Buchtipp
Kunst selbst sehen
Das soll Kunst sein? Das kann ich auch! Beim Betrachten von Gegenwartskunst sind Äußerungen wie diese nicht selten zu hören – und manchmal ertappt man sich angesichts der eigenen Hilflosigkeit im Umgang mit zeitaktuellen Kunstwerken vielleicht sogar selbst bei ähnlichen Gedanken.
Doch welche Möglichkeiten jenseits einer Kategorie der Beliebigkeit haben wir als Betrachter, um das Schaffen heutiger Künstler zu beurteilen? Institutionen lösen das Problem, indem sie ihren Besuchern in Audioguides, Saaltexten, Führungen und Katalogen vorgefertigte Interpretationen an die Hand geben.
Die Freiburger Kunsthistorikerin Angeli Janhsen kritisiert dieses unzureichende Angebot mancher Museen, das das Wissen um und die Annäherung an die Kunst wenigen Experten überlässt. Sie appelliert an alle Kunstinteressierten, unabhängig und mündig zu werden und sich einen eigenen Zugang zu zeitgenössischen Werken zu verschaffen. Wem aufgeworfene Fragen näher sind als vorgegebene Antworten, gibt sie in ihrem Buch „Kunst selbst sehen“ einen Fragenkatalog für das Betrachten von Kunst an die Hand. Beim Nachdenken über die ausgewählten Fragen und beim Notieren eigener Antworten, Gedanken oder Ideen in den im Buch vorgesehenen Leerräumen soll der Leser angeregt werden, seinen eigenen Weg zur Kunst zu suchen. Denn jeder sieht auf seine Weise, jedem begegnet Kunst anders. Ein Kind sieht anderes als ein Erwachsener. Jemand, der verliebt ist, sieht anders als jemand, der trauert.
So individuell wie ihre Betrachter ist auch die zeitgenössische Kunst selbst. Undogmatisch und vielfältig hat sie sich vormals gültigen Ordnungssystemen entzogen. Das macht sie so schwer fassbar. Häufig treten ästhetische oder handwerkliche Aspekte hinter Konzepten und Fragestellungen zurück. Manchmal sind Werke politisch motiviert oder nehmen kritisch Stellung zur Zeitgeschichte. Den Künstlern steht für die Wahl des Mediums, mit dem sie ihr Anliegen zum Ausdruck bringen, eine breite Palette unterschiedlicher Methoden und Materialien zur Verfügung, neben den klassischen Genres wie Malerei, Bildhauerei oder Zeichnung auch Computer, Film, Fotografie, Intervention im öffentlichen Raum, Licht, Performance oder Installation. Diese Vielfalt führt einerseits dazu, dass Kunst heute überall und alles sein kann, aktuelle Werke auf der anderen Seite aber häufig auch verschlüsselt zu sein scheinen.
Eine Möglichkeit, sich solchen Arbeiten anzunähern, sieht Angeli Janhsen im offenen Diskurs der zeitgenössischen Kunstbefragung. Ihr Fragenkatalog ist deshalb umfangreich, die Fragen sind mal provozierend, mal erheiternd und rühren immer daran, wie der Einzelne Kunst betrachtet. Sie alle zu beantworten ist sicherlich nicht im Sinne der Autorin. Vielmehr geht es darum, die individuell für die Begegnung mit einem Kunstwerk geeigneten Fragen auszuwählen und sich auf diese Weise Zugang zu verschaffen. Das mag nicht jedem Aspekt eines Kunstwerks gerecht werden, wirkt aber der Ratlosigkeit und der Beliebigkeit entgegen, mit der man ihm begegnen könnte, und es baut Hemmschwellen ab. Das Büchlein im handlichen Taschenformat versteht sich daher auch als Einladung zum Spiel und zum Dialog. Es macht aufmerksam für Kunst. Nichts ist dabei so wichtig wie Fragen. Nur Kunst selbst sehen ist wichtiger.
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