Ausstellung

Eine Beziehungsgeschichte

Henri Matisses Das rote Atelier in Kopenhagen

Matisse ist fassungslos. Sergei Iwanowitsch Schtschukin, der große, russische Sammler und beste Kunde, dessen Bestellung großformatiger Werke ein Grund für seinen Hauskauf und Umzug nach Issy-les-Moulineaux in das neue Haus und Atelier gewesen war, hat das für dessen Esszimmer im Moskauer Stadtpalais fest bestellte Bild abgelehnt. Das mit 181 cm x 219 cm größte der drei platzgenau gemalten Werke, das an der Stirnseite zwischen zwei Fenstern das Zimmer prägen sollte, wollte der Kunstenthusiast nicht. Schtschukin war nicht irgendein Käufer. Er hatte seinen privaten Stadtpalast an der Znamensky Gasse 8 im Moskau am Sonntag von elf Uhr bis mittags um eins für Kunstfreunde wie ein Museum geöffnet, um seine russische und bevorzugt seine Sammlung französischer Gegenwartskünstler zu zeigen, die er seit seinem ersten Besuch 1898 in Paris zusammengetragen hatte. Er hatte eine Mission. Er kannte Matisse. Er schätzte sein Werk. Er hatte ihm alle Freiheiten für die Ausgestaltung des Esszimmers gelassen, nur Nackte solle er meiden, er fürchtete den Klatsch der konservativen Moskauer Bürger und Adeligen. Er hatte sich gefreut, als er las, dass er ein neues Atelier-Interieur bekommen sollte. Man war sich über den Preis im Vorfeld bereits einige geworden. Dann hatte er Matisse gebeten, ihm ein Aquarell des fertigen Bildes zur Anschauung zukommen zu lassen. Das sollte es sein? Nein.

Die abgewiesene Arbeit, Matisse nannte sie nur Le panneau rouge, die rote Tafel, lehnte sich motivisch an zwei Arbeiten an, die der Sammler bereits erworben hatte: Das rosa Atelier und, in Farbe und Größe ähnlich, an die Harmonie in Rot (1908). Aber Das rote Atelier, wie es bald von Kritikern genannt wurde, war anders. Wesentlich entschiedener. Entschieden radikaler. Ein radikaler Wendepunkt.

Matisse sollte auch selbst nach der Abweisung des Gemäldes 1911 durch den russischen Mäzen lange Jahre wenig Freude an dem Bild haben. 1912 stellt er es auf der 2. Post-Impressionisten-Ausstellung in London aus, es kommt unverkauft zurück, auch in Düsseldorf findet sich weder 1912 noch 1913 ein Käufer, das gleiche in den USA bei der International Exhibition of Modern Art 1913 in New York, Chicago und Boston. Und Matisse ist längst kein Nobody mehr auf dem Kunstmarkt.

Er geht auf Distanz zu der Arbeit, stellt sie 16 Jahre lang nicht aus. Vilma Balogh, einer ungarischen Schriftstellerin und Journalistin, die Matisse 1912 im Atelier besucht und das Werk dort stehen sieht, bekennt er: „Das ist ein Bild, mit dem ich Schwierigkeiten habe, obwohl ich alles kenne, was darauf abgebildet ist: die Uhr, die Bilder, die Blumen zusammengehalten durch den dunklen, ziegelroten Hintergrund. (..) Ich mag es, aber ich verstehe es nicht; ich weiß nicht warum ich es genauso gemalt habe.“ Vielleicht, so räsoniert er, übermale er es. Das tat er nicht, glücklicherweise.

Was war und ist anders an diesem Bild?

Das rote Atelier ist, verglichen mit früheren, ähnlichen Arbeiten Matisses, streng genommen keine perspektivische Darstellung eines Raumes, kein Interieur. Sieht man die großformatige Leinwand aus der Ferne, dann dominiert das kräftige Rot. Und darin entdeckt man, wie drapiert, 12 Arbeiten von Matisse, Skulpturen wie Gemälde, die in den Jahre 1898 bis 1910 entstanden sind. Fast ist man an ein Verkaufsprospekt, ein Portfolio erinnert. Nähert man sich dann dem Bild, entdeckt man in zarten, gelb-ocker gehaltenen Linien die Umrisse eines Tisches mit Decke, eines Stuhles, die Sockel auf denen zwei Skulpturen stehen, eine Standuhr. Diese Linien, mehr gezeichnet als gemalt, beinahe geschrieben, sind perspektivisch gehalten, dem Raum indes fehlt die Perspektive, Matisse hat auf die Widergabe der Ecke seines Ateliers verzichtet.  Die Gegenstände stehen in feiner Harmonie, die Blumen auf dem Tisch nehmen die Bewegung der Skulpturen wie die des Sessels auf, die Keramikschale auf dem Tisch unten links, die der nackten Figur im zitierten Bild oben rechts. Elf der hier abgebildeten zwölf Werke sind in der Ausstellung „Matisse. Das rote Atelier“ in der Nationalgalerie Kopenhagen zu sehen, drei hat man im eigenen Depot, eines, ein Akt, wurde auf Wunsch des Künstlers nach seinem Tod als unfertig vernichtet.

Matisse folgt in diesem Bild seinem, 1908 in den Notizen eines Malers ausgeführten, Programm. Sein Ziel ist es, den essentiellen Charakter seiner Motive zu erfassen, dabei die Farbe der Form vorzuziehen und mit starken Farben das Bild zu einer harmonischen Balance zu führen, zu Reinheit und Heiterkeit. Starke Farben und Ornamentik, die er aus Druckmustern der bäuerlichen Tischwäsche kennt und zur selben Zeit auch in der arabischen und islamischen Kunst, u.a. in Marokko, entdeckt. Die mimetische Widergabe ist unwichtig, was sich schon daran zeigt, dass sein Atelier, das als Vorlage diente, weder pink noch rot, sondern schlicht weiß gestrichen war und auch das im Roten Atelier zitierten Bild Le Luxe eine andere Farbgebung hat als das Original, wie man unschwer erkennt – beide Bilder hängen nebeneinander im SMK. Die Farbänderungen führen zu einer deutlichen Harmonie im Bildganzen des Roten Ateliers, wie die Kuratorin des MoMA, Ann Temkin, betont.

Das rote Atelier ist 1911 ein Wendepunkt in seinem Schaffen. Impressionismus, Post-Impressionismus, die Fauves – die Stilrichtungen zitiert er in den abgebildeten Arbeiten – lässt er hinter sich, baut darauf auf und öffnet sich entschieden der Farbe, der Form, dem Ornament und  bereits jetzt lassen sich die Cut-Outs erahnen, die er am Lebensende schaffen wird. Für Ann Temkin zeigt sich in diesem Bild „der ganz Matisse. Er beobachtet, arbeitet mit realen Vorlagen und Modellen und transformiert sie dann im Malprozess“.

Die Ausstellung in der Nationalgalerie in Kopenhagen hat im ersten von sieben Räumen Das rote Atelier in den Mittelpunkt der darauf abgebildeten Arbeiten gestellt. Schon allein diese Zusammenstellung, aus diversen öffentlichen und privaten Sammlungen zusammengeholt, ist für die Chefkuratorin des Museums, Dorte Aagesen „eine einmalige Chance und besondere Gelegenheit, die nicht mehr wiederkommt.“ In den folgenden Räumen wird die Geschichte des Bildes mit anderen Referenzwerken und Dokumenten gezeigt, Fotos der Ateliers Matisses und auch ein Briefwechsel aus dem Jahr 1927. In diesem Jahr erwirbt der 25-jährige britische Aristokrat und Nachtclubbesitzer David Pax Tennant das Bild. In der Dean Street in London betreibt er den Gargoyle Nightclub und dorthin, in die von Zigaretten- und Zigarrenrauch geschwängerte feuchte Luft einer Tanzbar, hängt er das großflächige, rote Bild – nachdem er es zuvor, die Restauratoren danken es ihm bis heute, hinter Glas hatte rahmen lassen. Er räumt Matisse im Kaufvertrag ausdrücklich das Vorkaufsrecht ein, sollte er sich später von dem Bild trennen müssen. 1938 braucht er Geld und bietet Matisse das Bild an. Matisse antwortet nicht. Ein New Yorker Kunsthändler kauft die Arbeit schließlich und 1949 geht sie an das MoMA in New York, wo sie bis heute hängt. 1948 malt Matisse, bereits von Krankheit gezeichnet, sein letztes Ölgemälde: Großes rotes Interieur. Dieses Bild hängt im letzten Raum der Kopenhagener Ausstellung und verblüfft in der Ähnlichkeit zu dem lange von seinem Schöpfer ungeliebten Roten Atelier. Für Ann Tamkin ist es Beleg dafür, dass Matisse sich mit seinem Bild Das rote Atelier versöhnt hat: „Es war ihm zuvor und er kam mit seinem letzten Ölgemälde zu ihm zurück“.

Die Ausstellung in Kopenhagen, in enger Zusammenarbeit mit dem MoMA New York, zeigt mehr als die Werkgeschichte eines Hauptwerkes der französischen Moderne. Die Ausstellung erzählt die Geschichte eines Werkes als Geschichte des Kunstmarktes und des Lebens. Als eine Beziehungsgeschichte zwischen Künstler und Werk in guten wie in schlechten Tagen. Es ist wie die Geschichte eines verstoßenen Kindes, das über seine Heldenreise, von den bedeutendsten Ausstellungen über die Jahre im Nachtclub bis zum Notverkauf nach Amerika, irgendwann doch die Liebe seines Schöpfers wieder gewinnt. Ein Werk, das, einen Gedanken des NZZ-Feuilletonisten Roman Bucheli aufgreifend, nicht prophetisch ist, sondern kann, „was nur Kunst vermag: Sie weiß mehr von der Welt als ihre Schöpfer.“

 


Auf einen Blick

Ausstellung: Matisse. The Red Studio | Det røde atelier
Ort: SKM, Statens Museum for Kunst, Sølvgade 48-50, DK-1307 København
Dauer: bis 23. Februar 2023
Internet: www.smk.dk

 

Öffnungszeiten:
Dienstag bis Sonntag, 10:00 Uhr bis 18:00 Uhr; Mittwoch bis 20:00 Uhr; Montag geschlossen.
Geschlossen: 24. und 25. Dezember; 31. Dezember bis 2. Januar.

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Profile

Das SMK – Staatliches Museum für Kunst – Nationalgalerie Dänemarks ist mit über 260.000 Kunstwerken das größte Kunstmuseum Dänemarks, hervorgegangen Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Königlichen Sammlung. Sammlungsschwerpunkt des Hauses ist die bildende Kunst Dänemarks und Skandinaviens vom Mittelalter bis heute, allein 2020 wurden 100 aktuelle, dänische, künstlerische Positionen angekauft. Durch die Zustiftung des Sammlers Johannes Rump 1928 befindet sich hier nach Russland und primär Frankreich die weltweit drittgrößte Sammlung der Werke von Henri Matisse und eine umfassende Anzahl Werke der klassischen, französischen Moderne: Pablo Picasso, André Derain , Pierre Bonnard und ihres Umfelds.

Foto: SMK

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