Ausstellung

Künstler für Künstler

Die Kunsthalle Mannheim feiert Henri Matisse als Inspirator

Zu Beginn des Jahres 1909 sorgte eine Ausstellung mit Werken von Henri Matisse im Berliner Kunstsalon Paul Cassirer für deutschlandweites Aufsehen – zumindest in jenen Kreisen, die der Avantgardekunst aufgeschlossen gegenüberstanden. Wie der französische Künstler (1869–1954), dessen Bild „Luxe, Calme et Volupté“ (1904) als Initialzündung des Fauvismus gilt, auf der Leinwand reine, leuchtende Farben zum Einsatz brachte, wie er Bildern und Skulpturen durch dekorative, prägnante Formen Signalcharakter verlieh, das rief auch hierzulande erhebliche Resonanz hervor.

Dabei spalteten sich Künstler, Kritiker, Sammler, Museumsleute und Galeristen in begeisterte Anhänger und entschiedene Gegner. „Eine unverschämte Frechheit nach der anderen“, ätzte Max Beckmann über das Berliner Gastspiel des 15 Jahre älteren Kollegen, der im Dezember eigens in die deutsche Hauptstadt gereist war, um seine Gemälde, Zeichnungen, Druckgrafiken und Bronzen eigenhändig zu hängen beziehungsweise zu platzieren.

Beckmanns Ressentiment war allerdings nicht repräsentativ für die Einstellung der deutschen Künstler. Im Gegenteil: Etliche Vertreter der damaligen Avantgarde, darunter die Brücke-Künstler, berauschten sich im Kunstsalon Paul Cassirer an der impulsiven, farbenfrohen Kunst von Henri Matisse. Kein Zufall wohl, dass sich seine Anfang 1908 in Paris eröffnete Privatschule, die Académie Matisse, gerade unter deutschen Künstlern großer Beliebtheit erfreute. Oskar und Margarethe Moll, Hans Purrmann und seine spätere Frau Mathilde Vollmoeller sowie Rudolf Levy zählten zu den Schülern der Akademie, die bereits im Frühjahr 1910 wieder aufgelöst wurde.

Der „Inspiration Matisse“ widmet die Kunsthalle Mannheim derzeit eine große Ausstellung; äußerer Anlass ist der 150. Geburtstag des Malers, Grafikers und Bildhauers (geb. am 31. Dezember 1869). Rund 120 Exponate von zahlreichen Kunstschaffenden unterstreichen die Sonderstellung von Matisse, der in Mannheim als „Künstler für Künstler“ gefeiert wird. Versteht sich, dass Schöpfungen des Meisters selbst den Kern der Schau ausmachen. Flankiert werden diese Arbeiten einerseits durch Werke seiner fauvistisch gesonnenen Landsleute, darunter André Derain, Georges Braque, Charles Camoin, Kees van Dongen, Raoul Dufy, Henri Manguin oder Albert Marquet, andererseits durch Exponate deutscher Künstler wie Ernst Ludwig Kirchner, Alexej von Jawlensky, August Macke, Gabriele Münter und Max Pechstein – nicht zu vergessen die schon erwähnten Matisse-Jünger Levy, Oskar und Margarete Moll, Purrmann und Vollmoeller.

Parallel lässt sich im Kunsthaus Zürich der Bildhauer Matisse in nuce entdecken. Die Zürcher Ausstellung „Matisse – Metamorphosen“ führt vor Augen, wie der Künstler zunächst im Fahrwasser der Skulpturen von Rodin, Maillol und Bourdelle segelte, bevor er im Prozess einer Metamorphose seinen eigenen plastischen Stil entwickelte, der sich am Ende von der Gegenständlichkeit weitgehend entfernt hatte. Skulptur und Malerei dachte Matisse nicht als Gegensätze; vielmehr waren sie für ihn gleichsam zwei Seiten einer Medaille. „Ich bin Bildhauer geworden, weil ich mit Hilfe der Malerei Ordnung in mein Hirn bringen wollte“, erklärte er. Und fuhr fort: „Ich suchte mir andere Mittel und griff zum Ton, um mich von der Malerei zu erholen, in der ich absolut alles erreicht hatte, was mir bis dahin möglich war. Mit anderen Worten: Es ging mir immer darum, meinen Empfindungen eine Struktur zu geben. Ich war auf der Suche nach einer Methode, die mir vollkommen entsprach. Als ich sie mit der Bildhauerei gefunden hatte, half mir das auch in der Malerei weiter.“

Mit den bronzenen Rückenakten der Werkgruppe „Nu de dos“ können jetzt sowohl Zürich als auch Mannheim Beispiele eines legendären Ensembles aufbieten, das die bildhauerische Entwicklung des Künstlers als Konzentrat veranschaulicht. Die in Mannheim zu sehenden vier lebensgroßen Reliefs (drei stammen aus der Staatsgalerie Stuttgart, eines befindet sich im Besitz der Kunsthalle Mannheim, die über eine der bedeutendsten Skulpturen-Sammlungen des 20. Jahrhunderts verfügt) entstanden zwischen 1909 und 1930. Frappierend, wie Matisse den Rückenakt schrittweise stilisiert, um 1930 zu einer elementaren Gestaltung zu gelangen, die nur noch entfernt an einen weiblichen Körper erinnert.

Bevor Henri Matisse zum Wegbereiter für jüngere Künstler wurde, hielt er selbst Ausschau nach einem Leitstern. Er fand ihn in Paul Cézanne. Dessen Gemälde „Trois Baigneuses“ sah Matisse 1899 in der Galerie von Ambroise Vollard. Die Badeszene (heute im Musée du Petit Palais, Paris) schlug ihn derart in den Bann, dass er das Bild, obwohl damals noch knapp bei Kasse, augenblicklich kaufte. „Es blieb ihm dann über 30 Jahre lang Ratgeber, so sehr faszinierten ihn Komposition, Pinselstrich und Farbgestaltung, so sehr löste es in ihm eine dauerhafte oder phasenweise intensive Auseinandersetzung mit dem Werk des 30 Jahre älteren Malers aus“, urteilt Peter Kropmanns in seinem Katalogaufsatz über die frühen Jahre von Matisse.

Sechs Jahre später schrieb er selbst erstmals Kunstgeschichte: Unter seiner Führung formierte sich im Pariser „Herbstsalon“ eine Gruppe revolutionärer Künstler, die rasch als „Fauves“ etikettiert wurden, weil der Kritiker Louis Vauxcelles ihre Gemälde, in denen die Farbe vehement auftrumpft, mit den Hervorbringungen von „Wilden“ verglich. 25 Jahre später blickte Matisse abgeklärt auf diese Sturm-und-Drang-Periode zurück: „Der Fauvismus erschütterte die Tyrannei des Divisionismus. Man kann es in einem allzu ordentlichen Haushalt, in einem von Tanten in der Provinz, nicht aushalten. Also macht man sich auf in die Wildnis, um einfachere Mittel zu suchen, die den Geist nicht ersticken.“

Die Werke der Fauves – vor allem Strandszenen, Akte, Porträts und Stillleben – zeichnen sich aus durch reine, kräftige Farben, durch die Vorliebe für Kontraste und einen impulsiven Pinselstrich. Merkmale, die auch geeignet sind, den deutschen Expressionismus zu charakterisieren. Als sich Matisse um 1910 anschickte, auch in Deutschland zur Zentralfigur der Avantgarde zu werden, sahen sich vor allem die Brücke-Künstler mit einem wahlverwandten Kontrahenten konfrontiert. Der Kritiker Paul Fechter brachte diese Rivalität auf den Punkt: „Hier liegt eine Gefahr für die Brücke – nämlich ins Hintertreffen zu kommen, ihre Kraft an Dinge zu vergeuden, die letzten Endes bereits erledigt sind.“

Es war vor allem Ernst Ludwig Kirchner, der sich durch den Erfolg von Matisse und der Fauves herausgefordert fühlte und die Zuspitzung seines Stils in Richtung Dynamik und Anti-Naturalismus deswegen vorantrieb. Zugleich leugnete er 1909 schlichtweg, den Namen Matisse je gehört zu haben – eine glatte Unwahrheit. Noch fragwürdiger jene Finte, zu der Kirchner zehn Jahre später griff, als er sich eigens das Pseudonym eines französischen Kunstkritikers zulegte und unter dem Namen Louis de Marsalle Artikel über seine eigene Kunst in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichte. Seinem Förderer Gustav Schiefler schrieb er sodann, „gerade mit Hilfe dieses Franzosen beweisen zu können, daß meine Arbeit wirklich unabhängig … von der zeitgenössischen französischen Kunst entstand“. Könnte es eine eindrucksvollere Demonstration der Tatsache geben, dass der Schatten von Henri Matisse zumindest vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland so mächtig war, dass sich manche der Avantgarde-Künstler in den Hintergrund gedrängt fühlten?


Auf einen Blick

Ausstellung
Bis 19. Januar 2020: „Inspiration Matisse“, Kunsthalle Mannheim.
Bis 8. Dezember 2019 zeigt das Kunsthaus Zürich die Ausstellung „Matisse – Metamorphosen. Meilenstein in der Skulptur der Moderne“.

Öffnungszeiten
Dienstag bis Sonntag, 10:00–18:00 Uhr
Mittwoch, 10.00–20:00 Uhr

Katalog
Inspiration Matisse. Mit Beiträgen von Ina Ewers-Schultz, Simon Kelly, Simone Klein, Astrid Köhler, Peter Kropmanns, Colin Lemoine, Isabelle Monod-Fontaine, Jacqueline Munck, Christian Weikop, Herausgeber: Peter Kropmanns und Ulrike Lorenz, Hardcover, 232 Seiten, 200 Farbabbildungen, Prestel Verlag, ISBN 9783791359076

Kontakt
Kunsthalle Mannheim, Friedrichsplatz 4, 68165 Mannheim
Internet: www.kuma.art

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Profile

1909 als Museum gegründet, zählt die Kollektion der Kunsthalle Mannheim zu den renommiertesten bürgerschaftlichen Sammlungen Deutschlands, die mit Spitzenwerken der Malerei und einem herausragenden Skulpturenschwerpunkt aufwartet. Der von Hermann Billing entworfene Jugendstilbau des Museums wurde 1907 errichtet. Im Juni 2018 wurde der neue Museumskomplex eröffnet, ermöglicht unter anderem durch die private 50-Millionen-Euro-Spende des SAP-Mitbegründers Hans-Werner Hector. Die neue Kunsthalle Mannheim ist ein „Museum in Bewegung“. Grundelemente der Stadt wie Haus, Passage, Platz und Brücke sind Leitprinzipien der neuen Architektur von gmp – Gerkan, Marg und Partner.

 

[Luftansicht der Kunsthalle Mannheim mit dem Jugendstilbau von Hermann Billing (links) und dem Erweiterungsbau von gmp, Foto: Kunsthalle Mannheim / Daniel Lukac]

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