Ausstellung

Heißkalt!

Neue Sachlichkeit: Die Kunst der Zwanzigerjahre in Deutschland

Zurückgelehnt auf weiße Kissen, zu denen die rot geschminkten Lippen und das tiefschwarze Haar in scharfem Kontrast stehen, schaut das nackte weibliche Modell ausdruckslosen Blickes in eine dem Betrachter nicht zugängliche Ferne. Christian Schads (1894–1982) Halbakt aus dem Jahre 1929 bringt in seiner eigentümlichen Kombination von Präzision, Erotik und Distanz eine ganze Epoche auf den Punkt: Die Neue Sachlichkeit verband Rückgriffe auf ältere, gar altmeisterliche Kunst mit der scharfen Beobachtung neuer, nie dagewesener Realitäten sozialer, psychologischer, politischer und technischer Art.

Der Maler bezieht sich unübersehbar auf eine lange Tradition hingebreiteter weiblicher Akte, die die europäische Kunstgeschichte seit der Renaissance durchziehen, am deutlichsten aber auf Goyas Nackte Maja (1798–1803) und Manets Skandalbild Olympia (1863). Der Betrachter wird von Schad unweigerlich zum Voyeur gemacht, dessen Schaulust freien Lauf erhält durch die Verweigerung des Blickkontaktes seitens der liegenden Frau. Könnte der leicht skeptische Zug um ihren Mund dieser Situation Rechnung tragen? Weitere Widersprüche fallen auf: Die Enge des Bildausschnitts suggeriert Intimität, die mitten im Blickfeld platzierten Brüste sind erotische Signale, aber von emotionaler Beziehung kann kaum die Rede sein, von erotischer Temperaturerhöhung schon gar nicht. Denn der nahe Blick auf die Haut stellt zwar deren porzellanhaften Schimmer (immer schon ein Schönheitskriterium) ins Licht, andererseits wird dicht unter ihrer Oberfläche ein ganzes Netz blauer Äderchen förmlich ausgestellt, unter den Achseln sprießt es schwarz. Die objektiviert-sachliche Darstellung lässt an Gefrierfachkühle denken. Ein Eindruck, den der Maler durch kalkulierte Kontraste verstärkte: „Maika hatte eine Haut wie Perlmutter. Um den Kontrast zu der Lebendigkeit dieser Haut möglichst hochzuschrauben, kauften wir als Accessoire für das Bild etwas mechanisch Fabriziertes bei einem Straßenhändler: diese rot-weiße Kette“1.

Aus dem, was erotische Anmache sein könnte, ist das Begehren entschwunden, übrig geblieben ist der kühle Glanz der industriellen Produktion. Und noch etwas: Wir haben es hier mit einer Frau zu tun, die deutlich Selbstvertrauen ausstrahlt auf eine Art, die ganz neu ist. Ihre Bubikopf-Frisur signalisiert den Typus der „Neuen Frau“, die in eigener Berufstätigkeit ihren Platz in der Gesellschaft findet. Tatsächlich, eine Welt im Umbruch! Unter diesem Motto widmet das Bucerius Kunst Forum in Hamburg der Kunst der 20er Jahre eine Ausstellung (in Kooperation mit dem Münchner Stadtmuseum, wo sie 2020 gezeigt wird). Mehr als 40 Gemälde und rund 20 Zeichnungen, Collagen und Druckgrafiken umreißen eine Epoche, die nach der Verheerung des ersten Weltkriegs wieder Tritt zu fassen sucht unter neuen Bedingungen. Diese Nachkriegszeit wird freilich, so wird aus dem Rückblick schnell klar, unversehens zur Vorkriegszeit: Die ökonomische und soziale Katastrophe der Weltwirtschaftskrise bereitet den Boden für den Faschismus. 1933 ist die Periode der Neuen Sachlichkeit und des von ihr emphatisch propagierten Neuen Sehens unwiderruflich zu Ende.

Das Schlagwort vom Neuen Sehen stammt wesentlich aus der Fotografie, einem Medium, dem die Hamburger Ausstellung zu Recht breiten Raum einräumt: Vom Piktorialismus hin zur authentischen Wiedergabe der Wirklichkeit, so lautet das Programm. Hat man die fotografierten Akte von Aenne Biermann oder Sasha Stone gesehen, bekommen auch die Anschnitte im gemalten Halbakt von Christian Schad einen ganz anderen Kontext. Vor allem aber sind es die Stillleben, die das Neue Sehen definieren: Albert Renger-Patzsch (1897–1966) positioniert seine Kamera oberhalb der auf der Tischplatte arrangierten leeren Gläser und geht dabei so dicht ans Motiv, dass auf allen Bildseiten scharfe Anschnitte entstehen. Kontrastreiche Beleuchtung erzeugt dominante Schatten, der Abzug auf hartes Papier tut ein Übriges. Auch hier bietet die von Ulrich Pohlmann und Kathrin Baumstark kuratierte Schau erhellende Parallelitäten, wenn beispielsweise Hannah Höch (1889–1978) Gläser malt in quasi fotografischer Überschärfe, rigid geometrischer Komposition und gleichfalls in Aufsicht. Zwar farbig, aber doch auch hier mehr als kühl. Außer Höch, die ansonsten mehr für ihre dadaistischen Arbeiten bekannt ist, macht die Ausstellung im Bucerius Kunst Forum eindrücklich klar, dass Frauen in allen Gattungen der Künste nun zunehmend Raum gewinnen. Auch wenn Karl Hubbuch (1891–1979) in seinem Dreifachporträt Die Drillinge (1928/29) bei konventionelleren malerischen Verfahren bleibt, so ist doch die Verdreifachung ein und derselben Frau auf der Bildfläche nicht denkbar ohne die vorhergehende Seherfahrung der fotografischen Mehrfachbelichtung. Wie auf einer Bühne sich drehend präsentiert die junge Frau – es ist Hilde, die Ehefrau des Künstlers – hier in souveräner Selbstgewissheit ihre erotischen Reize. Natürlich wäre das Bild dieser unruhigen Zeit nicht vollständig ohne den genialen Fotografen August Sander (1876–1964): Seine Porträts zeigen Menschen, die beides sind, soziale Typen und doch unverkennbar auch Individuen.

Nicht minder massiv als der Kuchenkünstler des Kölner Fotografen tritt uns Carl Grossbergs (1894–1940) Gelber Kessel (1928) entgegen. Das Gewirr von Röhren und Ventilen, das den über zwei Stockwerke aufragenden Behälter umgibt, ist Reflex der komplexer werdenden technischen Zusammenhänge in der industriellen Welt – und doch wirkt der sinister schwefelgelbe Kessel wie ein magischer Fetisch, unverstehbar und auch leise bedrohlich. Die Spannung zwischen realistischer Darstellung und Überhöhung (die fast immer jedoch ins Dunkle, Bedrohliche und definitiv nicht ins „Idealische“ geht) findet sich in zahlreichen Werken: Von Arvid Gutschows (1900–1984) Hochbahnkörper bis zu Reinhold Nägeles (1886–1972) Weißenhofsiedlung Stuttgart bei Nacht. Bei diesen beiden Beispielen (bei Weitem nicht die einzigen) fällt die Menschenleere der (vor)städtischen Szenerien auf. Anderswo wimmeln Menschmassen (in entsprechender Gleichförmigkeit und ameisenklein) hinein in düstere Fabriktore.

Die Malerei der Neuen Sachlichkeit nimmt aber auch immer wieder den Menschen direkt in den Blick. Anklagend und mit satirischer Pointe zeigt Georg Scholz (1890–1945) einen ausgemergelten Mann vom Arbeitertypus, Verzweiflung im Blick, mit seinem Kind auf dem Gehsteig, während im Hintergrund im lackglänzenden Automobil der Kapitalist, mit Schweinephysiognomie nebst Zigarre, in Gegenrichtung vorüberbraust: Arbeit schändet. Analoge Verfahren der Montage gegensätzlicher Wirklichkeitsfragmente entwickelt Scholz mit seinen Studenten an der Karlsruher Akademie, indem er collagierte Fotografien aus der zeitgenössischen illustrierten Presse zur Vorlage für Zeichnungen und Aquarelle macht. Die Beliebtheit des Prinzips der Montage, ein eminent fotografisches und filmisches Verfahren, macht noch einmal die Bedeutung der neuen, technischen Medien für die Zwischenkriegszeit deutlich. Den Radiohörer, einsam in kargem Ambiente vor seinem Gerät sitzend, zeigt Max Radler (in klassischer Ölmalerei) als neues soziales Phänomen. Die Technikeuphorie hat hier, so scheint es, der Melancholie Platz gemacht.

Im Genre der traditionellen Porträtmalerei, Öl auf Leinwand, finden sich zahlreiche Innovationen, weniger im Technischen als im Sujet und seiner Inszenierung. Rudolf Schlichter (1890–1955) stellt uns mit Margot (1924) die moderne berufstätige Frau vor: schlicht mit einer gewissen Lässigkeit gekleidet, kurzhaarig und, ein Symbol weiblicher Emanzipation, mit Zigarette in der locker herabhängenden Hand. Von unbeugsamer Härte und gnadenloser Präzision, so erzählt uns das Selbstbildnis (1931) von Otto Dix (1891–1969), ist die künstlerische Position eines Künstlers gekennzeichnet, der zu den ganz großen Menschenbildnern dieser Epoche zählt.
Auf einem der spätesten Bilder der Schau, einer Ansicht des nächtlichen Stiglmaierplatzes in München von Wilhelm Heise (1935), marschiert, ganz am Rand, ein Trupp mit Stahlhelmen ins Dunkel. Erwin Blumenfeld endlich überblendet fotografisch das Gesicht Hitlers mit einem Totenschädel (Hitlerfresse, 1933) und kann so, drastisch und prophetisch, zeigen, in welche Schrecknisse diese kurze, hektische und so erneuerungssüchtige Epoche zwischen den beiden Kriegen münden wird.
Die aktuelle TV-Erfolgsserie Babylon Berlin zeigt (bei aller historischen Rekonstruktion unvermeidlich) unseren heutigen Blick auf diese nur knapp anderthalb Jahrzehnte – die Ausstellung im Bucerius Kunst Forum gibt mit ihrer eindrucksvollen Zusammenstellung grandiose Gelegenheit, diese Epoche in ihrer Kunst sozusagen unmittelbar, aus erster Hand zu erleben.

 

 

Auf einen Blick
Bis 19. Mai 2019: Welt im Umbruch. Kunst der 20er Jahre

Öffnungszeiten:
Täglich 11:00 bis 19:00 Uhr, donnerstags 11:00 bis 21:00 Uhr

Öffentliche Führungen:
Mo u. Mi 13:00 bis 13:30 Uhr
Do 18:00 bis 18:50 Uhr
Sa 15:00 bis 16:00 Uhr
So u. feiertags 12:00 bis 13:00 Uhr

Katalog
Welt im Umbruch. Kunst der 20er Jahre, Kathrin Baumstark, Andreas Hoffmann, Franz Wilhelm Kaiser und Ulrich Pohlmann (Hrsg.), mit Beiträgen von Kathrin Baumstark, Simone Förster, Miriam Halwani, Ulrich Pohlmann, Esther Ruelfs, Bernd Stiegler und Katharina Sykora, 264. S., 236 Abb. überw. in Farbe, 22,5 x 28 cm, geb., Hirmer Verlag, ISBN 9783777432274

Kontakt
Bucerius Kunst Forum gGmbH
Rathausmarkt 2
20095 Hamburg
Tel. +49-(0)40-3609960
www.buceriuskunstforum.de

 

[1]Christian Schad, zit. n. Ausstellungskatalog 2019, S. 90.

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Profile

Das Bucerius Kunst Forum in Hamburg ist ein internationales Ausstellungshaus, das sich durch seine fokussierten Ausstellungskonzepte sowie durch seine interdisziplinären Veranstaltungsprogramme als Forum für alle Künste versteht. Es überschreitet konventionelle Grenzen zwischen Künsten und Zeiten, hinterfragt bekannte Inhalte systematisch auf ihre aktuelle Relevanz und bietet einem breiten Publikum neue Zugänge zur Kunst. Ein hochkarätiges Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm liefert Denkanstöße und Orientierungshilfen für die Diskussion großer gesellschaftlicher Themen, den Austausch über Werte und den Platz der Kunst in einer globalisierten Welt.

[Foto: Bucerius Kunst Forum]

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