftig Auszubildenden. In den Parkettmustern des britischen Mathematikers Penrose fand Frontzek die angemessene Formulierung für drei große Edelstahlarbeiten, mustergültig & parkettsicher (2015). Die Muster sind durchbrochene Edelstahlflächen, die vor die Wand gehängt auf die auch im Handwerk nötige zeichnerische und mathematische Bildung anspielen. Frontzek nutzte Sichtachsen und prominente Wände als Annäherung der Motive an die Besuchenden innerhalb des Gebäudes. Mit der wertigen Oberfläche das Edelstahls korrespondieren die auf der Rückseite der Reliefs angebrachten Farbflächen, die farbig auf die Wand abstrahlen und den schwebenden Eindruck der Arbeiten verstärken.

Die jüngste Arbeit in dieser Reihe prägnanter Beispiele ist Das explodierte Vermächtnis (2024), eine Recherchearbeit zum 150. Geburtstages des Mäzens und Namensgebers des Hagener Osthaus Museums, Karl-Ernst Osthaus. Frontzek nahm sich der von Osthaus angeregten architektonischen Impulse an, die Hagen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts trafen. Aus ihrer bisherigen Tätigkeit ergab sich ein starkes Motiv zur Untersuchung der Ornamentik der beiden großen Architekten Peter Behrens und Henry van de Velde. Letzterer hatte den Neubau des Osthaus‘schen Museums mit einer Jugendstilornamentik überzogen und die Villa des Bankiers Osthaus, den Hohenhof, komplett gestaltet, ersterer übte sich am Neubau des Hagener Krematoriums in einer strengen schwarz-weißen Ornamentik, die kompromisslos modern war. Beide Formen, die floralen van de Veldes wie auch die Rauten und Rechtecke von Behrens, verarbeitet die Künstlerin zu höchst delikaten Papierschnitten auf verschiedenen, auch transparenten Materialien, die sie mit Folienschnitten kombinierte, wobei die einzelnen Musterelemente durch Wiederholung und Addition zur flächigen Ausbreitung verhelfen. In den Ausstellungsräumen kombinierte die Künstlerin historische Pläne und Grundrisse mit Folien- und Papierschnitten. Unter anderem ermöglichte sie einem Ornament van de Veldes eine großartige Präsenz als Fensterarbeit im Obergeschoss der alten Haupteingangsseite des Museums. Zu den bekannten Mitteln ihrer Arbeit fügte die Künstlerin hier noch die Arbeit an der Ausstellung als work in progress, was bedeutet, dass natürlich vor der Ausstellung an den Exponaten gearbeitet worden war, aber zusätzlich noch während der Laufzeit weitere Ergebnisse und Arbeiten präsentiert wurden, zuletzt ein großer weiterer ornamentaler Folienschnitt van de Veldes im Innenraum. Frontzek nahm diese Arbeiten auch zum Anlass, ihre Haltung zur Ornamentik zu überdenken, da van de Veldes theoretische Äußerungen scheinbar mit dem Ornament brechen wollten. Die Arbeiten der Künstlerin bekräftigen das anhaltende Interesse am Ornament und am Muster nach hundert Jahren und überführen es in eine ganz aktuelle Gegenwart.

Für Henry van de Velde, nach: Der „Laienpredigten“ II. Teil, Vom Neuen Stil, Insel-Verlag Leipzig 1907, 3 Originalpläne des Hohenhofs Hagen, zwei Rosetten als Folienschnitt, ø 160 cm, Ausstellungsansicht „Das explodierte Vermächtnis“, Osthaus Museum Hagen 2025 VG Bild-Kunst, Bonn 2025 / Anett Frontzek, Foto: Anett Frontzek

Für Henry van de Velde, nach: Der „Laienpredigten“ II. Teil, Vom Neuen Stil, Insel-Verlag Leipzig 1907, 3 Originalpläne des Hohenhofs Hagen, zwei Rosetten als Folienschnitt, ø 160 cm, Ausstellungsansicht „Das explodierte Vermächtnis“, Osthaus Museum Hagen 2025
VG Bild-Kunst, Bonn 2025 / Anett Frontzek, Foto: Anett Frontzek

Die Künstlerin hat sich mehrmals auch in von ihr kuratierten Ausstellungen von der Neugier auf verwandte Positionen leiten lassen, so z.B. in der Ausstellung „Die ornamentale Geste“ (2011) oder „drop me a line, Linie. Zeichen. Text.“ (2014). Der ungeheure Fleiß, der in ihren Arbeiten steckt, wird noch durch die Tatsache unterstrichen, dass die eingangs erwähnte Recherche immer den Werken zugrunde liegt. Ebenso umfänglich sind die Reisen und Orte, die die Grundlage der künstlerischen Untersuchungen bilden. Alle Residencies, die die Künstlerin jemals antrat, hat sie zu produktiven neuen Sichten auf die bereisten Gegenden genutzt, sei dies die Schweiz, Gotland oder auch die deutsche Ostseeküste. Für die Arbeiten schöpft sie, wie gezeigt werden konnte, aus einem umfangreichen künstlerischen Werkzeugkasten. Für jedes gefundene Thema sucht sie die entsprechenden Werkzeuge zusammen, um dann in einem speziell angepassten Verfahren den Orten ihre Geheimnisse zu entlocken. Der Zugriff auf die Welt, den sich jede Künstlerin erarbeiten muss, Werke in Relation zur Wirklichkeit zu setzen, dies führt bei Anett Frontzek zu immer wieder neu faszinierenden Ergebnissen.

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Profile

Anett Frontzeks konzeptionelle Arbeiten werden seit 1993 in Einzelausstellungen und bei zahlreichen Ausstellungsbeteiligungen präsentiert. Zuletzt 2024/25 im Osthaus Museum Hagen (solo), 2023 in der „Review Ostsee-Biennale“ in der Kunsthalle Rostock, 2022 in der Bundeskunsthalle Bonn und 2022/23 im Museum Gunzenhauser der Kunstsammlungen Chemnitz. Seit 2002 wird ihre künstlerische Arbeit durch Arbeitsstipendien und Artist in Residence Aufenthalte gefördert. 2002 erhielt sie ein Arbeitsstipendium des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Kunst, 2007 und 2022 von der Stiftung Kunstfonds, sowie 2022 von der Stiftung Kulturwerk der VG Bild-Kunst. Anett Frontzek war unter anderem Stipendiatin der Stiftung Rheinland-Pfalz für Kultur und der Kunstsammlung des Landes Oberösterreich. 2014 wurde sie mit dem DEW21 Kunstpreis, 2006 mit dem Kunstpreis der Stadt Nordhorn und 1993 mit dem Richard-Bampi-Preis ausgezeichnet. Ihre Arbeiten sind u.a. in der Sammlung zeitgenössischer Kunst der Bundesrepublik Deutschland, im Victoria and Albert Museum in London, im MoMA New York und in der Achenbach Foundation for Graphic Art im Fine Arts Museums of San Francisco vertreten.

[Foto: G.P.]

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