Ausstellung

Die Kraft des Staunens

Der Neue Materialismus in der Gegenwartskunst

Mit der Ausstellung Die Kraft des Staunens / The Power of Wonder widmet sich das Museum unter Tage einer neuen Auffassung in der Bildenden Kunst und den Wissenschaften. Sie betrachtet Materialien nicht mehr als leblose, passive Dinge, sondern betont ihre aktive Gestaltungsmacht.

Die Schau spielt mit dem Gedanken des Dramas und versteht das Museum als Bühne, denn sie fragt nach der aktiven Handlungsmacht von Materialien, wie sie seit etwa zwanzig Jahren in den meisten wissenschaftlichen Disziplinen diskutiert wird. Der Ethnologe Hans Peter Hahn hat für diese Kraft den treffenden Ausdruck vom »Eigensinn der Dinge« gefunden. Die Kunstwerke stehen also nicht nur passiv im Ausstellungsraum herum und wollen lediglich kontemplativ betrachtet werden, sondern sie verfügen über gestaltende Kräfte. Sie füllen die Bühne aus und sind aktive Gesprächspartner*innen bei der Verhandlung der Zukunft dieser Welt.

Objekte führen eine vom Menschen unabhängige Existenz. Sie verfügen über individuelle Fähigkeiten, bilden Formen und treffen eigene Entscheidungen. Während der Mensch im jüngsten Erdzeitalter, dem Anthropozän, die Atmosphäre und damit das Klima, die Geologie und die Biologie folgenschwer beeinflusst hat, sind auf lange Sicht die Materialien die entscheidenden Akteure. Die Kraft des Staunens ist in enger Zusammenarbeit mit den Künstler*innen Ilana Halperin, Agata Ingarden, David Jablonowski, Markus Karstieß, SUPERFLEX und der Holt/SmithsonFoundation, Santa Fe/USA, entstanden. Zahlreiche Werke wurden extra für diese Ausstellung entwickelt. Insgesamt 26 Skulpturen, Installationen, Aquarelle, Textilarbeiten, Digital- und 3D-Drucke sowie der aufwändig produzierte Film Western Rampart von SUPERFLEX belegen den großen Spielraum, über den das Material verfügt.

Die aktive Handlungsmacht des Materials

Das Werk von Robert Smithson (1938 Passaic, New Jersey–1973 Texas), der sich in den Jahren 1968/69 immer wieder im Ruhrgebiet und dem Rheinland aufgehalten und hier gearbeitet hat, bildet den historischen Ausgangspunkt: Sein Verständnis für Geologie und Naturgeschichte als Partner von Kunst und Kultur hat die Kunstgeschichte verändert und die Künstler*innen dieser Ausstellung stark beeinflusst. Die Werke in der Ausstellung sind in einer gemeinsamen Autorschaft der beteiligten Künstler*innen mit Materialien wie Gesteinen, Ton, Gewürzen oder Pilzen entstanden. „Die in solchen Prozessen gefundenen künstlerischen Lösungen können idealerweise ein innovatives Potential entwickeln, das über die Ko-Autorschaft hinaus auch Möglichkeiten der weiteren Ko-Existenz von Natur und Kultur aufzeigt“, schreibt Markus Heinzelmann in seinem Beitrag zum Katalog. „Ganz sicher ist dafür das Zurücktreten des Menschen aus der Mitte der weltlichen Realität notwendig.“

Ilana Halperin hat alte Terrakotten von der schottischen Isle of Bute geborgen, die von dem kalkhaltigen Quellwasser der Fontaines Pétrifiantes in der Auvergne mit einer festen weißen Kruste überzogen wurden. Die neuartigen Objekte wurden von den gestaltenden Kräften des Wassers und der Künstlerin gemeinsam erschaffen. Markus Karstieß nutzt die alte Technik des Lüsterbrandes für die Glasuren seiner Keramiken, bei dem die Entscheidung über das Ergebnis beim Material und nicht beim Künstler liegt. Agata Ingarden verwendet für ihre raumgreifenden Skulpturen unter anderem karamellisierten Zucker, der bei bestimmten Temperaturen beginnt, sich zu verflüssigen und den umgebenden Raum zu erobern. David Jablonowski hat aus einem Steinbruch in der Nähe von Bochum Jahrmillionen alten Sandstein ausgewählt und mit 3D-Drucken aus der Hochtechnologie verschnitten. Und das dänische Künstlerkollektiv SUPERFLEX zeigt einen 15-minütigen Film, in dem eine militärische Befestigungsanlage aus dem späten 19. Jahrhundert und ein menschengroßer Fliegenpilz darüber streiten, wer von Beiden den erwarteten letzten Krieg gewinnen wird.

 

Nach einem Gang durch die Ausstellung weiß man: Es wird nicht das bröckelnde Relikt menschlicher Zivilisation sein, sondern der vitale Pilz. Gleichzeitig rekonstruiert die Ausstellung das Werk von Robert Smithson, das dieser in den Jahren 1968/69 im Rheinland und im Ruhrgebiet geschaffen hat. Die dem Werk von Smithson eng verbundene Kunsthistorikerin Eva Schmidt hat für den Katalog einen detaillierten Forschungsbericht über dessen Arbeit mit Kompost, abgestorbenen Bäumen und Spiegeln in der Region verfasst. Im Mittelpunkt der Ausstellung steht die ikonische Arbeit Indoor Mirror Displacement (Tree from Langenfeld, Germany) aus dem Jahr 1969, die extrem selten, zuletzt 2015 auf der 56. Biennale di Venezia, realisiert worden ist.

 


Auf einen Blick

DIE KRAFT DES STAUNENS. Der Neue Materialismus in der Gegenwartskunst

Bis 9. Oktober 2022

Museum unter Tage/Situation Kunst (für Max Imdahl)

Nevelstraße 29c (im Parkgelände von Haus Weitmar)

44795 Bochum | T +49 234 2988901 | www.situation-kunst.de

Öffnungszeiten Mi–Fr 14–18 Uhr Sa, So, Feiertage 12–18 Uhr

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog (deutsch/englisch) im Verlag DCV, ISBN 978-3-96912-082-8, 176 S., 34 Euro im Buchhandel, 29 Euro an der Museumskasse.

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