Ausstellung

Atemlos durch die Bundeskunsthalle

Die Bonner Ausstellung „1920er! Im Kaleidoskop der Moderne“ lässt eine rasante Epoche Revue passieren

In der Bonner Bundeskunsthalle kann man eine Zeitreise in die Goldenen Zwanziger antreten – ein extremes Jahrzehnt, in dem das Licht besonders grell schien und die Schatten extrem düster ausfielen. Die Ausstellung „1920er! Im Kaleidoskop der Moderne“ kehrt die negativen Seiten der Weimarer Republik nicht unter den Tisch, betont jedoch das revolutionäre Potenzial der Epoche, in der Leben und Kunst nahezu neu erfunden wurden.

Ein Auto, auf verspiegelter Fläche wie ein Juwel der Technik präsentiert, als Nabelpunkt einer Ausstellung in einer Kunsthalle? Und dies in Zeiten, da die Motorisierung der Gesellschaft zunehmend kritisch gesehen wird? Mit unserem PS-skeptischen Zeitgeist ist dieser Blickfang der Bonner Schau „1920er! Im Kaleidoskop der Moderne“ nur schwer in Einklang zu bringen. Wohl aber mit dem Spirit der rasanten zwanziger Jahre – deren Lieblingswort lautete „Tempo“. Perfekt verkörpert wurde er durch den Bugatti-Rennwagen. Ihn inszeniert die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland als Ikone der vielzitierten Goldenen Zwanziger, als Herzstück, von dem aus die verschiedenen Bereiche der kulturgeschichtlichen Präsentation sternförmig abzweigen.

Drei Leitmotive prägen dieses Epochenpanorama, für das die Kuratorin Agnieszka Lulińska verantwortlich zeichnet: die Großstadt als Labor der Moderne, die neuen Rollenbilder von Frau und Mann und die fundamental gewandelten Lebenswelten, wie sie sich überall offenbarten – im Alltag, in Film, Kunst und Kultur, in Musik, Mode und Design. Die Umwertung aller ästhetischen Werte betraf nicht bloß traditionelle Kulturmetropolen wie Paris, München oder Wien. Noch stärker vom Umbruch erfasst wurden aufstrebende Kunstzentren wie Prag, Berlin, New York, Shanghai und Mexico City. Zwei Großstädte ragten heraus als Herolde des Zeitgeistes: New York, vom italienischen Futuristen Fortunato Depero zum „The New Babel“ stilisiert; und Berlin, Hexenküche aller Art von gesellschaftlichen Experimenten, „dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein“, wie es der Kunstkritiker Karl Scheffler formulierte.

In der Weimarer Republik, der gerade einmal 14 Jahre beschieden waren (von 1918/19 bis Anfang 1933), fand das Leben auf der Überholspur statt. So kommt es uns jedenfalls vor. Die Geschehnisse, die sich vor rund einem Jahrhundert abspielten, verdichten wir notgedrungen, weil die historische Perspektive immer eine Perspektive der Auswahl, der formelhaften Raffung ist. Der Befund aus unserer Warte: Wer in den späten Zwanzigern vom Geschwindigkeitsrausch ergriffen war und das erforderliche Geld besaß, der kaufte einen Bugatti „Typ 35 C“, gab bei Autorennen tüchtig Gas und konnte sich so auch gesellschaftlich an der Speerspitze positionieren.

„Die Stadt, die über Geschwindigkeit verfügt, verfügt über den Erfolg“, dekretierte der Architekt Le Corbusier. Nach Erfolg dürsteten besonders emanzipierte Frauen, die nun erstmals selbst ans Steuer drängten. Als „Bugatti Queen“ verewigte sich beispielsweise Tamara de Łempicka, die in der Ausstellung der Bundeskunsthalle mit mehreren Werken vertreten ist: Die polnische Art-déco-Malerin, eine ‚Influencerin‘ der damaligen Zeit, schaffte es mit ihrem Selbstporträt aufs Cover des Magazins „Die Dame“. Noch ungehemmter erlag der Bugatti-Faszination die französische Tänzerin und Schauspielerin Hellé Nice – sie wechselte sogar den Beruf, wurde Rennfahrerin und stellte 1929 mit 197,7 km/h den Geschwindigkeitsweltrekord der Frauen auf.

In Sachen Beschleunigungsdrang stand der Journalist Egon Erwin Kisch den „Girldrivers“ in nichts nach. Berühmt wurde Kisch als „der rasende Reporter“ – und so hat ihn der Fotograf Umbo (Otto Umbehr) in einer Fotomontage von 1926 auch dargestellt: Statt Schuhen stecken seine Füße in einem Auto und einem Flugzeug; diese Siebenmeilenstiefel befördern den mit Schreibmaschine, Fotoapparat und Hörrohr optimierten Publizisten in Windeseile durch die atemlose Republik. Ein Land, dessen rasante Elektrifizierung schnellere Produktions- und Kommunikationsabläufe ermöglichte. Ein Land, in dem Rennwagen und Flugzeuge Geschwindigkeitsrekorde am laufenden Band brachen. In dem der Jazz die Musikwelt auf Trab, besser: auf Galopp brachte, Charleston und Shimmy den Takt vorgaben und die Zeitungen in den Großstädten mit bis zu vier Ausgaben pro Tag erschienen.

Wen wundert es, dass ab 1927 ein neues deutsches Magazin mit dem Titel „Tempo“ erschien? Eher ein Kuriosum am Rande, dass die Brüder Rosenfelder, die 1929 das Einweg-Papiertaschentuch erfanden, hierfür das Warenzeichen „Tempo“ beim Reichspatentamt anmelden ließen. Gewiss, der Turbo-Modus war keine Erfindung der zwanziger Jahre: Schon im „Manifest des Futurismus“ von 1909 wird die „Schönheit der Geschwindigkeit“ verherrlicht und einem Rennwagen der Vorzug vor der antiken Nike von Samothrake gegeben. Doch handelte es sich da um die ziemlich skurrile Vision einer kleinen Künstlergruppe. 15 Jahre später waren diese Ideen Allgemeingut der Avantgarde.

Obwohl die Bonner Ausstellung die gesellschaftliche Achterbahnfahrt der zwanziger Jahre eher am Rande streift, gewinnt man in der Bundeskunsthalle einen guten Eindruck von einer Epoche der Extreme und des Extremismus: Nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg musste die Weimarer Republik bei Null anfangen. Was eine glatte Untertreibung ist, denn von allen Seiten wurden der jungen Demokratie Stolpersteine in den Weg gelegt. 1918 breitete sich die „Spanische Grippe“ aus und raffte weltweit rund 50 Millionen Menschen dahin. Eine zunächst daniederliegende Wirtschaft, gesellschaftliche Polarisierung, Fanatiker am rechten und linken Rand des politischen Spektrums, immense Reparationsforderungen der Siegermächte, Wohnungsnot, die Hyper-Inflation von 1923, später, 1929, der Börsencrash – leicht gemacht wurde es der Weimarer Republik wahrlich nicht. Doch gab es zwischenzeitlich, von 1924 bis 1929, auch Grund zur Hoffnung. Der wirtschaftliche Aufschwung, die Währungsstabilisierung durch Einführung der Rentenmark und die Aufnahme in den Völkerbund (1926) trugen dazu bei.

Dass mit den Zwanzigern eine Epochenschwelle überschritten war, das bemerkten schon die Zeitgenossen. Das Wort „neu“ wurde zur Leit- und Lieblingsparole der Epoche  – beim Rundgang durch das Bonner „Kaleidoskop der Moderne“ taucht es an zahlreichen Orten auf. Allenthalben war das Bedürfnis spürbar, sich neu zu erfinden. Die neue Frau erstrebte wirtschaftliche Selbstständigkeit und soziale Emanzipation, sie wollte selbst Geld verdienen, sie forderte das Wahlrecht. Beim „Tanz auf dem Vulkan“ (Harry Graf Kessler) mochte sie dem Mann nicht länger die Führung überlassen.

Dass die alten Zöpfe rigoros abgeschnitten wurden, verdeutlicht keine Erfindung besser als der „Bubikopf“. Antoni Cierplikowski, ein aus Polen stammender Friseur, löste um 1920 in Paris mit seinem „Coupe à la Garçonne“ eine haarkünstlerische Revolution aus. Bald sprach nicht nur „tout Paris“, sondern die ganze Lifestyle-Welt von dem Kurzhaarschnitt. Stars wie Josephine Baker, Bette Davis oder Elsa Schiaparelli präsentieren sich mit „Bubikopf“. Antoine de Paris, wie sich der exzentrische Coiffeur nannte, gelangte zu sagenhaftem Reichtum und besaß am Ende mehr als 100 Salons in Europa, USA und Australien. Cierplikowskis gläsernes Bett, Hauptattraktion seines noblen Pariser Appartementhauses, wurde in Lifestyle-Magazinen als dernier cri des Designs gefeiert. Dem „Bubikopf“-Erfinder widmet die Bonner Schau eine eigene Abteilung. Während Franz Löwy den Verwandlungskünstler im Buddha-Kostüm ablichtete, porträtierte Kees van Dongen ihn im orientalischen Gewand.

Der „Bubikopf“ führte sogar zu einer – aus heutiger Sicht absurd-komischen – juristischen Auseinandersetzung, die in der Ausstellung durch einen Artikel der „Deutsche Allgemeine Friseur-Zeitung“ von 1924 dokumentiert wird. In Paris verklagte ein Mann seine Frau, weil sie sich eigenmächtig die Haare abgeschnitten hatte. Der Richter gab ihm Recht. Seine Argumentation: Zum einen habe der Kläger eine Frau mit langen Haaren geheiratet, die also gleichsam als Geschäftsgrundlage des Ehevertrages anzusehen seien; und zum anderen bilde die Haarpracht für die meisten Männer eine Hauptattraktion. Den Erfolgszug der Trendfrisur konnte das richterliche Veto nicht aufhalten.

Der „Bubikopf“ und der Smoking, mit dem die frühverstorbene Skandaltänzerin Anita Berber auf Berliner Bühnen für Furore sorgte, sie stehen für eine Neudefinition der Geschlechterbilder. Hier ging Claude Cahun mit gewagtem Beispiel voran. In ihren Bildern – beispielsweise dem „Selbstporträt mit Glatze“ oder dem „Selbstporträt (I am in training, don’t kiss me)“ – inszenierte sich die französische Schriftstellerin und Fotografin, die den Surrealisten nahestand, als Rollen- und Tabubrecherin. „Die Karten werden neu gemischt“, schrieb Cahun 1930. „Männlich? Weiblich? Das hängt vom Einzelfall ab. Neutrum ist das einzige Geschlecht, das mir immer entspricht.“ Die Überzeugung, dass das Geschlecht kein unumstößliches Schicksal sei, teilte Claude Cahun mit Magnus Hirschfeld, dem führenden Sexualforscher seiner Zeit. Ihm kommt in der Ausstellung gleichfalls eine wichtige Rolle zu. In Berlin, wo sich in den zwanziger Jahren die freizügigste Schwulenszene Europas entfaltete, gründete er das weltweit erste Institut für Sexualwissenschaft. Weil der jüdische Arzt die Theorie vertrat, unter Menschen gebe es diverse sexuelle Zwischenstufen, war er heftigen Anfeindungen ausgesetzt.

Die damals unerhörte Idee, das Geschlecht sei nicht in Stein gemeißelt, geht einher mit dem Drang, den eigenen Körper zu optimieren. Die vielen Kriegsversehrten, denen man in den zwanziger Jahren auf der Straße begegnete, steigerten noch den Wunsch, einen makellosen Körper vorzeigen zu können. Galt Korpulenz zuvor als Ausweis für Reichtum und körperliches Wohlbefinden, so wurde es auf einmal schick, schlank zu sein. Ein Weg, um dieses Ziel zu erreichen, war der Sport – er entwickelte sich vom Freizeitvergnügen zum Körperkult. Auch die Kunst huldigte dem Athleten, der bei Max Beckmann als Rugbyspieler einen bildfüllenden Auftritt hat, während Alexander Deineka Fußballer malt und Rudolf Großmann den Zweikampf der Boxer zum Thema macht.

Eine Fitness-Welle ergriff die Weimarer Republik – der wunderlichste Auswuchs dieser Bewegung war das „Mensendiecken“. Benannt nach der amerikanischen Ärztin Bess Mensendieck, verbreitete sich das Programm einem Lauffeuer ähnlich in zahlreichen Ländern Europas. In den zwanziger Jahren schossen Mensendieck-Studios wie Pilze aus dem Boden. Und 1927 sang Claire Waldoff in dem von Friedrich Hollaender geschriebenen Couplet „O wie praktisch (ist die Berlinerin)“: „ob sie tanzt, ob sie tippt, ob sie mensendieckt“. Auch das konnte die Weimarer Republik sein: umwerfend komisch. Spätestens sechs Jahre später verging den Menschen das Lachen.

Auf einen Blick

Ausstellung:
1920er! Im Kaleidoskop der Moderne

Ort:
Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Bundeskunsthalle)

Museumsmeile Bonn
Helmut-Kohl-Allee 4
53113 Bonn

Dauer:
bis 30. Juli 2023

Öffnungszeiten:
Dienstag 10.00 bis 19.00 Uhr
Mittwoch 10.00 bis 21.00 Uhr
Donnerstag bis Sonntag 10.00 bis 19.00 Uhr

Internet:
https://www.bundeskunsthalle.de/1920er.html

 

Der Katalog ist im Sandstein Verlag, Dresden, erschienen und enthält Beiträge von Eva Kraus, Lukas Bächer, Philipp Blom, Harald Jähner, Agnieszka Lulińska, Änne Söll und Jens Wietschorke, ISBN 978-3-95498-743-6

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Die Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn, kurz Bundeskunsthalle, ist ein besonderer Ort der Kunst, Kultur und Wissenschaft. Im Zentrum des Programms steht die Kunst aller Epochen, einschließlich zeitgenössischer Kunst, sowie Ausstellungen zu kulturhistorischen Themen und Archäologie, aber auch Präsentationen zu anderen Wissensgebieten wie Technik oder Ökologie. Ziel ist es, den Blick nicht nur auf die westliche Kultur zu richten, sondern eine globale Perspektive aufzuzeigen.

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