Die documenta 15 in Kassel schickt ihre Besucher auf ausgedehnte Streifzüge
Wer die documenta 15 einigermaßen vollständig erkunden will, braucht gute Kondition. Oder die Bereitschaft, den öffentlichen Nahverkehr exzessiv in Anspruch zu nehmen. Mehr als 30 Orte in Kassel bespielt die vor Tagen eröffnete Ausstellung. Ein Mammutprogramm. Neben den beiden traditionellen Hauptschauplätzen der documenta – dem Fridericianum mit vorgelagertem Friedrichsplatz und der documenta Halle – gibt es weitere sieben zentrale Spielorte: die Grimmwelt Kassel, das Hallenbad Ost, das Hübner Areal, das Museum für Sepulkralkultur, das Naturkundemuseum im Ottoneum, das sogenannte ruruHaus und das WH22 – letzteres, ein an der Werner-Hilpert-Straße 22 gelegenes Gebäude, war ursprünglich Firmensitz einer Weinhandlung, diente zwischenzeitlich als Quartier für Clubs und Bars und stand zuletzt leer.
ruangrupa, das indonesische Kuratoren-Kollektiv, das in diesem Jahr für die Weltkunstschau verantwortlich zeichnet, fühlte sich vom industriell geprägten Kasseler Osten besonders angezogen. Dort, im Stadtteil Bettenhausen, findet man Hübner Areal, Hallenbad Ost und WH22. Viel Neues also im Osten. Ohnehin ist diese documenta mit dem herkömmlichen Verständnis von Kunst kaum kompatibel. Die Idee vom schöpferisch gestalteten, womöglich einmaligen, allemal aber originären Werk spielt im Konzept von ruangrupa (das indonesische Wort bedeutet frei übersetzt „Kunstraum“ oder „Raumform“) nur eine Nebenrolle. „make friends, not art“, so lautet das Motto der fröhlichen Aktivisten, deren Organisation 2000 in Jakarta gegründet wurde. documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann sagt es klipp und klar: „Bei ruangrupa ist das Ziel nicht das Kunstwerk, sondern die Kooperation selbst.“
Nonchalant lassen die Co-Worker die Kunstgeschichte links liegen, um mit der d 15 jene Themen aufzugreifen, die ihnen wichtig sind und die mit Ästhetik nichts zu tun haben: Freundschaft, Teamwork, urbane Probleme, Nachhaltigkeit, Ökologie, gemeinschaftlicher Ressourcenaufbau, gerechte Verteilung der Güter dieser Welt, Barrierefreiheit – darum geht es vorderhand in Kassel. Eindrucksvolle Bilder, Skulpturen oder Installationen ergeben sich gleichsam als Nebenresultat. Oder auch nicht. Bei einem ersten documenta-Rundgang trifft man auf etliche Beispiele visueller Mittelmäßigkeit: Plakatives, simple Patchwork-Botschaften, Arbeiten, die wie Versatzstücke der Waldorfpädagogik daherkommen.
Das aktuelle „Museum der 100 Tage“, wie die 1955 von Arnold Bode ins Leben gerufene Ausstellung auch genannt wird, treibt eine Tendenz auf die Spitze, die sich seit der von Catherine David geleiteten documenta 10 (1997) beobachten lässt: Politische und gesellschaftliche Themen, Kunst, die dokumentiert, nicht imaginiert, sie drängten im vergangenen Vierteljahrhundert immer stärker in den Vordergrund; besonders gilt das für Okwui Enwezors d 11 (2002) und Adam Szymczyks d 14 (2017).
Eine Konsequenz dieser Politisierung ist die Antisemitismus-Debatte, mit der sich die documenta 15 seit Monaten konfrontiert sieht. Stets wiesen die Offiziellen sämtliche Vorwürfe hinsichtlich einer israelfeindlichen Haltung von ruangrupa kategorisch zurück. Doch kurz nach der Eröffnung gab ein Banner des Künstlerkollektivs Taring Padi auf dem Friedrichsplatz der Debatte neue Nahrung. Auf dem vielfigurigen Bild erkennt man unter anderem einen Mann, der eine Art „Judenhut“ mit SS-Runen trägt; der Dargestellte hat Schläfenlocken, blutunterlaufene Augen, spitze Zähne und eine gespaltene Zunge. Ein anderes Motiv zeigt einen Soldaten mit Schweinsgesicht, einem Halstuch mit einem Davidstern und einem Helm mit der Aufschrift „Mossad“ (der Name des israelischen Auslandsgeheimdienstes). Zwar betonten die indonesischen Künstler, dass diese Karikaturen „kulturspezifisch auf unsere Erfahrungen“ während der Militärdiktatur in ihrem Heimatland bezogen seien. Doch weitete sich der Protest derart aus, dass die documenta das Banner zunächst mit schwarzem Stoff verhüllte und schließlich abbaute – ganz zum Unverständnis der Künstler.
In der „Jüdischen Allgemeinen“ hatte Eugen El bereits vor der Eröffnung den Finger in die Wunde gelegt: „Israelische Teilnehmer der ‚documenta fifteen‘ sucht man vergebens“, schrieb er. „Dieser bereits vielfach kritisierte Umstand fügt sich in eine seit Jahren im avancierten zeitgenössischen Kunstbetrieb zu beobachtende Tendenz zum Antizionismus. Man könnte einwenden, die Herkunft der Künstler spiele keine Rolle, doch wird sie bei vielen anderen documenta-Teilnehmern offen benannt.“ Offenbar misst das ruangrupa-Team mit zweierlei Maß.
Zurück zum Kunstdiskurs: Das Kollektiv wirft nicht nur das im Westen seit der Moderne gültige Ideal der Avantgarde-Kunst über den Haufen; umgekrempelt wird gleich auch noch das Sprechen über Kunst. Damit der Besucher bei all den teils bizarren Wortschöpfungen nicht den Überblick verliert, bietet die Website der d 15 sogar ein eigenes Glossar mit Erklärungen (https://documenta-fifteen.de/glossar/). Wer bei indonesisch geprägten Wörtern wie „Ekosistem“, „Majelis“, „Meydan“ oder „Warung kopi“ nur Bahnhof versteht, sollte sich hier schlaumachen.
Die knapp 70 Künstler, Kollektive, Initiativen und Organisationen, die den Kern der Teilnehmer bilden, firmieren unter dem Label „lumbung-Künstler*innen“. Im Indonesischen bedeutet „lumbung“ eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune. Der Kunstschaffende, der als Solist im Atelier um inhaltliche Innovation und die ultimative Form ringt, gehört aus der Perspektive dieser documenta einer fernen Vergangenheit an. Die Kernkompetenzen der jetzt in Kassel aktiven „lumbung-Künstler*innen“ sind stattdessen „lokale Verankerung, Humor, Unabhängigkeit, Großzügigkeit, Transparenz, Genügsamkeit und Regeneration“, wie es in einem ruangrupa-Statement heißt.
Großzügig verhielten sich die zur documenta eingeladenen Künstler und Kollektive in der Tat: Sie luden rund 1500 weitere im Kunstfeld angesiedelte Personen in die Kasseler Reisscheune ein. De facto ist die Teilnehmerzahl der documenta fifteen (so die offizielle Bezeichnung dieser Ausgabe) also reif fürs Guinness-Buch der Rekorde. Auch das eine rigorose Abkehr vom einstigen Kurs solcher prestigeträchtiger Großausstellungen, die auf Abgrenzung setzten – Abgrenzung zwischen jenen Happy Few, die Karriere gemacht haben und auf dem Markt hohe Preise erzielen, und dem Gros der Kunstschaffenden, die durchs Raster des Kunstbetriebs fallen.
Geht man die Künstlerliste der d 15 durch, fallen nur wenige bekannte Namen ins Auge: Jimmie Durham etwa, 2016 mit dem Goslarer Kaiserring geehrt. Der im vergangenen Jahr verstorbene US-Künstler und Aktivist hatte seine documenta-Arbeit gemeinsam mit dem Kollektiv „A Stick in the Forest by the Side of the Road“ vorbereitet. Im Kasseler Architekturzentrum im Kulturbahnhof (KAZimKuBa) gerät der Beitrag, der aus Kunstwerken, Filmvorführungen, Gesprächen und Workshops besteht, nun zur Hommage an Durham.
Durch zahlreiche Ausstellungen (unter anderem in Aachen, Basel und Köln) hervorgetreten ist auch Dan Perjovschi. Mit seinen lakonischen Wandzeichnungen kommentiert er Ereignisse aus Politik und Gesellschaft. Der Rumäne ist zugleich Herausgeber der „Horizontalen Zeitung“, die er auf einer langen Wand „veröffentlicht“ und stetig aktualisiert. In Kassel hat Perjovschi die Säulen des Fridericianums in „Kolumnen“ verwandelt. So entstand eine Zeitschrift im Litfaßsäulen-Format, die sich den „lumbung“-Werten verschrieben hat.
Schließlich Richard Bell, der unter anderem 2019 an der Biennale von Venedig beteiligt war. Der Australier, 1953 geboren als Aborigine vom Stamm der Kamilaroi, setzt sich seit langem für die Rechte der Ureinwohner seines Heimatlandes ein. Bei der documenta zeigt der „Bad Boy of Aboriginal art“, wie er tituliert worden ist, an mehreren Orten Präsenz. Im Fridericianum sind seine farbkräftigen Protest- und Textbilder zu sehen. Davor, auf dem Friedrichsplatz, dient Bells Zeltskulptur „Aboriginal Embassy“ als Diskussionsort und temporäres Botschaftsgebäude der Aborigines in Kassel.
Es ist menschlich und naheliegend, bei einer solchen Mammutpräsentation nach solchen ‚Starkünstlern‘ Ausschau zu halten, nach Persönlichkeiten also, deren Werk vertraut ist und sich problemlos einordnen lässt. Bei der documenta 15 jedoch kommt man mit dieser Strategie nicht weit. Um mit und in dieser Ausstellung heimisch zu werden, sie vielleicht sogar zu genießen, muss man den Blickwinkel des auf Ehrfurcht getrimmten Betrachters verlassen und sich einmischen in das Gewimmel von Aktionen, Diskursen, Get-Together-Optionen, Workshops, Performances und, ja, Partys. Reisscheune statt Galerie und Museum, so lautet die ruangrupa-Philosophie, die potenziell jeden mitnehmen will beim idealistischen Aufbruch hin zu einer besseren Welt. Klingt ein bisschen wie „Jeder Mensch ist ein Künstler“. Joseph Beuys jedoch, Prototyp des charismatischen Künstlerindividuums, wäre ein Fremdkörper bei dieser documenta.
Auf einen Blick
Die wichtigsten Ausstellungsorte der documenta 15:
- documenta Halle, Du-Ry-Straße 1, 34117 Kassel
- Fridericianum, Friedrichsplatz 18, 34117 Kassel
- Grimmwelt Kassel, Weinbergstraße 21, 34117 Kassel
- Hallenbad Ost, Leipziger Straße 99, 34123 Kassel
- Hübner Areal, Agathofstraße 15, 34123 Kassel
- Museum für Sepulkralkultur, Weinbergstraße 25–27, 34117 Kassel
- Naturkundemuseum im Ottoneum, Steinweg 2, 34117 Kassel
- ruruHaus, Obere Königsstraße 43, 34117 Kassel
- WH22, Werner-Hilpert-Straße 22, 34117 Kassel
Dauer: bis 25. September 2022
Internet: https://documenta-fifteen.de/
Publikationen: Im Hatje Cantz Verlag erscheinen vier Publikationen in deutscher und englischer Sprache: ein Handbuch, ein Familien-Guide, ein Magazin sowie eine Anthologie literarischer Texte. Verlagslink: https://www.hatjecantz.de/documenta-fifteen-8304-0.html
Danke für diese Einordnung. Zwischendurch hatte ich nach dem Antisemitismus-Eklat kaum noch Lust, zur documenta15 zu fahren.