Ausstellung

Schonungslos und ergreifend

 

Berlinde De Bruyckeres Ausstellung im Museum Bahnhof Rolandseck geht unter die Haut.

Vom antiken Laokoon über mittelalterliche Kreuzigungsdarstellungen bis zu Francis Bacons eindringlichen Figurenbildern zieht sich der rote Faden existenzieller Kunst. Wer ihn in die Gegenwart verlängern will, sollte sich auf die Kunst von Berlinde De Bruyckere einlassen. Gelegenheit dazu bietet das Arp Museum Bahnhof Rolandseck in Remagen. Dort ist die belgische Bildhauerin bis Anfang Januar mit einer Werkübersicht vertreten, in der die letzten Dinge aufs Tapet gebracht werden – ergreifend und schonungslos. Parallel zur Remagener Ausstellung „PEL / Becoming the figure“ zeigt die Bildhauerin im sauerländischen Iserlohn Flagge: Als Trägerin des 9. Iserlohner Kunstpreises (Dotierung: 20 000 Euro) wird sie in der Villa Wessel mit einer Solopräsentation geehrt.

Die 35 Skulpturen und Arbeiten auf Papier, die im Arp Museum präsentiert werden, legen den menschlichen und tierischen Körper in seiner Verletzlichkeit und Endlichkeit bloß. Im lichten Richard-Meier-Bau sieht sich der Betrachter konfrontiert mit Torsi, Körperfragmenten und drastischen Objekten, die Assoziationen an fleischige Klumpen wecken. Keine leichte Kost. Kunst, die unter die Haut geht. Viele der Exponate, die eine Schaffenszeit von einem Vierteljahrhundert überspannen, künden von Tod, Verwundung, Deformation und Leid. Besonders eindrücklich verkörpert im Schmerzensmann IV, der sich an eine rostige alte Säule klammert. Die Passion hat hier kein Gesicht, vermittelt sich ausschließlich über den fragmentarischen Körper. Das ist ein genereller Zug in der Kunst von Berlinde De Bruyckere. „Ich brauche keine Köpfe oder Gesichter, weil sie Limitierungen sind“, erklärt sie. „Ich möchte, dass die Skulptur zum Betrachter über die Bewegung oder ihre Haltung spricht. Deren Ausdruckskraft ist viel stärker ohne Köpfe wahrnehmbar.“

Mit der Kopflosigkeit korrespondiert der Verzicht auf eine geschlechtliche Festlegung ihrer Figuren. Beim Rückenakt J.L. beispielsweise ist nicht auszumachen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt. Dargeboten auf einem aufgebockten Holztisch, hinterfangen von einer bühnenartigen Vitrine, wendet uns der gelängte Torso den Rücken zu. Ein Sinnbild der Isolation. J.L. (benannt nach dem Modell Jelle Leopard) scheint ein Geheimnis zu beschirmen; vergeblich suchen wir einen Hinweis, um es zu ergründen.

Das Motiv des toten Pferdes sticht hervor in der Werkübersicht im Arp Museum. Aus gutem Grund: Pferde haben De Bruyckere schon immer fasziniert. 1999 sichtete die Künstlerin im Vorfeld einer Ausstellung das Bildarchiv des dem Ersten Weltkrieg gewidmeten In Flanders Fields Museum in Ypern. Die Aufnahmen von Pferden, die zwischen 1914 und 1918 in millionenfacher Anzahl als Reit- und Zugtiere auf den Schlachtfeldern verheizt wurden, ließen sie nicht mehr los. „Ich liebe ihre Form, den Umstand, dass sie so stark sind, eine Moral besitzen, sehr clever sind“, erläutert die Künstlerin. „Pferdekörper sind riesig und massig. Diese Metapher hat für mich funktioniert. Seitdem nutze ich Pferde und erzähle mit ihnen von menschlichen Gefühlen.“ Daneben gibt es andere Inspirationsquellen; wichtig vor allem Claude Simons Erzählung „Das Pferd“ – hier wird das langsame Sterben eines verletzten Armeepferdes zur Metapher für existenzielles Leid.

Wegen des speziellen, zweifellos gewöhnungsbedürftigen Werkprozesses lassen sich veristische Skulpturen wie Lichaam (Corps) und Herbeumont im Zwischenreich von Kunstwerk und Tierpräparat verorten. Drastisch das Making-of dieser Werke: Zunächst wird der Pferdekadaver in einer Tierklinik enthäutet. Anschließend entsteht in der Regel ein Abguss aus Kunstharz, den De Bruyckere in das originale Fell einnäht – in der Ausstellung verdeutlicht Lichaam (Corps) dieses Verfahren. Den Korpus hat die Künstlerin hier zusätzlich in eine Felldecke gehüllt, so als wolle sie das Tier einhüllen. Wichtig auch: Die Nähte des über den Abguss gezogenen Pferdefells sind nicht kaschiert, sondern als künstlerische Zutat bewusst ins Blickfeld gerückt. Das klingt martialisch, erinnert entfernt auch an die „Körperwelten“ eines Gunther von Hagens; doch unterscheiden sich dessen reißerische Ganzkörperpräparate grundlegend von den Werken der Belgierin, die verstören, aber frei von Sensationslust sind.

Das gilt allemal auch für Herbeumont, eine Arbeit, die für den Außenraum entstanden ist. Hier kombinierte Berlinde De Bruyckere einen mächtigen Findling aus belgischem Schieferstein mit zwei Fohlen, gegossen aus (wetterunempfindlichem) Blei. Kein Zufall, dass die Konstellation an eine Opfergabe auf dem Altar erinnert: Bei der Skulpturengruppe handelt es sich um eine Hommage an den spanischen Barockmaler Francisco de Zurbarán. Dessen im Prado befindliches kleines Andachtsbild Agnus Dei stand Pate bei Herbeumont. Während bei Zurbarán das geopferte Lamm – und das bedeutet hier: Jesus Christus – die Sünden der Welt hinwegnimmt, überträgt Berlinde De Bruyckere die Rolle des Retters der Menschheit auf das Fohlen. Eine ebenso kühne wie stimmige Umdeutung des Verses aus dem Johannes-Evangelium.

Die Verbeugung vor Francisco de Zurbarán reiht sich in eine Vielzahl von Bezügen zu den Alten Meistern sowie zu antiker Mythologie und christlicher Religion. Vor allem in Ovids „Metamorphosen“ findet die Künstlerin Episoden, die sie in ihren Skulpturen aufgreift und zu bildnerischen Aussagen über die Conditio humana ausweitet. Die Geschichte des von Apollo geschundenen Satyrs Marsyas gehört dazu. Wie häufig in der griechischen Mythologie geht es um Hybris, um vermessenen Hochmut. Im Flötenspiel hatte es Marsyas zu einer solchen Meisterschaft gebracht, dass er es wagte, Apoll, den Gott der Musik, zum Wettstreit herauszufordern. Fatale Konsequenz: Apoll hängte ihn an einem Baum auf und zog ihm die Haut bei lebendigem Leibe ab.

Bei der oftmals dargestellten Folterszene – Künstler von Tizian bis Alfred Hrdlicka haben sie aufgegriffen – verzichtet Berlinde De Bruyckere auf alles Effekthascherische. Ihr Marsyas, eine kopflose, stehende Figur, sucht auf einem Holzsockel Halt zu gewinnen. Als Chiffre für sein Ende hat er buchstäblich den Boden unter den Füßen verloren. Wie ein Fell hängt seine ‚Haut‘ von den Schultern herab. Virtuos die mit Wachs bearbeitete Oberfläche. Dank einer speziellen Technik gelingen der Künstlerin hier feinste Farbabstimmungen: Um diese malerischen Effekte zu erzielen, streicht sie in der Gussform bis zu 20 Schichten farbigen Wachses aus, die durch Erwärmen ineinanderfließen. Das Resultat ist eine verblüffende Lebensnähe; hier reiht sich die Bildhauerin würdig in eine Tradition, die von den Totenmasken der alten Ägypter bis zu Marie Tussaud reicht.

Eine andere Ovid-Szene, in deren Mittelpunkt der Jäger Aktaion steht, gab den Anstoß zur Serie Romeu my deer – Schützenhilfe leistete hier der portugiesische Tänzer Romeu Runa. Auch Aktaion endet tragisch; auf der Pirsch überrascht er Artemis nackt beim Bad; zur Strafe verwandelt die superprüde Göttin der Jagd ihn in einen Hirsch, der von seinen eigenen Hunden zerfleischt wird. Womöglich noch komplexer der Entstehungsprozess dieser Skulpturen: Zunächst fotografierte Berlinde De Bruyckere die Tänzer von Romeu Runas Compagnie; die Fotos dienten als Basis für Zeichnungen, die wiederum der Schaffung der Skulpturen vorangingen. Auch Hirschgeweihe sind darin eingebunden. Nicht zuletzt fertigte sie von den Körpern der Tänzer Abgüsse, die gleichfalls in den künstlerischen Prozess eingeschleust wurden. Drei Live-Performances von Romeu Runa in der Ausstellung unterstreichen die Allianz zwischen Bildhauerin und Tänzer.

Obwohl Berlinde De Bruyckere vorwiegend die dunklen Seiten des Daseins beleuchtet und uns in teils schwer auszuhaltenden Skulpturen mit Qual und Sterblichkeit konfrontiert, führt sie uns nicht in ein auswegloses irdisches Jammertal. In ihrer assoziationsreichen Kunst bleibt Raum für Mitgefühl, Geborgenheit, Hoffnung – und Schönheit. „In meinen Arbeiten“, bekräftigt De Bruyckere, „zeige ich auch Schönheit. Diese Schönheit ist etwas, was viele Leute übersehen, weil sie nur den Tod sehen. Für mich gibt es dieses Yin-Yang-Ding zwischen Eros und Thanatos.“ So wird der Rundgang durch die Ausstellung im Arp Museum Bahnhof Rolandseck zu einem Weg, der gesäumt ist von Grenzerfahrungen.

Ausstellung: Berlinde De Bruyckere. PEL / Becoming the figure

Bis 8. Januar 2023

Arp Museum Bahnhof Rolandseck

Hans-Arp-Allee 1, 53424 Remagen

Website: https://arpmuseum.org/

Ausstellung: Berlinde De Bruyckere – Iserlohner Kunstpreis

Bis 6. November 2022

Villa Wessel, Gartenstraße 31, 58636 Iserlohn

Website: http://www.villa-wessel.de/index.html

0 Kommentare
Kommentare einblenden

Profile

Berlinde De Bruyckere wurde 1964 im belgischen Gent geboren, wo sie bis heute lebt. Bekannt wurde die Künstlerin zu Beginn der 2000er-Jahre durch ihre eindringlichen Plastiken toter Pferde. 2006 nahm sie an der Berlin-Biennale teil, 2013 bespielte sie den Belgischen Pavillon der Biennale in Venedig. Seitdem hatte sie zahlreiche Einzelausstellungen, unter anderem im Kunstmuseum Bern, im Wiener Leopold Museum und im Kunsthaus Bregenz. 2021 richtete ihr das Bonnefanten Museum in Maastricht eine große Retrospektive aus. Auch als Bühnenbildnerin ist Berlinde De Bruyckere hervorgetreten; hier arbeitet sie mit der belgischen Videokünstlerin Mirjam Devriendt zusammen.

Foto: Burkhard Maus

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren: