Die Zeichnungen von Barbara Wrede
Aufgereiht wie in einer Ahnengalerie erinnern die Damen in ihren fremdartigen Hauben und Andeutungen historischer Trachten an Porträts von Rogier van der Weyden, Hans Holbein d. J. oder Lucas Cranach. Barbara Wrede hat sich in der Tat an diesen malerisch hochklassigen Ur-Urgroßvätern orientiert, aus der entlehnten Form allerdings etwas völlig anderes entwickelt. Ging es den Alten Meistern um ein hohes Maß an Naturtreue, werden bei ihr Gesichter zu weißen Flächen und Augen zu schwarzen Löchern. Münder bleiben schlichte ovale Formen oder fehlen gänzlich. Wie hinter Masken oder Schleiern verschwindet die Individualität der Frauen – nichts wird verraten über ihr Alter, ihr Aussehen oder ihr Befinden, über ihre Stellung in der Welt, über Mentalität oder Charakter.
Die aus Esspapier geschnittenen und wie zu Intarsien zusammengefügten Porträts sind vielmehr Konstruktionen aus Linien und Flächen: Ergebnisse eines künstlerischen Planungs- und Abstraktionsprozesses. Hier gibt es keine mit der Hand gezogene Linie, keine malerische Handschrift, keine Spontaneität. Trotzdem lassen die Ergebnisse des Schneidens und Klebens – die dominanten schwarzen Stege, die klare Abgrenzung der Flächen, die kunstvolle Binnengliederung und die Präzision des Formenvokabulars – die erfahrene Zeichnerin erkennen, die Barbara Wrede ist.
Ein Besuch in ihrem Berliner Atelier macht mit einem Werk bekannt, das in sich vielgestaltig ist und doch deutlich erkennbar dieselbe DNA hat. Da hängen minimalistisch-präzise Zeichnungen neben dichten Strichlagen aus Kugelschreiber, da dominiert das Weiß eines nahezu leeren Blattes oder das dichte Dunkel des Grafits. Themen und Techniken entwickeln sich bei Barbara Wrede in einem offenen Dialog. Fragestellungen werden so über viele Jahre in serieller Arbeit weiterverfolgt. Motive mäandern in immer neuer Gestalt durch ihre Blätter. Wenn es notwendig ist, wechselt die Künstlerin vom Papier zur Holzplatte und verwandelt Linien in Furchen oder sie näht – für „Das große Rasenstück“, eine Hommage an Albrecht Dürer – Büttenpapier zu einem langen Fries zusammen. Es sind Experimente im künstlerischen Raum, geleitet von einer Haltung, die Entschiedenheit, Präzision und Improvisation einschließt: „Jeder Strich muss sitzen. […] Was nicht heißt, dass alles wie geleckt aussehen muss.“
Wie der Mensch sich in seinem Leben einrichtet und doch immer heimatlos bleiben muss, wie er versucht, mit Einsamkeits- und Fremdheitsgefühlen zurechtzukommen oder davor wegzulaufen – das sind die großen Themen im künstlerischen Kosmos von Barbara Wrede. In analytisch scharfen und von einem feinen Humor getragenen Zeichnungen entwirft sie Bilder des – wie sie selber sagt – normalen Irrsinns des Alltags. Bilder, die untereinander kommunizieren, indem sie sich zu Serien zusammenfinden, deren ironisch gebrochene Titel, „Trautes Heim“, „Nachrichten aus dem Paradies“ oder „Über das Verschwinden“, schon einiges über die Absurditäten des Lebens in einer immer komplizierteren und meist wenig paradiesischen Welt erzählen.
Dinge und Menschen, Reales und Irreales, Verzweiflung und Heiterkeit bilden dabei für Barbara Wrede keine Gegensätze. Ihre geschlechtslosen Umrissgestalten verschmelzen manchmal zu Symbiose-Paaren oder mutieren zu Objekt-Menschen. Dann können sogar Ruder anstelle der Arme aus der Schulter wachsen. Fatal nur, wenn das Boot auf dem Trockenen liegt! So gibt es kein Vorwärtskommen, allen Bemühungen zum Trotz. Und so bleibt nur die Leere des Raumes. Ein tiefes Gefühl existentiellen Unbehaustseins lauert in solchen Blättern. Selbst die Architektur erweist sich als pappdeckeldünn und fragil. In solchen Häusern ist kein Schutz zu finden. Die Idee vom Heim bleibt Makulatur. Und so bleibt man doch dauerhaft wie der „Fremde im Dorf“, ausgeschlossen und singulär. Dann kann man vielleicht nur noch mit Hilfe einer Tarnkappe verschwinden oder sich eine feuerfeste Schürze, eine Art modernes Kettenhemd für den Alltagskampf, anlegen.
Seit fast 100 Jahren gilt das Diktum von Paul Klee (1879–1940), dass Kunst nicht das Sichtbare wiedergibt, sondern sichtbar macht. Mit unterkühlter Emotionalität seziert Barbara Wrede in ihren Zeichnungen die unsichtbaren, aber umso machtvolleren Ordnungsmuster, in und mit denen wir leben. Ihre Striche wirken dabei wie gefräst – da gibt es kein Suchen und Tasten, sondern immer eine klare Entscheidung zwischen Leere und Form, zwischen Schwarz oder Weiß. Und zwischendrin: Das ganze Welt-Theater.
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