Ausstellung

Archiv der Unterdrückung

Kara Walker in der Frankfurter Schirn

Der große Ausstellungsraum der Schirn öffnet sich in den Dachgiebel. Die Balken werfen lange Schatten auf die Schrägen. Das Licht steigt aus der Hängung nach oben, darunter Vitrinen wie große weiße Tische auf hellbraunem Holzboden. Alles das bereitet bereits auf die erste Anmutung dem Empfinden Raum, in einem privaten Dachboden herumzustöbern und dann Dinge zu entdecken, die man nicht sehen sollte, durfte, dürfen sollte, von denen aber dann doch der voyeuristische Blick nicht abzuwenden ist, denn zu schockierend, zu direkt, zu faszinierend und fesselnd sind die Fundstücke – und immer mehr verdichtet sich die Erkenntnis: Was ich finde, das hat mit mir zu tun.

Kara Walker, geboren 1969 im US-Staat Kalifornien, hat ihr privates Archiv der vergangenen knapp 30 Jahre geöffnet. Die Ausstellung der in New York lebenden und arbeitenden Künstlerin präsentiert so neben Arbeiten, die für den Kunstmarkt und Ausstellungen konzipiert waren, über 600 Zeichnungen, Skizzen, Collagen, getippte Notate auf Karteikarten, ausgeschnittene Zeitungsartikel, Werbeanzeigen. Viele Zeichnungen wirken wie hastig aufs Papier geworfen, und auch die Kreidezeichnungen und Aquarelle behalten den spontanen und vorläufigen Charakter einer persönlichen Notiz, eines Memos, eines gezeichneten Journals, Tagebuchs. Zum Beispiel ein rasch geschriebenes „Barack Obama elected 44. president of the United States“. Das scheint wichtig – und wird es später tatsächlich noch werden. Diese Intimität, die anzieht und beschämt, wird noch bestärkt durch die Motive: Eine nackte, schwarze Frau wird ausgepeitscht. Eine nackte, schwarze Frau wird vergewaltigt, in alle Körperöffnungen penetriert. Eine nackte, schwarze Frau erhängt an einem Baum. Eine nackte, schwarze Frau wird geschlagen von einem weißen Mann. Dazwischen die Zeitungsausschnitte – auch deutsche: „Erotische Faszination: Das Geheimnis Schoko-Haut“. Und: „Ins wilde Herz Afrikas“, ein Fernsehprogrammhinweis auf eine Reisereportage als „verwirrende Mischung aus Rassen, Sprachen, Kulturen“. Ausgeschnitten und auf ein weißes Blatt geklebt, als Erinnerungsstütze, zur späteren, weiteren Verwendung. Die Blätter liegen in den Vitrinen oder sind, einzeln gerahmt, zu Clustern an der Wand zusammengefügt, was ihnen museale Bedeutung verleiht. Und dazu noch Zeichnungen als meterlange Rollbilder, die wie Graphic Novels gearbeitet sind und assoziative Geschichten vom Geschick der schwarzen Frauen und der Männer erzählen. Sex ist immer Machtspiel. Die Schwarzen sind die Unterdrückten.

Rassismus als gesellschaftliche DNA

Kara Walker wurde auch durch ihre großformatigen Installationen bekannt, wie den 13 Meter hohen Brunnen Fons Americanus in der Tate Modern (2019/20), bei dem das Wasser aus der offenen Halswunde einer schwarzen Sklavin in ein Becken mit Haifischen schoss und dessen Aufbau das Victoria Memorial gegenüber dem Buckingham Palast in London imitierte, und ihre Scherenschnittfilme. Sie zeigt in den Zeichnungen ihre Fähigkeit, mit wenigen Strichen und bewussten Unschärfen und Auslassungen Szenen anzudeuten, die die Betrachter*innen dann mit eigenen Erfahrungen und Weltwissen ergänzen können. Dadurch kommt sehr sublim das eigene Denken in die Szenen hinein. Zugleich durchbricht Walker aber die Möglichkeiten der unmittelbaren und eindeutigen Aneignung, weil sich die Identitätsmuster in ihren Zeichnungen verschieben. Kann das Auspeitschen einer schwarzen Frau auf den ersten Blick als historische Sklavenunterdrückungsszene im Stil der US-amerikanischen Fernsehserie „Roots“ gedeutet werden, wird es durch schon das nächste Blatt mit Gegenwartskleidung oder Figuren wie Elvis Presley zu einer heutigen Szene, die man zwar als SM-Szene deuten kann, was ihr den Unterdrückungscharakter nicht nimmt. Die historischen Ereignisse sind bei Walker im Heute angekommen. Oder anders: Sexismus und Rassismus sind in der DNA unserer Gegenwartskultur so eingeschrieben, dass die Trennung allenfalls eine methodische, künstliche ist.

In Yesterdayness in America Today, eine großformatige (221 x 365 cm) Grafit- und Aquarell-Arbeit, dominiert in der Bildmitte eine nackte, muskulöse Schwarze, die sich mit geballten Fäusten die Haare rauft und weit ausschreitet. Eine Black-Power-Aktivistin? Eine Verzweifelte? Beides? Neben ihr kauert ein schwarzer, nackter Mann auf dem Boden, die Hände hinter dem Kopf verschränkt wie kurz vor seiner Festnahme durch die Cops, und auf der anderen Bildseite die Lichtgestalt von Elvis Presley, dessen Gesichtszüge deutlich an Donald Trump erinnern. Dazwischen collagiert ein betendes schwarzes Mädchen, ein schwarzes Paar mit Kind, das in den Sonnenuntergag zu schreiten scheint und eine alte schwarze Frau mit Kopftuch, das Kinn müde auf die Hand gestützt. Das alles kann gestern gewesen sein oder vorgestern, damals oder heute. Es können Sklaven damals gewesen sein oder schwarze US-Bürger, die heute von der Polizei zu Boden geworfen werden. Das Narrativ der rassistischen und sexistischen Unterdrückung erzählt sich vielleicht anders, aber nicht neu. Man scheint beim Betrachten und Schauen ein einsteinsches Wurmloch betreten zu haben, ein Sprung durch Zeit und Raum.

Barack Obama

Zwei Kabinette brechen aus der Präsentation der Archivexponate heraus. Drei Scherenschnittfilme und vier großformatige Kohle-Kreide-Arbeiten (ca. 220 x 180 cm) aus dem Jahr 2019. Das Thema der Bilder ist Barack Obama, Walkers Reaktion auf das offizielle Präsidentenportrait von Kehinde Wiley. Walker setzt Obama in vier Szenen, in denen sie kunsthistorische Vorbilder zitiert: Barack Obama als afrikanischer Stammeschef. Barack Obama als Hl. Antonius, wie ihn Martin Schongauer darstellte. Der Heilige, der von Dämonen, einer erkenntlich Donald Trump, brutal gequält wird. Barack Obama als Othello, der den abgeschlagenen Kopf von (Trump als) Iago im Schoß hält – und damit wird die shakespearesche Geschichte mit dem Tod des Intriganten neu geschrieben. Und Barack Obama als göttliche Apotheose.

Souverän setzt die Künstlerin den 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten in die Geschichte der weißen, angelsächsischen und europäischen Religion und Kultur. Sie nutzt die bekannten Vorbilder und Motive und bricht sie zugleich. Die shakespeareschen Dramen wie die Heiligenviten scheinen unziemlich zu wirken, weil plötzlich ein Schwarzer im Mittelpunkt steht. Und der Schwarze nicht als Folterer, sondern als Gefolterter, nicht als Intrigant, sondern als Opfer der Intrige, denn Walker weist mit dem Othello-Bilduntertitel „With the whole Birther Conspiracy“ auf die Verleumdungskampagne gegen Obama hin, er sei nicht in den USA geboren und mithin nicht berechtigt, sich zur Präsidentenwahl zu stellen; Trump war einer der Hautverbreiter dieser Fake-News. Und Obama als Heilsbringer – und nicht als demütig um das göttliche Erbarmen vor dem weißen Heiland auf Knien flehender Schwarzer.

Walker eignet sich die Geschichte der religiösen, rassistischen und sexistischen Unterdrückung an, indem sie sie mit den künstlerischen Versatzstücken der Unterdrücker erzählt. Das führt auch zur Aufgabe der tradierten Identitäten. Zugleich verbindet sie über die Stereotypen und kunsthistorische Zitate die beiden Gruppen und auch Geschichte und Gegenwart so geschickt und gekonnt, dass den Betrachter*innen die rationale Distanz nicht gelingen kann.

In den drei präsentierten Scherenschnittfilmen Walkers werden schwarze Frauen vergewaltigt, schwarze Männer umgebracht, ihre Häuser verbrannt. Eine weiße Frau verführt einen schwarzen Mann, der dafür gehängt wird. Die Provokation für die Besucher*innen besteht bereits in dem Gegensatz zwischen Form und Inhalt. Die Filme kommen daher wie Kinderfilme, wie Scherenschnitttheater auf dem Weihnachtsmarkt für die Kleinen. Erzählt wird aber die historische Unterdrückung der Schwarzen in den USA. Und selbst hier lässt die Filmemacherin Illusion nicht ungebrochen zu. Zwischendurch schwenkt die Kamera von den Figuren auf die Spieler hinter der Bühne, die die Scherenschnittfiguren an langen Stäben halten. Auch diese Geschichte wird gemacht, erzählt, und ist zu hinterfragen.

In dem Silhouettenanimationsfilm 8 Possible Beginnings or: The Creation of African-America wird ein Sklave von einem weißen Mann geschwängert und gebiert eine Baumwollpflanze, die er aufzieht. Das überrascht. Das Motiv eines gebärenden Vaters war bereits in einer anderen Skizzenserie zu finden, wie auch das eines schwarzen Mannes mit Brüsten. Walker verweigert enge Identitätsdefinitionen. In einem ausgestellten Archivstück fragt sie: „Is Race less fluid than Gender?“ – etwa: Ist die Rassenzuweisung weniger fließend als die Geschlechtszugehörigkeit?

In einer kleinen Zeichnung wälzt eine schwarze Frau den Stein des Sisyphos den Berg hinauf. Es ist der Kopf eines weißen Mannes. Der Kampf gegen Rassismus und Sexismus ist noch nicht beendet. Aber nach den Stunden in der Ausstellung ist er so nahegekommen, als hätte man unbekannte Nazibilder der Eltern oder Großeltern in den alten Koffern auf dem Speicher entdeckt. Auch wenn die Sklaverei lange her ist, ist sie Teil eigener Geschichte. Kara Walkers US-amerikanische Erzählung legt europäische, deutsche Haltung und Lebenswelt frei und stellt Identität in Frage, mehr vielleicht, als man es sich gewünscht hatte, als man ins private Archiv der Künstlerin Einblick nehmen wollte. Aber was kann Besseres passieren, als dass man eine Ausstellung anders verlässt, als man sie betreten hat.

 


Auf einen Blick

Ausstellung: Kara Walker: A Black Hole Is Everything A Star Longs to Be

Ort: Schirn Kunsthalle Frankfurt, Römerberg. 60311 Frankfurt am Main

Dauer: bis 16. Januar 2022. Anschließend vom 19. Februar bis 24. Juli 2022 im De Pont Museum, Wilhelminapark 1, NL 5000 Tilburg

Internet: www.schirn.de

Öffnungszeiten: Di, Fr–So 10:00–19:00 Uhr, Mi-Do 10:00-22:00 Uhr

 

Katalog

Kara Walker. A Black Hole is Everything a Star Longs to Be. Zeichnungen 1992-2020

Herausgegeben von Anita Haldemann mit Beiträgen von Maurice Berger, Aria Dean, Anita Haldemann und Kara Walker, geb. 600 S., 700 Abb. in Farbe, 21,5 x 28 cm, JRP|Editions, ISBN 9873037645581

 

Online

Die Website der Schirn bietet gute Online-Angebote. Wesentliche Hintergründe bietet das ansprechend aufgebaute Digitoral (https://schirn.de/karawalker/digitorial/). Ab November finden sich mehrere Expert*innen-Talks in der neuen Podcast-Reihe Telling Black Histories von Jena Samura (https://schirn.de/magazin/podcasts). Jeden ersten und dritten Dienstag im Monat gibt es um 19:00 Uhr kostenpflichtige (EUR 5) Online-Touren zu den Hauptwerken der Ausstellung; jeden 2. und vierten Dienstag im Monat um 19:00 Uhr thematische Online-Touren (https://schirn.ticketfritz.de/Event/Kachel/fuehrungen-digital?wert=Promotion).  Tickets im Online-Shop.

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Profile

Die Schirn Kunsthalle Frankfurt wurde am 28. Februar 1986 feierlich eröffnet. Seitdem hat sie auf rund 2000 m² bislang rund 250 Ausstellungen präsentiert, die von mehr als 9,5 Millionen Besucherinnen und Besuchern gesehen wurden. Die Schirn ist nicht nur eine der angesehensten und profiliertesten Kunstinstitutionen Europas, sondern auch eine feste Größe im kulturellen Leben der Stadt Frankfurt – ein Ort der Begegnungen, an dem interessierte Bürgerinnen und Bürger, Förderer und Partner, junge oder etablierte Künstlerinnen und Künstler, engagierte Freunde sowie Menschen aus aller Welt zusammenkommen. Das Programm der Schirn richtet seinen Fokus auf kunst- und kulturhistorische Themen, Diskurse und Trends aus der Perspektive der unmittelbaren Gegenwart, mit dem Ziel, neue Sichtweisen zu eröffnen und tradierte Rezeptionsmuster aufzubrechen.

[Foto: Schirn Kunsthalle Frankfurt, Außenansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt 2020, Foto: Norbert Miguletz]

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