Die Bonner Ausstellung „Verwandlung der Welt“ feiert Goethe als universales Phänomen.
Viele Städte dürfen sich rühmen, dass Johann Wolfgang von Goethe sie mit seiner Anwesenheit beehrt hat. Drei Mal – 1774, 1792 und 1815 – weilte der Dichter, Staatsmann und Naturforscher auch in Bonn. So könnte die dortige Bundeskunsthalle für ihre aktuelle Goethe-Ausstellung „Verwandlung der Welt“ gut und gern einen ortsspezifischen Bezug ins Feld führen. Dass Johanna Adam, Ausstellungsleiterin der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (so lautet der vollständige Name), diese lokalkoloristische Note nicht eigens betont, hat vielleicht damit zu tun, dass Goethe ein universales Phänomen war (und ist). Wo soll man beginnen, wo enden bei dieser Koryphäe der Kunst und der Wissenschaft?
Die Ausstellung, konzipiert gemeinsam mit der Klassik Stiftung Weimar, unternimmt den Versuch, das – potenziell uferlose – faustische Streben Goethes in neun Kapitel zu untergliedern und mit rund 250 Exponaten dingfest zu machen. Als Grundgerüst dient dabei, ganz klassisch, die Biografie. In diesem Fall nicht die Art von Stoff, die man auf die Schnelle konsumieren könnte. Zwischen den Eckpunkten 1749, dem Geburtsjahr, und Goethes Tod im Jahr 1832 drängt sich eine Überfülle von Ereignissen und Ideen in die Wahrnehmung des Besuchers: Da ist die Sturm-und-Drang-Periode des jungen Dichters, gipfelnd 1774 im Bestseller-Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“. Völlig im Gegensatz dazu die staatsmännische Existenz in Weimar, Hauptstadt des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach. 1786–1788 die Italienische Reise, die Goethe endgültig zum Gefolgsmann der Antike machte – seine spätere Ignoranz gegenüber der gefühlsbetonten Romantik fußt auf dem klassizistischen Dogma, das damals seine Grundlegung erfuhr.
Kurz darauf, 1789, der Schock der Französischen Revolution, die das Weltbild des behutsamen Reformers erschütterte. Nicht zu vergessen die literarisch ungemein fruchtbare Freundschaft mit Friedrich Schiller, der schon 1805 starb, 27 Jahre vor Goethe. In Weimar sind sie per Doppeldenkmal verewigt; in Bonn zeugt unter anderem Schillers Brief an Goethe mit der Einladung zur Mitarbeit an der Literaturzeitschrift „Die Horen“ vom Teamwork der beiden Genies. 1808 dann die Begegnung mit Napoleon – „einer der produktivsten Menschen, die je gelebt haben“, so Goethe über den revolutionären Diktator und Kaiser der Franzosen. Bonn verknüpft eine Kopie von Jacques-Louis Davids Helden-Huldigung „Bonaparte überquert den Großen St. Bernhard“ (um 1810) mit Heinrich Christoph Kolbes majestätischem Bild „Goethe am Golf von Neapel“ (1826). Die Botschaft ist klar: Zwei große Geister, zwei Herrscher in je verschiedenen Reichen geben sich ein Stelldichein.
Damit ist die Materialvielfalt der Ausstellung längst nicht erschöpft. Ohnehin lässt sich dieses „Kunstwerk des Lebens“ (so der Untertitel von Rüdiger Safranskis Goethe-Biografie) nicht bis in den letzten Winkel ausleuchten. Doch die Bonner Schau, die auch Goethes Wirkungsgeschichte einbindet, vermittelt allemal einen soliden Gesamteindruck. Sie holt den „Dichterfürsten“ vom Sockel, sie animiert zu einer Zeitreise ins späte 18. und frühe 19. Jahrhundert. Und sie sprengt die Dimensionen einer bloßen ‚Literatur‘-Ausstellung, die sich mit der textlichen Überlieferung und dem Dokumentarischen begnügt. Anders in der Bundeskunsthalle, wo es ebenso viel zu sehen wie zu lesen gibt. Die Liste der Künstler, die mit Werken in der Ausstellung vertreten sind, reicht von Daniel Nikolaus Chodowiecki, Angelika Kauffmann und Johann Heinrich Wilhelm Tischbein über Caspar David Friedrich, William Turner und Ernst Rietschel bis zu Olafur Eliasson, Asta Gröting, Barbara Klemm, Cy Twombly und Andy Warhol. Und wer nach dem Rundgang noch Energie für einen botanischen Exkurs hat, der steige unbedingt aufs Dach der Bundeskunsthalle: Dort sorgen „Goethes Gärten“ für ein naturverbundenes Erlebnis. Die Bonner Dachflora vereint zentrale Motive aus den beiden Gärten des Dichters: dem Garten am Stern neben seinem Gartenhaus und dem Hausgarten am Weimarer Frauenplan, wo Goethe seit 1792 lebte.
Gelungen die Idee der Kuratoren, den Titel ihrer Schau „Verwandlung der Welt“, gleich zu Beginn des Parcours zur Anschauung zu bringen. Dort begegnet der Besucher einer Kutsche – zu Goethes Zeit unverzichtbares Hilfsmittel für jeden, der die Welt kennenlernen wollte. Im Innenhof von Goethes Weimarer Haus am Frauenplan kann man noch heute ein solch historisches Gefährt besichtigen. Bonn jedoch wartet nicht mit einer Pferdekutsche auf, sondern mit einem Kunstwerk, geschaffen von Asta Gröting. Die Berliner Künstlerin greift in ihrer Installation, die den Anschein erweckt, sie sei halb im Boden versunken, lediglich auf den Unterbau der Karosserie zurück; zudem hat sie den Kutschenboden umgedreht, somit den Blick auf das Stangenwerk freigebend, das es erst ermöglicht, mit diesem Transportmittel jede beliebige Richtung einzuschlagen. „Vergleichbares“, schreibt Thorsten Valk, Referatsleiter für Forschung und Bildung der Klassik Stiftung Weimar im Katalog, „strebt auch die Goethe-Ausstellung des Jahres 2019 an: Sie legt die zumeist verdeckten Ursachen und Folgen jener Veränderungsdynamik frei, die einerseits Goethes künstlerische Biografie bestimmt hat und andererseits unseren immer wieder neuen Umgang mit ihr prägt.“
Mit dem Werther schuf Goethe einen Popstar und eine Mode-Ikone. Die Kleidung des heißblütigen Rechtspraktikanten – blauer Tuchfrack, gelbe Weste, Kniehosen aus gelbem Leder, Stulpenstiefel und ein grauer Filzhut – wurde von den Zeitgenossen eifrig imitiert. Das sogenannte Werther-Porzellan, von dem die Bonner Ausstellung einige Stücke zeigt, legt davon Zeugnis ab. Kein Zweifel: Werther war Kult im ausgehenden 18. Jahrhundert – dass sein Selbstmord allerdings eine regelrechte Suizidwelle aufgrund verschmähter Liebe auslöste, wie immer wieder zu lesen, verweist der Katalog ins Reich der Legende. Weil der lebenspralle Roman mit anrührenden anekdotischen Details nicht geizt, bot sich den Künstlern eine Fundgrube für allerlei Genreszenen – Ferdinand Raabs Darstellung „Lotte schneidet das Brot für ihre Geschwister“ (um 1865) ist dafür ein typisches Beispiel. Die Grenze zum Kitsch verläuft hier fließend. Das demonstriert eine weitere Werther-Devotionalie, die der Düsseldorfer Künstler Johann Peter Hasenclever 1846/47 malte: Sein rührseliges Bild „Die Sentimentale“ zeigt eine leichtbekleidete Leserin des Briefromans, die von der Lektüre abgelassen hat, um den Mond anzuschmachten.
Dem Land, wo die Zitronen blühen, widmet die Bonner Goethe-Hommage breiten Raum. Mit Recht, denn die Reise nach Italien, die der 37-jährige Geheime Rat inkognito unternahm (getarnt als Maler Philipp Möller), bedeutete einen enormen Kreativitätsschub. Zum einen kam Goethes dichterische Produktivität, die durch die Aufgaben am Weimarer Hof geblockt worden war, wieder in Schwung. Zum anderen konnte er nun die kanonischen Kunstwerke der Antike und der Renaissance, die im 18. Jahrhundert jedem Gebildeten aus Reisebeschreibungen und Illustrationen geläufig waren, endlich mit eigenen Augen sehen. Nicht zuletzt markiert der Aufenthalt in Rom, wo ihm der Maler Johann Heinrich Wilhelm Tischbein in seiner Wohnung am Corso Quartier gewährte, die letzte (gemäßigt) anarchistische Phase in Goethes Leben. Danach erstarrte er zunehmend zum fleischgewordenen Regelwerk. Mehrere Zeichnungen der Ausstellung präsentieren ihn dagegen betont leger inmitten seines römischen Freundeskreises. Nicht fehlen dürfen in einer Goethe-Ausstellung zeitgenössische Ansichten jener Sehenswürdigkeiten, die ein Kunstliebhaber in Italien unbedingt aufsuchen musste, beispielsweise das Kolosseum, das Forum Romanum und die Cestius-Pyramide in Rom oder den Tempel der Hera in Paestum – Goethe besuchte die Ruinenstätte in der Region Kampanien am 23. März 1787.
Tischbeins berühmtes Goethe-Porträt, das im Frankfurter Städel Museum hängt, fehlt leider in der Ausstellung der Bundeskunsthalle. Ersetzt wird es durch eine Kopie von Georgi Takev und durch Andy Warhols Interpretation – der Pop-Artist griff das Motiv 1982 auf. Vier Jahre zuvor berief sich der Amerikaner Cy Twombly (ebenfalls ein Rom-Enthusiast) in seinem Gemäldezyklus „Goethe in Italy“ auf den Reisebericht, der 1815 und 1816 in zwei Bänden erschien. Die abstrakt-expressiven Bilder Twomblys sind durchsetzt mit nahezu unlesbaren Schriftelementen, die auf Goethes Werke verweisen.
Höchstes Ansehen und europaweite Popularität erlangte Goethe durch den Werther, den Faust, Wilhelm Meisters Lehrjahre oder die Wahlverwandtschaften. Er selbst aber war weit stolzer auf seine Forschungen über das Wesen der Farbe. Sein Buch „Zur Farbenlehre“, erschienen 1810 und mit zahlreichen kolorierten Tafeln ausgestattet, hat er sogar gegen Ende seines Lebens als sein einzig wirklich großes Werk angesehen. Die Fachwelt dachte anders. Goethes Polemik gegen Isaac Newtons fundierte Theorie des Lichtes stieß weitgehend auf Unverständnis. Hatte Newton experimentell belegt, dass sich das weiße Licht aus farbigen Lichtern zusammensetzt, so versuchte Goethe das Gegenteil zu erweisen: Das weiße Licht, beharrte er, sei nichts Zusammengesetztes. Farben entspringen allein der Wechselwirkung von Licht und Finsternis, das war seine feste Überzeugung.
So gering die Geltung von Goethes „Farbenlehre“ in der Welt der Wissenschaft, so bedeutsam der Einfluss auf die Künstler. Das gilt vor allem für die Klassische Moderne. Mit der Neuedition der „Farbenlehre“ durch Rudolf Steiner rückte Goethes Theorie im frühen 20. Jahrhundert ins Blickfeld der Avantgarde. Die Ausstellung in Bonn veranschaulicht mit zahlreichen Beispielen, welch eine fruchtbare Liaison auf diese Weise zustande kam. Josef Albers, Adolf Hölzel, Wassily Kandinsky, Paul Klee und Piet Mondrian – sie alle befassten sich mit Goethes „Farbenlehre“ und erfuhren dadurch Inspiration für ihre Kunst. Steiners Weiterentwicklung von Goethes Auffassungen zielte besonders ab auf die „sinnlich-sittlichen Wirkungen der Farben, die er zu einer regelrechten Farb-Mystik ausbaute“ (so Sophie Borges im Katalog). Schwer vorstellbar, dass Goethe diese Sicht geteilt hätte. Mit Esoterik hatte der Vernunftmensch ebenso wenig am Hut wie mit den schwärmerischen „Herzensergießungen“ der Romantiker.
Auf einen Blick
Ausstellungen
Bis 15. September 2019: „Goethe. Verwandlung der Welt“. „Goethes Gärten. Grüne Welten auf dem Dach der Bundeskunsthalle“
Öffnungszeiten
Dienstag und Mittwoch, 10:00–21:00 Uhr
Donnerstag bis Sonntag, 10:00–19:00 Uhr
Katalog
Goethe. Verwandlung der Welt. Herausgegeben von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland und der Klassik Stiftung Weimar, Pappband, 304 Seiten, 250 Farbabbildungen, Prestel Verlag, ISBN 9783791358925
Kontakt
Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Bundeskunsthalle), Friedrich-Ebert-Allee 4, 53113 Bonn
Internet: www.bundeskunsthalle.de
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