„Making van Gogh“: Das Städel Museum in Frankfurt erzählt die „Geschichte einer deutschen Liebe“
Gleich zwei Ausstellungen erkunden derzeit hierzulande, welchen Einfluss zwei Patriarchen der Moderne auf die deutschen Künstler im frühen 20. Jahrhundert ausübten. Während die Kunsthalle Mannheim noch bis zum 19. Januar 2020 Henri Matisse als Vaterfigur der Avantgarde in Frankreich und Deutschland feiert (Ausstellung „Inspiration Matisse“), rekapituliert das Städel Museum in Frankfurt am Main mit der Schau „Making van Gogh. Geschichte einer deutschen Liebe“ die schon früh keimende Leidenschaft der Deutschen für Vincent van Gogh – eine Langzeitliebe, die bis heute nicht abgeflaut ist.
„Van Gogh ist tot, aber die Van-Gogh-Leute leben. Und wie leben sie! Überall Van Goghelt‘s“, frotzelte der Dichter Ferdinand Avenarius bereits 1910 angesichts der deutschen Künstler, Galeristen, Sammler, Kritiker und Museen, die für den niederländischen Pionier der ekstatischen Malerei (1853–1890) in Bewunderung entbrannt waren. Die Frankfurter Ausstellung geht dieser Welle der Begeisterung mit mehr als 120 Werken auf den Grund. Rund 50 sind von van Gogh selbst; die übrigen Gemälde und Arbeiten auf Papier stammen hauptsächlich von Expressionisten, unter ihnen Max Beckmann, Peter August Böckstiegel, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Paula Modersohn-Becker, Gabriele Münter und Karl Schmidt-Rottluff.
Parallel zeigt das Museum Barberini in Potsdam knapp 30 Stillleben des Meisters. „Stillleben sind der Anfang von allem“, hatte Vincent van Gogh im Winter 1884/85 erkannt. Rund 170 hat er im Laufe seiner nur rund zehn Jahre währenden Schaffenszeit gemalt – darunter die eminent postertauglichen Sonnenblumen, wohl die berühmtesten Stillleben der Kunstgeschichte. Zwar konnte das Museum Barberini keine der Inkunabeln dieser siebenteiligen Serie nach Potsdam lotsen, doch entschädigt man das Publikum dafür mit einer hochkarätigen Auswahl. Sie reicht von den frühen, in dunklen Erdtönen gehaltenen Darstellungen von Holzschuhen oder Kohlköpfen bis zu den vor Leuchtkraft strotzenden Obst- und Blumenstillleben, die in den letzten Lebensjahren in Arles, Saint-Rémy und Auvers entstanden sind. Angesichts dieser so lebensbejahend wirkenden Farberuptionen kann man kaum glauben, dass der psychisch hochlabile Maler sich aus Verzweiflung erschossen hat. „In keiner Weise lässt sich van Goghs Freitod aus dessen Werken entziffern“, betont Beat Wyss zurecht in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ (Ausgabe vom 27.10.2019). „Kunst“, so Wyss, „ist kein Spiegel des Künstlerlebens. In den Werken manifestiert sich die pure Freude am Schaffen.“
Von dieser unbändigen Schaffensfreude kann man sich derzeit auch ein Bild im niederländischen ’s-Hertogenbosch machen. Mit seiner aktuellen Ausstellung „Van Goghs innerer Zirkel – Freunde, Familie, Modelle“ will das Het Noordbrabants Museum das vorherrschende Bild von Vincent van Gogh als Eigenbrötler, Kauz und Außenseiter der Gesellschaft zurechtrücken. Rund 100 Gemälde und Zeichnungen, dazu Briefe und Archivalien sollen das Charakterbild eines Mannes vermitteln, der Freunden, Familienangehörigen, Künstlerkollegen und Modellen von Herzen zugetan war. Die berühmt-berüchtigte Kameradschaft mit Paul Gauguin vermag diese Theorie vom umgänglichen Künstler zwar nicht zu stützen – immerhin schnitt sich van Gogh 1888 nach ihrer zweimonatigen, offenbar konfliktreichen Zusammenarbeit in Arles ein Ohr ab; doch blieben sie danach in Briefkontakt, was die Schau im Het Noordbrabants Museum als weiteren Beleg für ihre optimistische These nimmt. Entkräften jedoch kann sie das traditionelle Bild vom randständigen Künstler letztlich nicht. Nach wie vor glaubhaft erscheinen Zeitzeugen-Aussagen wie die des Malers Anthon van Rappard, fünf Jahre lang mit Vincent van Gogh befreundet: „Er war nicht einfach im Umgang. Nur wenige konnten es mit ihm und seinem fanatischen Ungestüm aushalten.“
Zurück zur Frankfurter Ausstellung, die sich eines immensen Publikumsandrangs erfreut, die zweifellos zu den Blockbustern des Jahres 2019 gezählt werden muss. Hervorzuheben sind vor allem Spitzenwerke wie die Selbstbildnisse aus dem Art Institute in Chicago und dem Kröller-Müller Museum in Otterlo, das wunderbare Porträt von Augustine Roulin, Frau seines Freundes, des Postbeamten Joseph Roulin (von den fünf Fassungen des Gemäldes zeigt das Städel die Version aus dem Stedelijk Museum, Amsterdam) sowie die „Segelboote am Strand von Les Saintes-Maries-de-la-Mer“ aus dem Amsterdamer Van Gogh Museum.
Auf ein weiteres Highlight, nämlich auf das „Bildnis des Dr. Gachet“ (1890), muss das Publikum dagegen leider verzichten. Das Porträt des Arztes Paul-Ferdinand Gachet, der Vincent van Gogh in dessen letzten Wochen in Auvers-sur-Oise behandelte, existiert in zwei Versionen. Eine befindet sich im Pariser Musée d’Orsay, die andere erwarb Georg Swarzenski, damals Direktor der Städtischen Galerie im Städel, bereits im Jahr 1911. Von den Nationalsozialisten 1937 beschlagnahmt, wechselte das Bild mehrfach seinen Besitzer, wurde 1990 in New York an den japanischen Unternehmer Saitō Ryōei versteigert und ist seitdem der Wahrnehmung der Öffentlichkeit entzogen. Ein Trauerspiel, an das im Städel ein leerer Rahmen erinnert.
Wie kam es überhaupt dazu, dass rund um Vincent van Gogh, dessen Malerei zu Lebzeiten auf Ignoranz bei den meisten Kennern stieß (beim Publikum ohnehin), innerhalb kurzer Zeit ein solcher Kult entstehen konnte? Als 1901 in der Berliner Galerie von Paul Cassirer die erste Ausstellung von van Gogh in Deutschland gezeigt wurde, wussten viele mit dieser entfesselten Malerei nichts anzufangen – das galt selbst für Fachleute. „Die Van Gogh‘schen Bilder verblüfften ganz Berlin zuerst in solcher Weise, dass überall ironisches Gelächter und Achselzucken war“, erinnerte sich etwa der Maler Lovis Corinth noch Jahre später an die Irritation, die jene bei Cassirer zu sehenden 19 Gemälde des Niederländers auslösten. Neben der bei Corinth spürbaren Ratlosigkeit gab es aber von Beginn an auch Enthusiasmus, etwa beim Publizisten Karl Scheffler. Nach dem Besuch der Ausstellung bei Paul Cassirer charakterisierte er Vincent van Gogh – brachial, aber nicht unzutreffend – als einen „genialen, bäuerlich derben Revolutionär, der mit der Faust auf den Tisch schlägt und von seinen Ideen fanatisiert wird“.
Zweifellos bedeutete die Berliner Ausstellung in der Geschichte der Van-Gogh-Rezeption in Deutschland eine Initialzündung. Eine weitere Wegmarke wurde 1905 mit einer Van-Gogh-Ausstellung in der Dresdner Galerie Arnold gesetzt. Die Künstlergruppe Brücke, 1905 in Dresden von Ernst Ludwig Kirchner, Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff gegründet, konnte gleichsam vor der Haustür Maß nehmen an einer Malerei, in der die Befreiung der Farbe und die Dynamisierung der Form vorformuliert waren. Der endgültige Durchbruch jedoch ließ noch bis 1912 auf sich warten. Die „Internationale Kunstausstellung des Sonderbundes westdeutscher Kunstfreunde und Künstler“ in Köln stilisierte den Maler letztgültig zur Schlüsselfigur der Moderne: Von den 634 Werken dieser Bilanz der Gegenwartskunst stammten immerhin 125 von van Gogh. Allein vor dem Ersten Weltkrieg fanden in Deutschland mehr als 60 Ausstellungen mit seinen Arbeiten statt. Mehr Ruhm im Kunstbetrieb geht kaum. Kehrseite dieser Medaille: Van Gogh geriet ins Visier der Fälscher. Seit Mitte der 1920er-Jahre brachte der Berliner Galerist Otto Wacker circa 30 gefälschte Bilder auf den Markt. Der Prozess, der 1932 begann, verankerte den Namen des Künstlers auch in den Annalen der Kriminalstatistik.
Erheblichen Anteil an der Entstehung des Mythos van Gogh hatte der Schriftsteller Julius Meier-Graefe. Seine 1910 erschienene Monografie prägte das bis heute populäre Bild vom einsamen, unverstandenen Wundermaler, der zwischen Genie und Wahnsinn zu verorten ist. In seinem Verklärungseifer ging Meier-Graefe so weit, den Maler (Sohn eines Pfarrers) als „Christus der modernen Kunst“ zu bezeichnen: „Er hat für viele geschaffen, noch mehr für viele gelitten. Ob er der Heiland ist oder werden kann, das wird von dem Glauben der Jünger abhängen.“
Hatte Julius Meier-Graefe die Bibel der Van-Gogh-Religion geschrieben, so hielten zur selben Zeit viele Künstler den Märtyrer der Moderne eher für den Antichrist. Als die Kunsthalle Bremen 1911 van Goghs Gemälde „Mohnfeld“ (1889) ankaufte, reagierten nationalistisch gestimmte Kunstschaffende mit Widerspruch: „Ein Protest deutscher Künstler“ wurde veröffentlicht, in dem 123 Gefolgsleute vor einer „Überfremdung“ des Kunstmarktes und der Museen in Deutschland warnten. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: Noch im selben Jahr erschien unter dem Titel „Im Kampf um die Kunst“ ein Aufsatz, in dem Künstler, Schriftsteller und Kunsthändler ein Plädoyer für eine weltoffene Kunstszene hielten. Vincent van Gogh als Symbolfigur für Toleranz und Aufgeschlossenheit gegenüber anderen Ländern und Kulturen – diese Perspektive erscheint heute angesichts der Verhärtung der Fronten, wie sie selbst in demokratischen Ländern zu beobachten ist, aktueller denn je.
Auf einen Blick
Ausstellung
Bis 16. Februar 2020: „Making van Gogh. Geschichte einer deutschen Liebe“, Städel Museum, Frankfurt am Main.
Öffnungszeiten
Dienstag, Mittwoch, Samstag, Sonntag: 10.00–19.00 Uhr
Donnerstag, Freitag: 10.00–21.00 Uhr
Katalog
Making van Gogh. Herausgegeben von Alexander Eiling und Felix Krämer, unter Mitarbeit von Elena Schroll. Beiträge von H. Biedermann, R. Dorn, E. Eiling, J. Kaak, S. Koldehoff, F. Korn, F. Krämer, I. Schmeisser, E. Schroll, Hardcover, geb. 352 Seiten, 260 farb. Abb., 23 x 28 cm, Hirmer Verlag, ISBN 9783777432977
Digitorial zur Ausstellung
https://vangogh.staedelmuseum.de
Podcast „Finding Van Gogh“
www.staedelmuseum.de/de/podcast-finding-van-gogh
Kontakt
Städel Museum, Schaumainkai 63, 60596 Frankfurt am Main
Internet: www.staedelmuseum.de
Weitere aktuelle Van-Gogh-Ausstellungen
Bis 2. Februar 2020: Van Gogh. Stillleben
Öffnungszeiten
Montag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, Sonntag: 10.00–19.00 Uhr
Dienstag: geschlossen
Jeden ersten Donnerstag im Monat: 10.00–21.00 Uhr
Katalog
Van Gogh. Stillleben
Herausgegeben von Ortrud Westheider und Michael Philipp. Mit Beiträgen von Sjraar van Heugten, Valerie Hortolani, Stefan Koldehoff, Michael Philipp, Eliza Rathbone, Oliver Tostmann, Marije Vellekoop, Michael F. Zimmermann, Hardcover m. SU, 264 Seiten, 270 farb. Abb., 24,0 x 30,0 cm, Prestel Verlag, München 2019, ISBN 9783791358710
Kontakt
Museum Barberini
Humboldtstraße 5–6
Alter Markt
14467 Potsdam
Bis 12. Januar 2020: Van Goghs innerer Zirkel – Freunde, Familie, Modelle
Öffnungszeiten
Dienstag bis Sonntag: 11.00 bis 17.00 Uhr
Montag geschlossen
Kontakt
Het Noordbrabants Museum
Verwersstraat 41
5200 BA ‘s-Hertogenbosch
https://www.hetnoordbrabantsmuseum.nl
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