Ausstellung

Der in kein Raster passt

Ausstellungen in Düsseldorf, Regensburg und Karlsruhe würdigen das experimentierfreudige Werk von Sigmar Polke.

„When too perfect lieber Gott böse“: Die vielzitierte Warnung des Künstlers Nam June Paik, es mit dem Streben nach Vollkommenheit nicht zu übertreiben, könnte auch von Sigmar Polke stammen: Der Künstler (1941–2010), dessen 80. Geburtstag im vergangenen und in diesem Jahr Anlass für mehrere Ausstellungen war und ist, empfand eine Abneigung gegen Perfektion – präziser formuliert: gegen perfekte Bilder. Das Ausbalancierte und Makellose weckte seinen Widerspruch. Polkes Gegenmittel: die Bildstörung. Übertragungsfehler, Qualitätsverluste, Manipulationen, Mehrfachbelichtungen oder Druckfehler begriff er als Steilvorlage für seine Kunst, in der das kreative Potenzial des Zufalls fröhliche Urständ feiert.

Die Kölner Anna Polke-Stiftung, ins Leben gerufen von der Tochter des Künstlers, organisierte im vergangenen Jahr ein Jubiläumsprogramm zum 80. Geburtstag; im Mittelpunkt eine noch bis Anfang März laufende Ausstellung in der Kunsthalle Düsseldorf, die unter dem Motto „Produktive Bildstörung. Sigmar Polke und aktuelle künstlerische Positionen“ Werke des Malers und Fotografen mit Arbeiten von acht wahlverwandten jüngeren Künstlern in einen Dialog bringt. Mit der gemeinschaftlich organisierten Ausstellung „Sigmar Polke – Dualismen“ beteiligen sich zudem das Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg und die Städtische Galerie Karlsruhe an der Gratulationscour.

„Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“, der Titel des Theaterstücks von Christian Dietrich Grabbe liest sich wie eine Kurzcharakteristik von Sigmar Polkes Kunst. Der Schalk saß ihm zeitlebens im Nacken, und viele seiner Statements haben Comedy-Format. Dabei begann sein Leben wenig lustig: Geboren 1941 in Oels, Niederschlesien, musste die Familie 1945 fliehen: Von Thüringen führte der Weg über West-Berlin nach Willich (bei Mönchengladbach), wo Polke später, von 1972 bis 1978, auf dem Gaspelshof wohnte, bevor er nach Köln zog. Eine Glasmaler-Lehre in Düsseldorf-Kaiserswerth (1959 und 1960) war nur Zwischenetappe für das Studium an der Kunstakademie Düsseldorf, das er 1967 beendete.

Gemeinsam mit drei anderen Akademiestudenten – Manfred Kuttner, Konrad Lueg und Gerhard Richter – organisierte er zwischen 1963 und 1966 mehrere Ausstellungen, die unter dem Label „Kapitalistischer Realismus“ in die Kunstgeschichte eingingen. Die erste Nennung findet sich 1963 in einem Text, den Richter geschrieben hatte: „Wir zeigen erstmalig in Deutschland Bilder, für die die Begriffe wie Pop-Art, Junk Culture, imperialistischer oder Kapitalistischer Realismus, neue Gegenständlichkeit, Naturalismus, German Pop und einige ähnliche kennzeichnend sind.“ Das kann beinahe alles bedeuten, sagt also wenig. Ein Gegenmodell sowohl zum Sozialistischen Realismus als auch zur damals (im Westen) vorherrschenden Abstraktion, eine deutsche Spielart der (englischen und amerikanischen) Pop Art, darauf läuft der „Kapitalistische Realismus“ wohl am ehesten heraus. Als stilgeschichtliche Marke hat er keine sonderliche Strahlkraft entfaltet.

Ohnehin unterstreichen die aktuellen Ausstellungen in Düsseldorf sowie in Regensburg/Karlsruhe, dass Polke in kein Raster passt – obwohl seine Rasterbilder zu den bekanntesten Schöpfungen des dreimaligen documenta-Teilnehmers (1972, 1977 und 1982) zählen. Er experimentierte mit diversen Techniken und Bildträgern, darunter Dekostoffe, Wolldecken und Tischtücher. Er schuf Gemälde, Zeichnungen, Grafiken und Offsetdrucke. Er fotografierte, erstellte Objekte und gestaltete zuletzt, 2006, leuchtende Fenster aus Glas und Achat für das Zürcher Großmünster. Lässt man dieses ebenso phantastische wie skurrile Œuvre Revue passieren, mag es scheinen, als seien Sigmar Polke die Ideen niemals ausgegangen.

Wie sehr die Warenwelt der Wirtschaftswunder-Jahre und die damals aufkommende massenmediale Bilderflut seine Kunst geprägt haben, davon kann man sich vortrefflich in der „Dualismen“-Schau überzeugen. Arbeiten wie Kekse, Mehl in der Wurst oder Wochenendhaus versetzen den Betrachter in eine Zeit, die sich ohne Anflug von schlechtem Gewissen zum genussvollen Konsumdenken bekannte. Polke selbst, der begnadete Ironiker, hat diesen Zeitgeist unnachahmlich erfasst, indem er ihn auf die Schippe nahm: „Es gehört noch heute zu meinen leidvollsten Erinnerungen, wie an den langen Winterabenden nach dem Währungsschnitt die vielköpfige Familie freudig erregt über der frischen Ausgabe der ‚Bäckerblume’ zusammenrückte und sich einander in die Seiten stoßend zeigte, was sie ‘leckere Brötchen’, ‘verführerische Hörnchen’, ‘ehrliche Brote’ usw. nannte; – aber da wo ihre Finger von verzückten Rufen begleitet hinwiesen, sah ich immer nur viele kleine tote schwarze Punkte!“ Mithin stand die ‚Bäckerblume’ Pate bei der Entstehung seiner Rasterbilder – so sehr wurden sie zu seinem Markenzeichen, dass sich sogar der Begriff „Polke dots“ in der Literatur findet. Am Raster gefiel ihm „das Unpersönliche, Neutrale und Fabrizierte“: „Es zerlegt, zerstreut, ordnet und macht alles gleich.“

Indes: So richtig „leidvoll“ mutet diese Erinnerung nicht an. Ohnehin erfährt die Schilderung eine Art Happy End, denn der Künstler fährt fort: „Aber auch Freudiges kannte die Kindheit und davon zu berichten heißt, von einer weiteren Lektüre berichten: dem ‚Palmin Album‘. Hier in diesen Bildwerken, dem ‚Palmin Album‘ und der ‚Bäckerblume’, erfuhr mein Weltbild tiefste Prägung – und auch meine anderen Bilder sind ohne sie nicht … zu denken.“

Ob man diese schillernde Persönlichkeit und ihre ebenso schillernde Kunst mit der Bezeichnung „Dualismen“ in den Griff bekommt, wie es die vom Regensburger Kunstforum Ostdeutsche Galerie und der Städtischen Galerie Karlsruhe konzipierte Jubiläumsausstellung vorschlägt, das erscheint zweifelhaft. „Es geht um Zweiheit und Polarität, etwas, das sich konträr gegenübersteht, sich komplementär ergänzt oder gar gegenseitig definiert“, erklärt die Regensburger Kuratorin Verena Hein. Allerdings betont sie selbst, dass man Polke kein „Schwarz-Weiß-Denken“ attestieren wolle (natürlich nicht); vielmehr sei seine Gabe „das Überwinden von Gegensätzlichkeit“. In diesem Zusammenhang zitiert Hein eine Aussage des Künstlers aus dem Jahr 1966: „Ich bin froh, dass ich nicht nur Schwarz und Weiß sehe, sondern beides zugleich.“

Und bunt dazu, möchte man das Polke-Bonmot ergänzen. Beim Rundgang, untergliedert in sieben Sektionen, formieren sich die rund 90 Exponate zu einer Achterbahnfahrt der Themen und Techniken. Eines der Highlights des Ausstellungabschnitts „Originalität | Kreativität“ ist die Edition „… Höhere Wesen befehlen“ von 1968. 14 Fotografien zeigen einfallsreich-absurde Objekte oder Slapstick-Situationen, bei denen der Befehlsempfänger selbst mehrfach in Erscheinung tritt. Dabei sucht er Tuchfühlung mit der Natur (Polke entlaubt einen Baum, Die Weide, die nur meinetwegen hohl gewachsen ist). Aus demselben Jahr stammt die Zeichnung Höhere Wesen befahlen: Winkel malen!. Auf Ringbuchpapier malte Polke einen lakonischen Winkel, dem durch die Beischrift gleichsam metaphysische Weihen verliehen werden. Den Geniekult und den priesterlichen Ton, den Interpreten von Malewitschs Schwarzem Quadrat gern anstimmen, zieht er hier wunderbar durch den Kakao. Originell war Polke immer – originär wollte er nach eigenem Bekunden gar nicht sein: „So ist meine Malerei in ihrem tiefsten Wesen eine Auftragsmalerei, und ich schmeichle mir, immer nach Vorlage gearbeitet zu haben, auch wenn ich sie oft selbst nicht kannte, und so sehr vielleicht auch manches in meinem Werk nach Phantasie oder wie Einfall aussieht – alles ist nach Vorlage und im Auftrag gestaltet.“

Dieser „Auftragsmalerei“ entsprangen immer wieder hinreißende Werke – die eleganten Reiherbilder in der „Dualismen“-Präsentation sind nur ein Beispiel dafür. Die Vögel hatten es Polke wegen der „hochsignifikanten Krümmungscharakteristik“ ihres Halses angetan. In den 1980er- und 1990er-Jahren schließlich erweiterte er sein Repertoire abermals durch experimentelle Techniken, die ihm den Beinamen „der Alchemist“ eintrugen. Beispielsweise probierte er Farbschüttungen aus oder setzte Uran ein, das auf Fotopapier Spuren hinterließ. Längst zum Kunstmarkt-Star geworden, erwies ihm auch Venedig höchste Ehren: 1986, bei der 42. Biennale, erhielt Polke für den von ihm gestalteten Deutschen Pavillon den Goldenen Löwen.

Auf seinen Spuren wandern heute etliche junge Kunstschaffende, wie die Kunsthalle Düsseldorf mit ihrer Polke-Schau „Produktive Bildstörung“ demonstriert. Werke wie Amerikanisch-Mexikanische Grenze (1984), Urangestein (rosa) (1992) oder Primavera (2003) konfrontiert die Ausstellung mit Arbeiten von Kerstin Brätsch, Phoebe Collings-James, Raphael Hefti, Camille Henrot, Trevor Paglen, Seth Price, Max Schulze und Avery Singer. Auch diese jüngere Generation hinterfragt die Originalität von Kunstwerken und den Wahrheitsgehalt der Bilder. Manche kehren das politische Potenzial der Bildstörung hervor, andere begrüßen Zufall, Unzulänglichkeiten des Materials und Unwägbarkeiten des künstlerischen Prozesses als Geburtshelfer innovativer Kunst. Fazit der Düsseldorfer Ausstellung: Sigmar Polke ist zwar in den Olymp der zeitgenössischen Kunst aufgestiegen, aber längst nicht zum Klassiker erstarrt.


Auf einen Blick

Ausstellungen Sigmar Polke. Dualismen

Ort: Kunstforum Ostdeutsche Galerie, Dr.-Johann-Maier-Straße 5, 93049 Regensburg

Dauer: bis 16. Januar 2022

Internet: https://www.kunstforum.net/

Ort: Städtische Galerie Karlsruhe, Lorenzstraße 27, 76135 Karlsruhe

Dauer: 5. März bis 12. Juni 2022

Internet: https://www.karlsruhe.de/b1/kultur/kunst_ausstellungen/museen/staedtische_galerie.de

Katalog: Sigmar Polke. Dualismen. Kunstforum Ostdeutsche Galerie, Städtische Galerie Karlsruhe. Mit Beiträgen von Verena Hein,Stefanie Patruno, Ksenija Tschetschik-Hammerl sowie einem Interview mit Anna Polke, 136 S., zahlr. Farbabb., Regensburg, Verlag Friedrich Pustet, ISBN 978-3-891881422

 

Ausstellung: Produktive Bildstörung. Sigmar Polke und aktuelle künstlerische Positionen

Ort: Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz 4, 40213 Düsseldorf

Dauer: bis 6. März 2022

Internet: https://www.kunsthalle-duesseldorf.de

Katalog: Sigmar Polke. Produktive Bildstörung. Sigmar Polke und aktuelle künstlerische Positionen, Kunsthalle Düsseldorf, Anna Polke-Stiftung (Hrsg.), dt./engl., Softcover, 224 S., zahlr. Farbabb., 21 x 29,7 cm Distanz Verlag, ISBN 9783954764259

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Profile

Geboren 1941 in Oels (Schlesien). Während des Zweiten Weltkrieges floh die Familie nach Thüringen und ließ sich 1953 im Rheinland nieder. In Düsseldorf absolvierte Sigmar Polke eine Glasmaler-Lehre und studierte anschließend, von 1961 bis 1967, an der Kunstakademie Düsseldorf. Während der Studienzeit organisierte er zusammen mit drei Kommilitonen eine erste öffentliche Ausstellung unter dem Label „Kapitalistischer Realismus“. Erste Gruppen- und Einzelausstellungen folgten. Von 1970 bis 1971 war er Gastprofessor an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg, zwischen 1977 und 1991 Professor an derselben Hochschule. Eine erste retrospektive Werkübersicht wurde 1976 in Tübingen, Düsseldorf und Eindhoven gezeigt. Teilnehmer der documenta 5 (1972), 6 (1977) und 7 (1982). 1978 zog Sigmar Polke nach Köln, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 2010 lebte und arbeitete.

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