Die Kunst des Holzschnitts über vier Jahrhunderte
Der Holzschnitt ist seiner Natur nach sozusagen digital: Er kennt nur ja oder nein, schwarz oder weiß. Ohne die Möglichkeit zu Tonwertverläufen ist er die grafische Flächen- und Linienkunst schlechthin. Wegen seiner – vergleichsweise – einfachen Herstellung steht der Holzschnitt auch am Beginn der Entwicklung der Drucktechniken überhaupt: Seit dem frühen 15. Jahrhundert ist er nachweisbar. Aus einem hölzernen Druckstock entsteht ein Bild – nein, viele Bilder! Holzschnitt (und die druckgrafischen Techniken allesamt) sind Multiplikationsverfahren: Mit ihnen kann ein Bild gleich mehrfach erzeugt werden. Diese Qualität der Vervielfachung ist kulturhistorisch überaus folgenreich. Sie ermöglicht (verglichen mit dem Unikat des Gemäldes oder der Handzeichnung) niedrigere Preise und damit die rasante Verbreitung von Ideen und Inhalten; eine Art von Demokratisierung. In einer Doppelausstellung beschäftigen sich derzeit zwei Berliner Ausstellunghäuser mit dem Holzschnitt, seiner Geschichte und seinen Möglichkeiten: Einen großangelegten Überblick bietet „Holzschnitt 1400 bis heute“ im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen. Die assoziierte Sonderschau der Gemäldegalerie „Holzschnittartig? 23 Holzschnitte aus vier Jahrhunderten“ beleuchtet als Kooperationsprojekt mit Studierenden der technischen Universität Berlin weitere Aspekte.
Wie geht Holzschnitt?
Albrecht Dürers berühmtes Rhinozeros ist ein Holzschnitt ebenso wie seine nicht minder bekannten Apokalyptischen Reiter (1498). E.L. Kirchners Frauen am Potsdamer Platz (1914) sind in dieser Technik realisiert wie auch, um in unsere Zeit zu schauen, die abstrakten Kompositionen von Helen Frankenthaler oder die fotorealistischen Großformate eines Franz Gertsch. Holzschnitt kann, je nach Zeit und künstlerischem Konzept, ganz schön Verschiedenes sein … In jedem Fall aber ist festzuhalten, dass der Holzschnitt ein komplexes Handwerk ist, dessen Beherrschung unabdingbar ist, heute nicht anders als im 15. Jahrhundert. Wie funktioniert nun diese Technik? Was sind ihre spezifischen Möglichkeiten? Klarheit kann ein genauerer Blick auf das Verfahren bieten. Ganz in diesem Sinne übrigens ist „Holzschnitt 1400 bis heute“ nur der Auftakt einer Reihe von Ausstellungen des Kupferstichkabinetts, die jeweils eine künstlerische Drucktechnik vorstellen werden. Aber zurück zum Holzschnitt: Es handelt sich um ein Hochdruckverfahren (in der Art eines Stempels): Will sagen, der Abdruck auf das Papier stammt von den erhaben stehengebliebenen Partien einer ursprünglich zur Gänze planen Fläche. Am Anfang steht die Vorbereitung des block- oder brettförmigen künftigen Druckstocks. Im zweiten Schritt wird der Entwurf auf dessen glatte Fläche übertragen (oder direkt darauf gezeichnet). Dann wird das Holz mit schneidenden Werkzeugen wie dem flachen Stecheisen, dem Hohleisen oder dem Schnitzmesser in die Tiefe bearbeitet. Die resultierenden erhabenen Linien oder Flächen des fertigen Druckstocks werden mittels einer Walze mit Druckfarbe versehen, die auf ein aufgelegtes Papierblatt übertragen wird. Erleichtert wird dies durch ein Anreiben oder Anwalzen des Blattes von Hand von der Oberseite her (also der späteren Rückseite). Aber anders als bei den unter hohem Druck in einer Presse erstellten Abzügen des Tiefdrucks (Radierung, Kupferstich), gibt es beim Holzschnitt keine ausgeprägte Abzeichnung des Druckstockrandes im Papier. Der Abzug ist stets seitenverkehrt im Verhältnis zum ursprünglichen Entwurf. Das gilt natürlich auch bei allen anderen traditionellen Drucktechniken (erst der aus der Werbeindustrie kommende Siebdruck brachte seitenrichtige Abzüge). Nach jedem Abzug muss der Druckstock des Holzschnitts erneut manuell eingefärbt werden. Da das aber nie absolut identisch gelingt (Farbsättigung, -verteilung etc.), besitzt jeder Abzug eine gewisse Individualität.
In Farbe!
Der Einfachheit halber haben wir bislang nur an eine einzige Farbe gedacht, die klassische Druckerschwärze etwa. Der Holzschnitt kann aber selbstverständlich auch farbig, vor allem mehrfarbig ausgeführt sein. Jede Farbe benötigt dabei allerdings einen eigenen Druckstock, deren exakte Passung zueinander ziemlich trickreich sein kann. Die Mehrfarbigkeit kann plakativ, mit starken Kontrasten, eingesetzt werden, wie es etwa der Expressionist E.L. Kirchner bevorzugte. Oder ganz zurückhaltend: So wird Dürers Rhinozeros zunächst als monochrom schwarz erscheinen, erst die genauere Betrachtung zeigt einen zweiten, helleren Ton zur Verstärkung der räumlichen Wirkung. Das berühmte Blatt wurde in hoher Auflage gedruckt (vielleicht 5.000 Exemplare) und war ebenso Kunstwerk wie quasi tagesaktuelle Dokumentation eines sensationellen Ereignisses als Flugblatt. Man kann den Holzschnitt jener Zeit um 1500 allgemein als ein frühes Massenmedium ansehen. Der Übergang vom Künstlerischen zum Gebrauchsgrafischen ist fließend: Heiligenbilder als Andachtshilfe oder Kartenspiele stehen für viele Nutzungen. Die Reproduktion von Gemälden ist eine weitere wichtige Dimension: So konnten sich die neuen Bildideen der Renaissance weitaus schneller verbreiten, als es nur über den begrenzten Zugang zu Gemälden möglich gewesen wäre.
Besonders attraktiv für den Sammlermarkt waren Farbholzschnitte, die zunehmende Raffinements mitbrachten: Die bravourösen mehrfarbigen Chiaroscuro-Blätter aus dem Italien des 16. Jahrhunderts etwa. Im 19. Jahrhundert ging das Interesse der Künstler am Holzschnitt als eigenständigem Medium zurück, die technische Variante des Holzstichs wurde allein als Reproduktionsverfahren für Bücher und Zeitungen eingesetzt. Ab den 1860er-Jahren aber gelangten die exotisch wirkenden japanischen Farbholzschnitte nach Europa. Diese (seinerzeit arbeitsteilig im Verlagssystem erstellten) Blätter wurden zu gefragten Sammlerobjekten, gaben aber vor allem nachhaltige künstlerische Impulse im Sinne einer dekorativen Flächigkeit. Äußerst aufwendige Blätter, die zwanzig und mehr Druckstöcke erforderten, erreichten aquarellartige Wirkungen. Aus völlig anders gelagerten Gründen schätzten die deutschen Expressionisten der Jahrhundertwende den Holzschnitt: Statt auf Verfeinerung setzten sie bewusst auf eine gewisse Grobschlächtigkeit – „holzschnittartig“ gewissermaßen.
Sie schien geeignet, einer als überlebt empfundenen Welt der bürgerlichen Zivilisation die Qualitäten des Urtümlichen, ja Archaischen entgegenzusetzen. Dass da der Schnitt gegen die Faser das Holz aufreißen ließ und eine entsprechend ausgefranste Druckkante ergab, das war kein Fehler, im Gegenteil: So wurde die intendierte Aussage verstärkt. Ein anderes Beispiel für einen produktiv genutzten „Fehler“ ist bei Edvard Munch zu finden: Sein Kuss (1902) nutzt die ausgeprägte Brettstruktur (inklusive Astloch) des hölzernen Druckstocks zur grafischen Belebung der gedruckten Fläche.
Heute kann man – hochinteressant im Zeitalter der digitalen Medien und ihrer Möglichkeit der grenzenlosen Multiplikation und Bearbeitung des Bildes! – geradezu von einer neuen Blüte des alten Mediums Holzschnitt sprechen. Die ganzen, im Laufe der über vierhundert Jahre entwickelten Möglichkeiten stehen zur Verfügung. Hinzu aber sind neuartige Kombinationen mit den modernen Techniken gekommen, wenn ein Holzschnitt sich etwa der Zeilenstruktur des Fernsehbildes bedient. In später Dürer-Nachfolge konfrontieren uns die monumentalen Rasenstücke von Franz Gertsch mit der Natur so nahsichtig, dass sich ihre letztendliche Fremdheit (und wohl auch Unbeherrschbarkeit …) zur wirkmächtigen Metapher verdichtet.
Auf einen Blick
Ausstellungen:
Bis 11. September 2022: Holzschnitt. 1400 bis heute
Bis 2. Oktober: Holzschnittartig? 23 Holzschnitte aus vier Jahrhunderten
Ort:
Kulturforum
Kupferstichkabinett / Gemäldegalerie, Matthäikirchplatz, 10785 Berlin
Internet: www.smb.museum