Ausstellung

Draußen im Museum

„Mehr Licht. Die Befreiung der Natur“: Der Kunstpalast in Düsseldorf widmet den Ölstudien des 19. Jahrhunderts eine Ausstellung

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts griffen immer mehr Landschaftsmaler, die direkt vor dem Motiv arbeiten wollten, zur Ölstudie. Teils dienten die farbigen Skizzen, im kleinen Format rasch aufs Papier gebracht, der Gemäldevorbereitung. Ihren eigentlichen Charme entfalteten diese Blätter jedoch als autonome, gleichsam private Momentaufnahmen, die keinem anderen Zweck dienten als der Lust an der Malerei. Eine Ausstellung im Düsseldorfer Kunstpalast vereint rund 170 Ölstudien von circa 75 Künstlern. Die Schau, die im Sommer in die Lübecker Kunsthalle St. Annen wandert, demonstriert, dass das 19. Jahrhundert wesentliche stilistische Errungenschaften der Moderne vorweggenommen hat.

Nicht bloß draußen zu zeichnen und drinnen zu vollenden, sondern sein Atelier im Freien aufzuschlagen, das machte für Landschaftsmaler schon immer Sinn. Doch erwies sich das Arbeiten in freier Natur als unpraktisch, solange man eine ganze Palette von Utensilien mitführen musste. Die Ölstudie, perfektioniert seit 1790 von französischen Malern, die in Italien vornehmlich Veduten schufen, minderte dieses Dilemma. Sie beseitigte es aber nicht. Zwar konnten Wegbereiter der Freilichtmalerei wie Pierre-Henri de Valenciennes oder Simon Denis auf Staffelei und Leinwand verzichten, weil sie ihre Ölskizzen im kleinen Format auf Papier anfertigten. Gleichwohl hatten diese Pioniere noch reichlich Gepäck an Bord.

Darüber spottete der Dresdner Künstler Ludwig Richter, der von 1823 bis 1826 in Rom lebte und sich bei seinen Landschaftsstudien mit dem Bleistift begnügte. Die klobigen Malkästen der französischen Pleinairisten erinnerten ihn an Haustüren. Für ihre Ölstudien benötigten sie, versicherte Richter, „ungeheure Quantitäten von Farbe“. Ein Urteil, das stark übertrieben anmutet. Wie auch immer – 1841 erlangte der amerikanische Maler John Goffe Rand ein Patent für die Farbtube, was der Ölstudie gehörigen Aufschwung bescherte. Denn dadurch entfiel für die Freilichtmaler die Mühsal, ihre Farben im Atelier selbst anzurühren und in Schweinsblasen mitzuführen. Mit seiner Ausstellung „Mehr Licht. Die Befreiung der Natur“ will der Düsseldorfer Kunstpalast vor Augen führen, dass die Ölstudie das Avantgarde-Medium des 19. Jahrhunderts schlechthin ist. Rund 170 Exponate von circa 75 Künstlern hat der Kurator Florian Illies ausgewählt.

Im Museum auf Tuchfühlung mit Mutter Grün gehen, das ermöglicht diese bildschöne Ausstellung – im kammermusikalischen Medium der Ölstudie offenbart sich uns die Symphonie der Natur. Wir begegnen Wolken und Wellen, dem tosenden Meer und friedlich dahinplätschernden Bächen, Bäumen und Gestrüpp, Wäldern und Feldern, Idyllen und finster dräuenden Landschaften, Panoramen und Nahaufnahmen.

Zu jenen, die in der Ölstudie ein probates Mittel sahen, um ein Stück Natur schnell und authentisch einzufangen, gehörten Vertreter der Düsseldorfer Malerschule – Johann Wilhelm Schirmer oder Andreas und Oswald Achenbach sind hier hervorzuheben – ebenso wie Carl Blechen, Arnold Böcklin, Camille Corot und Caspar David Friedrich. Neben diesen Berühmtheiten des 19. Jahrhunderts kommen am Ehrenhof aber auch Landschaftsspezialisten zur Geltung, die sonst wenig Aufmerksamkeit erfahren, beispielsweise Rosa Bonheur, Johan Christian Clausen Dahl oder Carl Hummel. Bonheur, eine französische Tiermalerin, ist die einzige Frau, die auf der Künstlerliste steht. Offenbar waren Ölstudien im 19. Jahrhundert Männersache – wie so vieles andere auch.

Die Werke, die im Anschluss in der Lübecker Kunsthalle St. Annen gezeigt werden, verblüffen durch ihre Modernität. Weil es sich um private Fingerübungen handelt, weshalb eine Signatur in der Regel fehlt, konnten die Maler legerer zu Werk gehen als bei ihren herkömmlichen Aufträgen, die um Geschichte, Mythologie und Religion kreisten. Spontaneität, Unmittelbarkeit, Beobachtungsgabe, skizzenhafter Duktus, Mut zur Lücke, vor allem aber hellwache Aufmerksamkeit für Licht und Atmosphäre – all diese Eigenschaften kennzeichnen die Ölstudie und weisen voraus auf den Impressionismus. Florian Illies und seine Co-Kuratorin Anna Christina Schütz, am Kunstpalast für die Grafische Sammlung zuständig, präsentieren diese Juwelen der Malerei in neun Sektionen. Dabei orientieren sie sich an der sogenannten Petersburger Hängung, also an einem dichten Arrangement vieler Werke. Illies, einer der besten Kenner der Ölstudie: „So sah es beim Künstler auch im Atelier aus. Er hatte diese Studien rund um sich hängen, rund um sich stehen.“ Und so „sieht es auch bei manchen Ölstudien-Sammlern zu Hause aus“.

Übrigens ist der Kunsthistoriker und Bestseller-Autor selbst einer, tritt bei der Ausstellung jedoch nicht als Leihgeber in Erscheinung. Die Ölstudie fasziniert den 1971 Geborenen seit Jahrzehnten. Mit dem kleinen, aber exquisiten Kreis von „Ölstudien-Besessenen“ verkehrt er auf vertrautem Fuß. Die in Düsseldorf zu sehenden Werke kommen zum einen aus drei Museen – dem Kunstpalast selbst, den Lübecker Museen und der Fondation Custodia in Paris; zum anderen trennten sich drei Privatsammlungen aus Rom, Paris und der Schweiz vorübergehend von ihren Schätzen. „Wir durften aus diesen Beständen wählen“, erinnert sich der Ausstellungsmacher: „Eine wunderbare Chance, zugleich eine unendliche Fülle“.

Davon kann man sich beim Rundgang durch die Ausstellung selbst überzeugen. Eröffnet wird sie durch eine ganze Serie wundervoller Wolkenstudien des Schweizer Künstlers Johann Jakob Frey. Sie bezeugen „Das Flüchtige: Die Magie des Augenblicks“ (so der Titel der Sektion) ebenso vortrefflich wie die von einem hohen Himmel beherrschten nordischen Landschaften des Lübecker Malers Johann Wilhelm Cordes. Derweil haben Théodore Gudin, Andreas Achenbach und Heinrich Reinhold die Magie des tosenden Aufs und Abs der Wellen in ihren Blättern eingefangen.

Im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert war Italien, seit der Renaissance in den kulturellen Blickpunkt gerückt, für die meisten Künstler nach wie vor das Nonplusultra. Demzufolge auch das Mutterland der Ölstudie – davon handelt der Abschnitt „Im Land des Lichts: Die italienische Erleuchtung“. Zugleich gab es hierzulande immer mehr Landschaftsmaler, die sich vom und vor Ort ein Bild machen wollten. Die zweite Sektion „Draußen vor der Tür: Heimaterkundung in Öl“ schildert, wie die Künstler das vermeintlich Vertraute auf ihren Streifzügen neu entdeckten – und mit zuvor unüblicher Eindringlichkeit festhielten: Johann Georg von Dillis erkundete die Parks und das Umland Münchens. Carl Blechen wurde in Berlin und Brandenburg fündig. Und die Schüler der Düsseldorfer Kunstakademie – um 1830 Vorreiter, was den Einsatz der Ölstudie in der Lehre angeht – sondierten die ländliche Umgebung entlang des Rheins bis ins Bergische Land. Welche Ausrüstung sie dabei benötigten, davon vermittelt eine Vitrine in der Ausstellung einen Eindruck: Neben Farben und Malkasten führten sie eine Sitzgelegenheit und einen Sonnenschirm mit sich; manche nahmen sogar eine kleine Staffelei mit.

Weitere Bereichen der Ausstellung behandeln beispielsweise das Licht als Leitmotiv der Ölstudien („Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang“) oder das Non-finito, das Maler wie Wilhelm Leibl, Wolfgang Adam Toepffer oder Johann Martin von Rohden als Kunstgriff einsetzten („Unvollendet: Ein neues Bild entsteht“). Kam die Ölstudie in erster Linie bei Landschaften zum Einsatz, so war sie nicht darauf beschränkt. Fündig wurde Illies auch auf dem Feld der Interieur-Malerei. Darum geht es in der Sektion „Die Poetik des Raumes: Die Außenwelt der Innenwelt“. Interieur bedeutet in diesem Fall nicht nur Zimmer in einem Gebäude – auch Höhlen, Felsgrotten, Kellergewölbe oder die Katakomben des römischen Kolosseums wurden zum Gegenstand von Ölstudien.

Stichwort Interieur: Obwohl Das Atelierfenster, das der Dresdner Romantiker Carl Gustav Carus 1823/1824 malte, in diese Rubrik passen würde, hat Florian Illies es in eine andere, eine ungewöhnliche Kategorie eingereiht: „Nichts zu sehen: Das aussichtslose 19. Jahrhundert“ versammelt Beispiele, in denen die Idee vom Bild als Fenster zur Welt durchkreuzt wird. So wie bei der Atelierszene von Carus – den Blick durchs Fenster blockiert eine Leinwand, die uns obendrein den Rücken zukehrt. So versperrt der Künstler unserer Wahrnehmung in zweifacher Hinsicht den Weg. „Wir sehen, dass wir nichts sehen“, schreibt Illies im Katalog, „und – so der Clou – konzentrieren uns auf diese Weise umso mehr auf die Kunstfertigkeit des Künstlers.“ Und vielleicht auch, so darf man ergänzen, auf unsere eigene Vorstellungskraft. „Mancher betrachtet Gemälde am liebsten mit verschlossenen Augen, damit die Fantasie nicht gestört werde“, bemerkte August Wilhelm Schlegel 1798. Von dieser Strategie ist beim Besuch der Ausstellung im Kunstpalast unbedingt abzuraten. Offene Augen, sie bringen hier die Fantasie garantiert auf Trab.

Auf einen Blick

Ausstellung: Mehr Licht. Die Befreiung der Natur

Ort: Kunstpalast, Ehrenhof 4–5, 40479 Düsseldorf

Dauer: bis 7. Mai 2023

Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag 11.00 bis 18.00 Uhr, Donnerstag 11.00 bis 21.00 Uhr

Internet: https://www.kunstpalast.de/de/museum/ausstellung/aktuell/mehrlicht

Vom 14. Juli bis 15. Oktober 2023 in der Kunsthalle St. Annen, Lübeck, St.-Annen-Straße 15, 23552 Lübeck, www.kunsthalle-st-annen.de

Der Katalog ist im Sandstein Verlag, Dresden, erschienen und enthält Beiträge von Alexander Bastek, Florian Illies, Jana Kunst, Anna Schütz und Peter Sloterdijk, Festeinband, 208 S. m. 180 farb. Abb., 28,5 x 23,5 cm, ISBN 9783954987252

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Das im Jahre 2001 von Oswald Matthias Ungers neugestaltete Museum Kunstpalast liegt im Zentrum von Düsseldorf, direkt am Rhein. Mit der Neueröffnung des Museum Kunstpalast im September 2001 wurden das Kunstmuseum und der Kunstpalast zusammengeschlossen und in eine Stiftung überführt. Mit hochkarätigen Ausstellungen wie Joan Miró, Dalí, Warhol, Caravaggio, Bonjour Russland, Zerbrechliche Schönheit, Diana und Actaeon und Per Kirkeby hat sich das Museum einen internationalen Ruf erarbeitet. Die im Museum Kunstpalast beheimateten Sammlungen umfassen heute mehr als 100.000 Gemälde, Skulpturen, Zeichnungen, Grafiken, Fotografien, kunstgewerbliche Exponate und Glasobjekte.

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