„Dekadenz und dunkle Träume. Der belgische Symbolismus“ in der Alten Nationalgalerie Berlin
Wer die Ausstellung „Dekadenz und dunkle Träume. Der belgische Symbolismus“ in der Berliner Alten Nationalgalerie besucht, sieht sich mit einem Frauenbild konfrontiert, das im scharfen Kontrast zu heutigen Geschlechter-Vorstellungen steht. In den Werken von Künstlern wie Fernand Khnopff, Félicien Rops, Edward Burne-Jones oder Franz von Stuck wimmelt es nur so von verführerischen Frauen, denen allerdings mit Vorsicht zu begegnen ist. Leicht können sie dem Mann, der sich ihren gefährlichen Reizen willig ergibt, zum Verhängnis werden.
Kein Zweifel: Die Femme fatale, dämonisch und unwiderstehlich, präsidiert als Galionsfigur dieser rund 180 Werke umfassenden Ausstellung. Entstanden in Zusammenarbeit mit den Königlichen Kunstmuseen Belgiens, heftet sich die Schau auf die Spuren dieser in den 1880er-Jahren vor allem in Brüssel tonangebenden Kunstströmung; berücksichtigt werden aber auch Werke nichtbelgischer Künstler, die den Symbolismus geprägt haben, beispielsweise Arnold Böcklin, Edward Burne-Jones, Gustav Klimt, Max Klinger, Gustave Moreau oder Edvard Munch. Obwohl bei den Exponaten bedeutungsträchtige Stoffe, oft mythologisch unterfüttert, die Überhand haben, stößt man beim Rundgang auch auf per se sachlichere Themen, beispielsweise Landschaften, Interieurs und Porträts. Freilich scheinen selbst diese Darstellungen zu signalisieren, dass nur die Spitze des Eisbergs ist, was sie enthüllen.
In den Bildern und Plastiken der Berliner Ausstellung schlüpft die Femme fatale in vielerlei Rollen. Als Personifikation der Sünde oder böswillige Zauberin Circe (bei Franz von Stuck), als Sphinx, Salome oder Medusa (bei Fernand Khnopff) verdrehen ebenso erotische wie verruchte Frauen den wehrlosen Männern den Kopf und vernichten schlimmstenfalls deren Existenz. Sie entfachen seine Eifersucht (bei Edvard Munch), locken in freier Natur mit entblößten Brüsten (bei Arnold Böcklin) oder geistern durch seine Träume (bei Ferdinand Hodler). Selbst die weiblichen Porträts der Symbolisten wirken eigenartig artifiziell und überinszeniert, Verkörperung einer (männlichen) Fetisch-Idee statt Wiedergabe von Wesen aus Fleisch und Blut. Gut zu beobachten bei Fernand Khnopffs asketischen Porträts seiner innig geliebten Schwester Marguerite, Dante Gabriel Rossettis Rosa Triplex, Edward Burne-Jones’ Bildnis der Maria Theresa Zambaco oder Jean Delvilles Porträt der Madame Stuart Merrill. Mysteriosa.
Ebenso typisch wie die Fiktion von der Femme fatale war für das Fin de Siècle, dieses Zeitalter der Dekadenz, das seiner selbst überdrüssig war, eine andere fixe Idee: die Todessehnsucht. Weitverbreitet in diesen Jahren das Gefühl, einer sterbenden Kultur anzugehören. Auch für solche morbiden Empfindungen wie Endzeitstimmung, Lebensüberdruss und Weltschmerz bietet die Berliner Ausstellung vorzügliches Anschauungsmaterial. Böcklins Selbstbildnis mit fiedelndem Tod und seine berühmte Toteninsel (beide Werke befinden sich im Besitz der Staatliche Museen zu Berlin) bilden die Speerspitze jener Werke, die den Tod zitieren, mehr aber noch mit ihm kokettieren. In Eugène Laermans‘ Allegorie Liebe! lauert der Sensenmann schon hinter dem nackten Paar, das sich leidenschaftlich küsst. Pate stand hier Hans Baldung Griens Der Tod und die Frau, entstanden um 1520. Auf den Spuren der Alten Meister wandelt auch George Minne – bei seiner Zeichnung Trauernde Mutter ist das mittelalterliche Motiv der Pietà (Darstellung Marias mit dem Leichnam des vom Kreuz abgenommenen Jesus Christus) unschwer als Vorbild auszumachen. Félicien Rops animiert ein Skelett zum Tanz auf dem Vulkan (Der Tod auf dem Ball). Reichlich Action auch bei James Ensors Bild Skelette kämpfen um einen Gehängten.
Wohl kein Zufall, dass sich die tendenziell düstere Weltsicht der Symbolisten zu jener Zeit Bahn brach, als die wissenschaftlichen Erkundungen der menschlichen Psyche Erkenntnisse zutage förderten, die ebenfalls wenig Anlass zu Optimismus und Lebensfreude gaben. Sigmund Freuds 1899 veröffentlichte „Traumdeutung“ wies neue Wege, um die Psyche des Menschen zu durchleuchten. Freud machte das Unbewusste und Verdrängte zu Hauptakteuren auf der seelischen Bühne. Er untersuchte, in seinen eigenen Worten, „die Anatomie von Angst und Wahn, die Spannung zwischen Vernunft und Sexualität, zwischen Lebens- und Todestrieb“.
Anders als die Impressionisten, die mit ihren Bildern die Reize der sichtbaren Welt feierten, lenkten die Symbolisten ihr Augenmerk (und das der Betrachter) auf die inneren, seelischen Vorgänge. Symptomatisch eine Äußerung von Paul Gauguin, der seinem Freund Émile Schuffenecker in einem Brief riet: „Malen Sie nicht zu viel nach der Natur. Das Kunstwerk ist eine Abstraktion. Ziehen Sie es aus der Natur heraus, indem Sie vor ihr nachsinnen und träumen.“ 1889 und 1891 war Gauguin im Salon der Brüsseler Künstlergruppe „Les XX“ vertreten. Unter den zahlreichen Künstlervereinigungen, die sich damals in der belgischen Hauptstadt zusammenschlossen, war „Les XX“ die wichtigste. Ensor, Khnopff, Rops oder Théo Van Rysselberghe gehörten ihr an, aber auch der Franzose Auguste Rodin und der Niederländer Jan Toorop. Bei den „Les XX“-Ausstellungen gab sich die europäische Avantgarde die Klinke in die Hand. Künstler wie Paul Cézanne, Walter Crane, Camille Pissarro, Georges Seurat oder James McNeill Whistler waren hier vertreten. Auch deutsche Künstler zeigten damals in Brüssel Flagge, unter ihnen Käthe Kollwitz, Max Klinger, Max Liebermann oder Hans Thoma. So verwundert es nicht, dass die in München erscheinende Zeitschrift „Die Kunst für Alle“ Ende des Jahrhunderts erklärte: „Die eigentliche Heimat des Symbolismus in Dichtung und Malerei ist Belgien.“
Wie intensiv die belgischen Symbolisten vernetzt waren, das mag am besten Fernand Khnopff (1858–1921) veranschaulichen. Der Star dieser Symbolisten-Parade in der Alten Nationalgalerie war „gleichsam das Bindeglied auf der Achse London – Paris – Brüssel – Wien“, wie Ralph Gleis, Leiter des Museums, in seinem Katalogbeitrag schreibt. In Wien beeinflusste er Gustav Klimt, in England pflegte er mit den Präraffaeliten einen intensiven Austausch, und in Paris, wo man ihn den „Obermystiker von Brüssel“ nannte, war er in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts der favorisierte Maler der bürgerlichen Gesellschaft. Sein berühmtestes Bild, die 1896 gemalten Liebkosungen, zieht jetzt auch in der Alten Nationalgalerie die meiste Aufmerksamkeit auf sich. Die mörderische Sphinx, der Khnopff den Körper eines Gepards gab, schmiegt sich im Schmusemodus an ihren Bezwinger Ödipus. Der Kunstkritiker Till Briegleb bezeichnete „diesen sinnlichen Umschlag von Hass in Hingabe“ als einen „der schönsten Momente der Kunstgeschichte, an dem finale Deutung versagen muss“.
Ebenso kryptisch, aber menschlich anrührender Khnopffs fünf Jahre früher entstandenes Bild I lock my door upon myself, das aus der Münchner Neuen Pinakothek den Weg auf die Berliner Museumsinsel fand. Den Titel entlehnte der Künstler einem Gedicht von Christina Rossetti, Schwester des Präraffaeliten Dante Gabriel Rossetti. Isolation und Melancholie sprechen aus dieser Darstellung einer jungen Frau, die nachdenklich-resigniert an einem Tisch sitzt, den Blick ins Leere gerichtet, umgeben von rätselhaften Gegenständen, hinterfangen von einer ausweglosen Kulissenwand. Im Hintergrund erkennt man den mit Vogelschwingen versehenen Kopf der antiken Gottheit Hypnos – Khnopff hat den Gott des Schlafes häufig dargestellt. In der griechischen Mythologie ist Hypnos der Bruder von Thanatos, dem Totengott. So schließt sich der Kreis.
Auf einen Blick
Ausstellung
Dekadenz und dunkle Träume. Der belgische Symbolismus
Ort: Alte Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, Museumsinsel Berlin, Bodestraße 1-3, 10178 Berlin
Dauer
voraussichtlich bis 17. Januar 2021
Website zur Ausstellung
belgischersymbolismusinberlin.de/
Öffnungszeiten
Alle Museen der Staatlichen Museen zu Berlin sind bis auf Weiteres geschlossen. Es finden keine Ausstellungen und Veranstaltungen statt!
Dienstag, Mittwoch: bis Sonntag: 10–18 Uhr
Donnerstag: 10–20 Uhr
Freitag bis Sonntag: 10–18 Uhr
Montag geschlossen
Katalog
Dekadenz und dunkle Träume. Der belgische Symbolismus
Ralph Gleis (Hrsg.), mit Beiträgen von J. Block, M. Brodrecht, Y. Deseyve, J. De Smet, M. Draguet, R. Gleis, A. Groenewald-Schmidt, H. Körner, I. Rossi, H. Todts. Geb., 336 Seiten, 265 Abbildungen, 24,5 x 29 cm, Hirmer, ISBN 9783777435077
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