Ausstellung

Firlefanz und Flitterwerk

Die türkische Künstlerin Gülsün Karamustafa erforscht die Populärkultur, um die Schattenseiten der Globalisierung ins Licht zu rücken.

Wer Gülsün Karamustafas aktuelle Ausstellung „Chronographia“ im Hamburger Bahnhof, Berlins Museum für Gegenwart, erkundet, wähnt sich stellenweise auf einem Basar. Hier trifft man auf grellbunte Wandteppiche oder Steppdecken, dort konkurrieren eine billig-goldene Venus und eine schrille Textilversion von Leonardos Abendmahl um die Aufmerksamkeit. Nippes und Kitsch gehören seit den Achtzigerjahren zum festen Inventar im Schaffen der 1946 geborenen türkischen Künstlerin. Karamustafa, die von 1963 bis 1969 an der Istanbuler Kunstakademie studierte und in den Siebzigerjahren zunächst als Malerin von sich reden machte, versteht diese Ready-mades, entlehnt der Wohnkultur der einfachen Leute, als Ausdruck der Empathie – und der Solidarität. Den Einwanderern, die aus Balkanländern wie Bulgarien in die Türkei kamen, um einen bescheidenen Wohlstand zu erlangen, ihnen gehört die besondere Sympathie der Künstlerin, die sich als „Chronografin“, als „Zeitschreiberin“ bezeichnet, die seit je in ihrer Arbeit politisch Stellung bezieht. In der Türkei ist das heute wichtiger denn je – und zugleich weitaus schwieriger als noch vor rund 15 Jahren. Damals öffnete sich das Land der Demokratie und leitete Reformen ein, die nicht zuletzt der Freiheit der Kunst zugutekamen.

Die Retrospektive im Hamburger Bahnhof, die noch bis zum 23. Oktober rund 110 Werke von Gülsün Karamustafa präsentiert, fällt mitten hinein in eine aufgeheizte Gesamtsituation. Der gescheiterte türkische Militärputsch und die drakonischen Maßnahmen, die der Präsident Recep Tayyip Erdogan gegen die vermeintlichen Unterstützer der Rebellion ergriffen hat, lassen wenig Spielraum für offene Worte. Karamustafa jedenfalls, die sich in ihrer Kunst so kritisch mit der früheren Politik ihres Heimatlandes auseinandersetzt, hält sich in diesen Tagen auffällig zurück. Als das rbb Fernsehen sie zur Lage in der Türkei und Erdogans Politik der „Säuberungen“ befragen wollte, gab sie nur ein knappes Statement: „Ich wünschte, wir könnten ihn verstehen. Das ist alles … Das können Sie zitieren.“

Die Arbeiten der Berliner Ausstellung – zu sehen sind Bilder, Skulpturen, Installationen, Performances und Videos – lassen dagegen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Bereits Anfang der Siebzigerjahre entstand die Serie der „Prison Paintings“: In einer schlichten, einprägsamen Bildsprache, die an naive Malerei denken lässt, schildert sie den Alltag von Frauen in türkischen Gefängnissen. Gülsün Karamustafa saß an der Quelle: Weil sie und ihr Mann, der Grafiker Sadik Karamustafa, 1971 an Demonstrationen gegen die Machtübernahme der Militärs teilgenommen hatten, wurden sie festgenommen und vorübergehend eingesperrt. Fortan war ihnen die Ausreise untersagt – erst 1986 erhielten sie wieder einen Reisepass.

Stehen die „Prison Paintings“ am Anfang von Karamustafas gesellschaftspolitisch engagierter Kunst – Migration, Flucht vor politischen Repressalien, Feminismus und Gender-Themen bilden hier weitere Schwerpunkte –, so zeichnet sich eine Reihe von Arbeiten durch eine sehr persönliche Spurensuche aus. Dazu gehört beispielsweise die Installation „The Notebook“ (1993/2013). Sie führt uns zurück in die Kindheit der Künstlerin, die in Ankara geboren wurde und dort aufwuchs. Dem Nachlass ihres Vaters, des Radiomoderators Hikmet Münir Ebcioglu, entstammen die an der Wand aufgereihten Kinderfotos von Karamustafa; darunter, präsentiert auf Holzkisten, sieht man Grundschulhefte, die sie mit zahlreichen Zeichnungen versehen hat – ein früher Hinweis auf ihr künstlerisches Talent. Auf die Suche nach der verlorenen Zeit begibt sich Gülsün Karamustafa auch in ihrer 1994 entstandenen großen Bodeninstallation „Chronographia“, die der Ausstellung ihren Namen gegeben hat: Hier formieren sich 60 Titelblätter des Magazins „Radyo Haftasi“ („Radiowoche“) zu einem Kreis, zu einer Galerie der Pop-Stars, die in den frühen Fünfzigerjahren in der Türkei angesagt waren. „Chronographia“ vergegenwärtigt die Schönheitsideale jener Zeit, die uns unendlich weit entfernt scheint (obwohl uns nicht einmal 70 Jahre davon trennen); zugleich reflektiert auch diese Arbeit Karamustafas Kindheit: In jeder der hier präsentierten „Radiowoche“-Ausgaben war ihr Vater mit einem Artikel vertreten.

Schon in jungen Jahren begegnete Gülsün Karamustafa Phänomenen wie Flucht, Entwurzelung, Sehnsucht nach Heimat: 1893 verließ ihre Großmutter Bulgarien, in der Hoffnung auf ein besseres Leben in der Türkei. Wertsachen und Dinge, an denen ihr Herz besonders hing, versteckte sie dabei in den Kleidern, die sie trug. Diese Erinnerung hat die Künstlerin 1991 in der Installation „Courier“ verarbeitet: An einem Bindfaden, der sich mitten durch den Raum zieht, hängen drei bauschige Kinderwesten, in die Karamustafa Gegenstände eingenäht hat, die für sie von zentraler Bedeutung sind.

Das Nomadendasein spielt auch eine zentrale Rolle in der Arbeit „Mystic Transport“ (1992): Diese Installation – wie zahlreiche Exponate der Berliner Ausstellung eine Leihgabe aus der Kollektion des Sammlers und Türkei-Kenners René Block – besteht aus 20 Drahtkörben, gefüllt mit ebenso vielen bunten Steppdecken. Die billigen Bettdecken – Karamustafa bezeichnet sie als „Schutz des Schlafes“ – sind oft das einzige Hab und Gut von Migranten, Geflüchteten, Vertriebenen, Heimat- und Wohnungslosen. In der Ausstellung sind die Besucher eingeladen, die Rollkörbe neu im Raum zu positionieren: eine Art Gleichnis für das Dasein jener Menschen, die keine feste Bleibe haben, die notgedrungen mal hier, mal dort ein Nachtquartier suchen.

Stichwort Transport: Ein mit Billigwaren geradezu überladenes Environment der Ausstellung im Hamburger Bahnhof, „Objects of Desire / A Suitcase Trade (100 Dollars Limit)” (1998), bezieht sich auf den schwunghaften privaten Handel, der sich in den Neunzigerjahren in den osteuropäischen Staaten rund ums Schwarze Meer entwickelte. Menschen aus Russland und den Balkan-Staaten packten Konsumartikel aus ihrem Besitz in einen Koffer, um das Sammelsurium in der Türkei zu verkaufen. Im Gegenzug deckten sie sich mit türkischen Waren ein, mit Produkten, die aus unserer Sicht in der Kategorie „Ramsch“ anzusiedeln sind. Für eine Performance in der Shedhalle Zürich schleuste sich die Künstlerin symbolisch in diesen Warenkreislauf ein: In der Türkei erstand sie für 100 Dollar Billigware, füllte damit einen Koffer, reiste nach Zürich, ohne ihre Mitbringsel zu versteuern, errichtete in der Kunsthalle einen Marktstand und bot die Talmiprodukte dort zum Verkauf an. Polaroids, mit denen die Performance dokumentiert wurde, und eine überbordende Installation des Verkaufsstandes vermitteln in der Berliner Präsentation einen Eindruck vom „Suitcase Trade“: Die „Objekte der Sehnsucht“, die maximal 100 Dollar kosten dürfen, zeugen von einem Konsumverhalten, das materielle Minderwertigkeit durch Firlefanz und Flitterwerk wettzumachen sucht. Kein Grund, sich darüber aus westlicher Wohlstandwarte verächtlich zu erheben: Die von Karamustafa zur Schau gestellten Billigklamotten, die protzigen Lampen, die geringwertige Unterhaltungselektronik, sie verkörper(te)n für ihre Käufer Werte, die hierzulande durch Designerkleidung oder andere hochwertige Erzeugnisse vergegenständlicht werden. Durch die Erforschung der Populärkultur rückt die Künstlerin die Schattenseiten der Globalisierung ins Licht.

Weil Gülsün Karamustafa das Handeln mit Waren als exemplarische Bühne des Daseins begreift, konfrontiert sie den Betrachter ihrer Kunst nicht zuletzt mit einem besonders widerwärtigen Aspekt des Handels – dem Menschenhandel. Für die vierte Istanbul-Biennale, die 1995 stattfand, entstand die Textilinstallation „NEWORIENTATION“, in Szene gesetzt in einem Ausstellungsraum am Hafen des Istanbuler Stadtteils Galata. Am dortigen Kai warten Prostituierte auf Freier aus einlaufenden Schiffen. In den Akten der Istanbuler Polizei fand die Künstlerin zahlreiche als vermisst gemeldete Frauen, die später aus Bordellen in Istanbul befreit wurden. So ließ Karamustafa die Initialen dieser Frauen und das Datum ihres Verschwindens auf Schleifenbänder stempeln, die leicht und luftig an Leinen flattern – der Ausdruck „unbeschwert“ kommt einem in den Sinn. In Berlin hat „NEWORIENTATION“ auf der Verbindungsbrücke zwischen Ost- und Westflügel des Museums eine prominente Platzierung erhalten. Eine Arbeit, die auf den ersten Blick heiter anmutet. Der Schein trügt – die alte Weisheit ist die Quintessenz der farbenfrohen und volkstümlichen Kunst von Gülsün Karamustafa.

Auf einen Blick

Ausstellung
„Chronographia“
Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart
Invalidenstraße 50/51
10557 Berlin

Telefon: 030/266 42 42 42
Internet: www.smb.museum/museen-und-einrichtungen/hamburger-bahnhof

Öffnungszeiten
Ausstellungsdauer: bis 23. Oktober 2016
Dienstag bis Sonntag: 11 – 18 Uhr (Donnerstag bis 20 Uhr)
Montag geschlossen

Eintritt
8 Euro/ermäßigt 4 Euro

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Profile

Gülsün Karamustafa, geboren 1946 in Ankara, lebt und arbeitet in Istanbul. Sie ist verheiratet mit dem Grafiker Sadik Karamustafa. International bekannt wurde Karamustafa Anfang der Neunzigerjahre durch ihre Beteiligung an der dritten und vierten Istanbul-Biennale. Heute zählt sie zu den wichtigsten Gegenwartskünstlern der Türkei. Ihre Arbeiten befinden sich unter anderem im mumok Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien, im Musée d‘Art Moderne de la Ville de Paris, im Neuen Museum Nürnberg, im New Yorker Guggenheim Museum sowie in der Tate Modern, London.

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